Sehr dicht auf den Leib gerückt ist Franzobel der Wiener Realgroteskenwelt in diesem epischen Kleinkosmos im wahrsten Sinne des Wortes - denn in dem vielknotigen Geflecht von zwei Familien und allerlei um sie herschwirrende Figuren aus einem Wiener Vorstadtmilieu durchleuchtet der Roman vor allem die Unterleibsregionen ihres Lebens; jene Domänen der Triebe also, deren höchst profane Dreifaltigkeit mehr oder weniger aus Fressen, Saufen und Bumsen besteht. Daß Franzobel als allwissenden Erzähler dieser nach Wien verlegten rabelais’schen Urwelt ausgerechnet einen Papst, nämlich Pius IX., agieren läßt, ist erzählerisch genauso durchtrieben wie hellsichtig. Jedenfalls unterhält dieser Papst - oder vielmehr seine Statue - in der römischen Kirche San Giovanni in Laterano einige steinerne "Jesüsser" und andere Kirchenheilige mit der ausschweifend fabulierten Geschichte aus der Wiener Vorstadt, und das beginnt so:
"- Wer klopft da?
Was will er?
Mich.
Dich? Daß ich nicht lache. Wegen mir kommt er. Bestimmt.
Benehmt euch, Kinder. Sprecht nicht wie die Huren. Es kommt gar nicht wegen uns.
Es?
Du meinst, das wäre schon das Beben? Die Johannes-Offenbarung?
Blödsinn. Merkst du nicht, es klopft.
Du gehörst doch restauriert.
Und du? Du billiger Carrara-Marmor.
Abgeschliffener, verkalkter Klumpen.
Dann brauch ich ja nichts.
Also gut, bröckelt es Pius runter. Wenn das so ist.
Wie sieht er aus? sperrt sich ihm einer der fünf Jesüsser ins Wort.
Kräftig, jung und gut gebaut? ist in den sechs Augen der Pieta ein Glanz zu spüren - zum Steinerweichen.
Dumme Nuß, poröse, feixt der Gegeißelte. Sein Heiligenschein vibriert.
Du halt es bloß, gibt die Pieta zurück. Du mit deinen schwammigen Knien. Tatsächlich hat der Gegeißelte etwas verwaschene Knie. Die Schraube seiner Gloriole gehört nachgezogen. Aber wer kümmert sich darum?
Gesindel, beißt der Pilatus im Ecce homo seine Lippen aufeinander und meint die Verantwortlichen. Nicht die vom Denkmalamt, die vom Orden.
Sein Name, kommt Pius auf den Klopfenden zurück, ist Ambros Semmelrath. Er ist Statistiker und kommt aus Wien. Die Treppen will er rauf.
Was hat er angestellt? beißt sich Pontius Pilatus auf die Zunge. Steinhart.
Zu uns kommen sie nur, wenn sie bis oben voll mit Sünden sind.
Auch diese katholischen Säulenheiligen in der römischen Kirche tragen also nicht nur allerlei Familienzwiste aus, sondern haben ebenfalls ihre Eitelkeiten und diversen Lüsternheiten - und das nicht zuletzt auf jene "sündigen" Geschichten, die ihnen Pius IX. zu erzählen verspricht, den Franzobel mit diabolischer Treffsicherheit als Erzähler eingesetzt hat. Denn er ist genau jener Papst gewesen, der neben der Unfehlbarkeit des Gottesstellvertreters vor allem auch die Unbefleckte Empfängnis zum Dogma erhoben hat. Und wer könnte für all das, was sich im gewissermaßen sexten Bezirk des profanen Lebens abspielt, schon einen feineren Sinn haben als ein solcher Dogmatiker der sakralen Reinheit - und wer folglich auch geeigneter sein, vom Familienleben der kleinen Josefine Wurznbacher, genannt Pepi, zu erzählen, in der sich schon früh die Talente einer neuen Josefine Mutzenbacher regen?
So hat Franzobel eine wunderbare Konstellation geschaffen, um höchst opulent und sardonisch, aber auch immer wieder von kleinen rhetorischen Scharmützeln dieser Säulenheiligen unterbrochen, aus der Wiener "Gemeindebaurealität", der Welt der Hausmeister und kleinen Leute, und von ihren Irrungen und Wirrungen zu erzählen; wozu im übrigen der päpstliche Erzähler gleich zu Beginn des Romans geradezu programmatisch erklärt:
"Ihr wißt ja, daß Geschichten Märkten gleichen und ich euch also, wenn ihr zu den Früchten wollt, zum reifen Fleisch der Hure Pepi, die Kisten nicht ersparen kann, die Standgebühr, das Abladen, Feilschen, das Schmutzige-Hände-Haben und den ganzen Dreck. Also geht es irgendwo in der Tiefe los, in Österreich. Wien, Kalauerplatz.
