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"Saudade" und Rotlicht

Eine Seite guter Prosa sei jene, in der man es regnen höre. Versteht man diese Bemerkung von António Lobo Antunes nicht nur allzu wörtlich, wenngleich es ja oft in seinem epischen Werk regnet -, so ist auch schon in die Richtung gewiesen, die seinen nun über ein Dutzend Romanen den unverwechselbaren sound gibt: nämlich eine hoch poetische Sprachmusik, gebildet aus mäandernden Satzperioden, aus dissonantischen Bildern, überraschenden, weil weithergeholten Vergleichen und kühnen Metaphern.

Von Hans-Jürgen Schmitt | 21.10.2004
    In jedem seiner antirealistischen Romane, in denen ein Erzählstrom sofort in einem Kontinuum assoziativer Schwingungen losbricht, wird leidvoll Erinnerung zum epischen Programm: memória, Erinnerung an die eigene Familiengeschichte, ob erfunden oder wahr, mündet in die jüngste Geschichte Portugals, den Krieg in Afrika. Aber so wenig etwa sein berühmter zuerst bei uns publizierter Roman Der Judaskuss nur ein Antikriegsroman ist, weil er das Schweigen über den Angolakrieg bricht, so ist der im gleichen Jahr, nämlich 1979 in Portugal erschienene Roman Memoriá de Elefante, Elefantengedächtnis, ein Roman nicht nur über einen suizidgefährdeten Psychiater, der in einem Lissabonner Krankenhaus Dienst tut. Auch dieser jetzt erstmals auf deutsch publizierte aller erste Roman von Lobo Antunes liest sich unter anderem als eine unendliche Reflexion über eine gescheiterte Beziehung.

    Denn der namenlose Erzähler, der von sich immer distanziert entweder von "der Arzt" oder "der Psychiater" spricht, selbst wenn er eine Szene aus der Kindheit memoriert, hat sich nach 13 Jahren Ehe scheiden lassen. Im Blick ja aller späteren Romane, in denen der Erzähler sich immer als ein Frauenhasser geriert, sind hier überraschend die ergreifendsten Passagen dieses Erstlings die sehnsüchtigen, liebevollen Beschwörungen dieser gescheiterten Liebe zu seiner Frau.

    Wir finden im Roman Elefantengedächtnis alle Elemente, alle Ingredienzien der Romane des schreibbesessenen Lobo Antunes, der sich immer zum einzigen Thema macht. Jedoch brechen hier noch pointiert real erzählte Passagen und ironisch- witzige Dialoge unvermittelt ab, als wollte er sich schmerzhaft von aller belastender Geschichte und seinen Geschichten abstoßen und wechselt dann abrupt ins Magma seiner Sprachsymphonie.

    Die uns durch seine Romane längst vertrauten Plätze und Orte sind schon alle vorgegeben: das traurige Lissabon der saudade, das der Held und Erzähler in seinem kleinen Auto durchfährt, die Nacht der Straßen und Plätze, der Rotlichtbezirk, eine Bar, ein Restaurant als Ort der Erzählung, das einsam gelegene Single-Apartment am Atlantik im Estoril mit Blick auf die Stadt.

    Und wie im grandiosen Judaskuss ist der monomane Erzähler ein vom Angolakrieg Geschädigter, dessen Ehe zerbrach und da nun seelisch absolut am Ende, nicht weiß, wie ausgerechnet er als Irrenarzt anderen helfen soll. Da sucht er lieber zeitweilig Zuflucht in der Rolle des verrückten Psycho-Clowns und schockiert seine Kollegen und Mitarbeiter.

    Die Irrenanstalt ist zugleich Metapher für ein Portugal, das gerade erst anfängt, sich von den jahrzehntelangen Fesselungen des Salazar-Regimes zu befreien. "Möglich", so
    moniert der Erzähler, "dass hier und dort draußen die Mauern des Krankenhauses konzentrisch sind und das ganze Land bis zum Meer umschließen...konzentrische Mauern...Labyrinthe aus Häusern und Straßen...dass man nie wirklich wegkommt."

    Bilder des verlorenen Angolakriegs scheinen in der Erinnerung auf, die Vergangenheit lässt ihn nicht los, aber in der Gegenwart Lissabons kann er ebenfalls nicht ankommen; er nennt sie "eine tote Stadt in einem Sarg aus gemalten Fliesen". So fühlt er sich "doppelt verwaist", in einem Zustand der Heimatlosigkeit, der "schmerzhaft andauert".
    Wenn im Judaskuss polemische Schärfe, ja Anklage dominieren, so hat der Roman Elefantengedächtnis eher den Charakter einer Selbsterforschung oder auch kritischen Beichte.

    Etwas aber ist ganz anders als in allen späteren Romanen: der Furcht sich in Nichts aufzulösen, begegnet er mit der Zuflucht zu Literatur, Musik und Kunst. Immer wieder finden sich in die Erzählung eingebettet pointierte Anspielungen auf Werke von Künstlern, Musikern und Schriftstellern, die seine Lebenssituation erklären helfen. Charly Parker, der uns unvermittelt in einem verzweifelten Solo "kreuzigt"; García Márquez’ Oberst und seine unheilbare "Einsamkeit"; Tschechows Möwe: "Diese Möwe bin ich, und der vor dem Ich flieht, bin ich auch": Das sind Selbstinterpretationen, die die Grundsituation des Romans blitzartig erhellen. In der Tat, der Roman sagt ja erst in den Schlußsätzen "ich". Nach dem berühmten Bekenntnis Arthur Rimbauds "Ich ist ein anderes", kann "der Arzt", "der Psychiater" nur vermittels von Kunst und der Literatur-Vergleichen seine Lage zu erklären versuchen.

    Wie kann ein solcher Roman enden, in dem der leidende Held und Erzähler gegen sich und alle Konventionen des alltäglichen Lebens rebelliert und damit aus seiner Isolation, seiner Einsamkeit nicht hinausgelangt, die ihn nach seinen Worten "wie eine schmerzhafte Säure von innen zerfrass"? Er trifft im Lissaboner Spielcasino auf eine ältere Frau,"das Reptil", nennt er sie. In deren Rolle schlüpft der Erzähler; es ist der virtuose Trick, der ihn selbst und die Frau wie eine Parodie auf das Leben erscheinen lässt. Elefantengedächtnis ist aber nicht ein Roman als Fingerübung vor den Romanen, die danach geschrieben wurden, sondern Lobo Antunes memória entfaltet passagenweise ein sprachvirtuoses Erzählen, das seines gleichen im europäischen Roman von heute sucht.

    António Lobo Antunes
    Elefantengedächtnis
    Luchterhand Literaturverlag, 207 S., EUR 18,-