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''Saul'

Zweimal geht an diesem Abend das Licht aus, und die Musik hört auf zu spielen. Es sind die Momente, wenn denen Saul, der König der Israeliten, seine Blackouts erlebt, in denen er den Speer erst gegen den (doch für sein Volk siegreichen) Feldherren-Youngster David, und dann gegen den eigenen Sohn Jonathan erhebt, weil Jonathan diesen David, den er liebt, gegen den Zorn des Vaters schützen will. Ein König sieht schwarz, und das Unheil beginnt ausgerechnet auf der Siegesfeier über die Philister, als es heißt, von den Feinden Israels habe der große Saul tausend erschlagen, der kleine David aber zehntausend. Vom höllischen Neid - "Envy, eldest born of hell" - singt der Chor einmal ganz explicite. Es ist die Geschichte eines Herrschers, der untergeht, weil er sich nicht beherrschen kann. Nur vordergründig die Geschichte eines Machtwechsels: vom alten zum neuen König, von Saul zu David, vom Bösen zum Gerechten. Und es gehört zum Erstaunlichen dieses in vielem erstaunlichen Händelschen Musiktheaters, dass man sich für diesen Saul mehr interessiert als für den süßen David, den Star, auf den alle ihre Sehnsüchte projizieren, und der ja außerdem noch der Mann der Musik ist. Saul steht im Mittelpunkt nicht nur als interessant zerrissene, sondern tatsächlich: tragische Figur, und Alastair Miles versteht sich auf die Kunst der Differenzierung als Darsteller wie als Sänger; wenn er sich etwa auf die Einrede seines Sohnes hin besänftigt gibt und den falschen Eid schwört, er trachte dem David nun nicht mehr nach dem Leben:

Ein Beitrag von Holger Noltze |
    Es zählt nun zweitens zum Erstaunlichen dieser Münchener Erstinszenierung des "Saul", wie die Regie die Ambivalenzen jeder der Hauptfiguren offenzulegen versteht: Den Vatersohnkonflikt Jonathans, den Vatertochterkonflikt Merabs, (das ist die ältere, die David schon aus Standesgründen nicht heiraten mag), die Tragik ihrer kleinen Schwester Michal, die in David einen liebt, der er nicht sein kann. Bekennt er doch nach dem Tod seines Freundes Jonathan, dessen Liebe sei ihm wichtiger als die aller Frauen. Bei allen politischen und religionspolitischen Staatskunstfragen, die hier verhandelt werden: was für ein Abgrund von Familiengeschichte. Und das Beste ist, dass Christof Loy sie im Text und in der Musik findet, nicht erfindet - bis auf einen denn auch überflüssigerweise dazuerfundenen Mann für die Altschwester Merab, doch auch der überlebt das Familiendrama nicht.

    Aus dem Münchener Zuschauerraum schaut man seit neuestem häufiger in andere Theater hinein: Beim "Ring" gleich mehrmals ins Bayreuther Festspielhaus; für "Saul" hat Herbert Murauer einen Saal gebaut, wie man ihn sich so etwa für die Uraufführung am Londoner Haymarket vorstellen könnte. Da machen erst noch Livrierte Ordnung, bevor der Chor auftritt, der das Volk vorstellt. Wer aber ist das Volk? - Es sieht am Anfang aus wie ein Oratorienchor, oder wie Händels Subskribentenpublikum; am Ende, als es nach Sauls Tod um Israels verlorene Schönheit klagt, sieht es aus wie eine jüdische Trauergesellschaft, bevor es sich schließlich die Kleider vom Leib reißt, um in kreischend bunter Freizeitkleidung dem neuen David Superstar zu huldigen. Zwischendurch gefriert es hin und wieder zum lebenden Bild. Der Staatsopernchor spielt gut mit und singt akkurat und wenn’s drauf ankommt ist auch mehr drin. Dann wird es groß.

    Um Wesen und Wirkung der Steigerung weiß auch der englische Barockspezialist Ivor Bolton, und er versteht sich auf Händels musikalische Affektpalette. Extra-Posaunen und tiefe Pauken grundieren die Tragödie dunkel. An der Stelle, wo Sauls Wahn ausbricht, überraschte Händel sein Publikum mit einem aberwitzig-manischen Glockenspiel, und Bolton kann damit noch uns überraschen, sein Händel klingt philologisch sauber und leidenschaftlich gefühlt, manchmal ein bisschen eckig. Gesungen wird very british: Mit einigen Temperamentsreserven die "dunkle" Merab von Rebecca Evans, mit einiger Lieblichkeitsreserve Rosemary Joshua als Schwester Michal. Von beiden hinreichend geläufigen Gurgeln ist wohl strenggenommen nicht jeder Ton zu hören, aber das ist ein kleiner Einwand vor der Darstellungsleistung beider, nicht in die Klischees der Bösen und der Naiven zu sinken. Gottlob auch keine Schwulenkarikatur der Jonathan von John Mark Ainsley. Und nach einer gewissen Zurückhaltung spielte dann auch der David von David Daniels einiges Betörungspotenzial aus.

    Darf man das Oratorium als Oper inszenieren? - Unbedingt, wenn es so sehr zum Drama drängt wie "Saul", und vor allem, wenn wie hier die Szene so viel mehr ist als Illustration und Augenfutter. Wenn sie sich nämlich öffnet als Raum der ersichtlich werdenden Ambivalenzen. Davids Weg von der Harfe zum Speer, und wie er am Ende den Platz des alten Königs einnimmt, das bleibt eine allertraurigste Geschichte. Das Hallelujah steht am Anfang, am Ende stehen Klage und Weh. Und auch wenn ganz am Ende wieder gejubelt wird - so hatten sie auch Saul zugejubelt. Es ist eine same procedure...

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