Tatsächlich wirken die Figuren, die in den Tiefen dieses Kalauerplatzes wimmeln, ein wenig wie jene oft phantastisch bizarren Meerestiere, die tief unten im submaritimen Dunkel leben und in deren unbekannte Welt plötzlich der grelle Scheinwerfer eines Tiefseetauchers fällt; unterstützt werden diese bizarren Eindrücke noch durch die Namen, die Franzobel ihnen gegeben hat: Florian Ziegelböck und Patricia Herrgott-Wixinger heißen sie etwa, oder Kathi Gablfrühstück, Sixtus Ponstingl-Ribisl und Douglas Dünnbier. Nicht nur mit diesen wie aus einer Posse Nestroy’s stammenden Namen werden im Laufe des Romans immer wieder allerlei erzählerische und sprachliche Spiele und Späße getrieben. Doch das überrascht bei einem Schriftsteller wie Franzobel wenig, für den das Spiel mit der Sprache zu den wichtigsten Energien des Erzählens gehört - ganz gleich, ob es nun Kalauer, verdrehte Alltagsphrasen oder Wortneuschöpfungen sind, die den Erzählfluß antreiben.
Doch vor allem wird in diesem Roman ein regelrechtes Pandämonium von Triebschicksalen aus der österreichischen Spießerwelt freigelegt - denn all die Wurznbachers und Semmelraths, um deren familiäre Achse sich dieser ganze wunderliche Mikrokosmos dreht, laborieren genau wie die übrigen Bewohner gar nicht so sehr an ihrem hartgesottenen katholisch-kleinbürgerlichen Deppentum, sondern vor allem an der Libido, die sich in tausenderlei Windungen ihre Wege auf diesem Schlachtfeld des Fleisches bahnt. Schon den Sandkasten, in dem eingangs die sechsjährige Pepi mit lasziver Unschuld spielt, umschleichen diverse Voyeure und päderastische Wichser:
"Zwischen ihren Beinen, mitten heraus aus diesem Strich von Leib, sprudelte Wasser in den Sand, dunkelte ihn, streute ihm Perlen, Kußhände, machte ihn handlicher, greifbarer, fest. In eine Gießkanne war Pepi jetzt verwandelt, das sparte Zeit. Sonst hätte sie Wasser holen müssen. Wie? Mit einer Kanne. Die war? Sie sah sich um. Sie sah den Sand, die Bäume, Bänke, Häuserwand. Da, da war die Kanne, da Schuhe, Schaufeln und die Kuchenform. Ihre Schuhe waren das nicht, es waren viel größere, und Hosenbeine steckten daran, nein, noch mehr, gleich ein ganzer Mann. Der saß ihr gegenüber, schaute sie an. Die Pepi lächelte. Verlegenheit. Der Mann lächelte zurück, das heißt, er sah durch sie hindurch, schaute in ihr Kleid hinein, ihr mitten in den Bauch, das rindenlose Brot, das Innenfleisch. Das kitzelte - so sehr dehnte er den Strich zur Fläche aus. Wie Pizzateig. Jetzt lachte die Pepi noch viel mehr, fühlte sich durchzogen, schamhaft, aufstehen wollte sie, gehen.
Nein, bleib, kam aus dem Mund des Mannes. Nein, bleib, kam aus den dicken Lippen, Schnittlauchhaar. Und seine schwieligen Hände mit den schmutzigen Fingernägeln hoben ihr das Kleidchen hoch. Man kann ja fast nichts sehen vor lauter Blumenwiese überall. Die Pepi lächelte. Ein Erwachsenengesicht setzte sie sich auf, was Ernstes. Sand klebte auf ihrer bloßen weißen Haut, zwischen den Zehen. Der Mann aber war ganz in seinen Augen aufgegangen, schüsselgroß, sein ganzer großer Körper hatte sich langgemacht im Blick, sich gestreckt und in die Pepi reingesteckt. Er war ein Strahl, ein Blick, der schnaubte, ein Tier."
"Aber nicht etwa nur am Sandkasten lauert hier dieses Tier. Als wenig später Pepis Großmutter Edelburg Semmelrath gestorben ist, läßt auch das noch eine der seltsamen Triebkarrieren aus diesem Wiener Bestiarium aufblitzen:
"Der Leichenwäscher Luipold Nehoda war derart von seinem Trieb durchtränkt, daß er ihn in alles leerte, was eine Falte bot. Zumindest fünfmal am Tag war er so gestaut, daß er überlief, zumindest fünfmal am Tag wurde Luipold wie ein Brausepulver in seinem Trieb gelöst und mußte, sich selbst nicht mehr erkennend, versprudeln. Das stieß auf. So verdünnisierte sich seine Frau, nicht, weil sie die täglichen Seitensprünge nicht mehr ertragen konnte, sondern weil ihr sein sich in jede Gelegenheit Verschütten über den Rand gestiegen ist. Danach verschuldete er sich bei Prostituierten, brach er in Gemüseläden ein, hatte einen ungeheuren Bedarf an toten Hühnern, bis er auf eine günstigere Möglichkeit verfiel, Leichenwäscher. Seither war er ausgeglichen. Tote gab es immer. Edelburg Semmelrath war nur eine von vielen."
In der Spanne zwischen Sandkasten und Sarg, die Leben heißt, regiert in dieser Welt katholischer und manchmal auch atheistischer Spießer die Libido, und die "Psychopathologia sexualis" gibt ihr reichlich Stichwörter. Da ist etwa der Pfarrer Hutwelker, der dem Bischof seine Ministranten zuführen muß, weil der weiß, daß der Pfarrer als Frau geboren wurde und sogar einen Sohn zur Welt gebracht hat, bevor sie das Geschlecht wechselte und den allerdings so ein wenig unlogischen Ehrgeiz entwickelte, die erste Päpstin zu werden. Es gibt hier Hausbesorger, die sich vor allem um alleinstehende oder vernachlässigte Hausbewohnerinnen kümmern, einen Kriminalbeamten, der sich nebenbei als Gigolo betätigt und so die nötigen Erfahrungen für seine "Popologie" sammelt, nämlich die Ansicht, daß "der Gestalt des Arsches alle wesentlichen Eigenschaften einer Person abzulesen sind". Da ist ein Kollege von Pepis Vater Hugo Wurznbacher in der "Bundesprothesenwerkstatt", mit dem er nebenbei eine florierende Dildoproduktion betreibt, der ständig lüstern von den Foltern der Inquisition phantasiert - während Pepis Vater davon träumt, "den Fratz" später "auf eine Bordellschule zu geben, damit sie Geld nach Hause bringt". Und neben vielen anderen erscheint in diesem Aufzug verdrehter Triebhaftigkeiten etwa noch der schrullige Onkel aus dem Semmelrath’schen Familienzweig, den zuweilen der Drang überfällt, junge Mädchen zu vergewaltigen, wie etwa beim Leichenschmaus für Edelburg auf einer Restauranttoilette.
Natürlich geht es in diesem Tümpel voller raubfischhafter Triebe auch nicht ohne diverse Tote und einige Kriminalbeamte ab, die diese Fälle aufklären müssen, im Grunde aber selbst tief in die Verflechtungen der Personen und Leidenschaften verstrickt sind. Der Kriminalkommisar Sixtus Ponstingl-Ribisl schlägt sich lange vergeblich damit herum, was es mit dem Unbekannten auf sich hat, der vor dem Photogeschäft Florian Ziegelböcks erschossen wurde, und wer sich an der kleinen Anna Hasentütl vergangen hat und sie dann erwürgte. Nur ein Opfer auf diesem Schlachtfeld der Triebe wird er gar nicht erst entdecken, weil das corpus delicti niemals auftaucht. Und das ist ausgerechnet Anna Semmelrath, die Mutter Pepis, auf die der Kommisar einst sein Auge geworfen hatte, bevor sie ihm schließlich der Prolet Wurznbacher vor der Nase weggeheiratet hatte. Auch das grausige Ende dieser Ehe wird durch die Triebhaftigkeit heraufbeschworen. Denn Hugo Wurznbacher, der seine Finger selbst vor Pepis Augen nicht einmal von zwei an der Wohnungstür auftauchenden tantenhaften Zeuginnen Jehovas lassen kann, hat sich in die Photographie einer unbekannten Frau vernarrt und will von der eigenen Frau nun überhaupt nichts mehr wissen. Als diese aber ebenfalls eigene erotische Wege einzuschlagen beginnt, erschlägt er sie in dumpfer Eifersucht - und entledigt sich ihres Körpers auf folgende Weise:
"Alles war so unwirklich, so vollständig absurd, daß er damit nicht zu Rande kam, das ist bestimmt, sagte er sich selbst, Erinnerung, ein Traum, nein, Trance. Und dabei war er vollkommen in sich, ja, ruhte ganz in seinem Körper, als er mit dem Tapeziermesser die Oberhaut aufschnitt, den Fleischwolf auf den Klodeckel montierte und portionenweise seine Frau ins WC faschierte. Er paßte auf, daß das Gelee des nicht mehr frischen Blutes nicht auf Stoffe fiel. Sah sich selber, wie er nach und nach Teile aus ihr schabte, Knochen freilegte, Organe. Nach zwei Stunden Ewigkeit hatte er sich Krämpfe und einen Muskelkater zugetragen. Dafür waren nur noch Teile seiner Frau erkennbar, sah aus wie ein Bild aus einem Anatomieatlas.
Sicher könnte man Franzobel leicht vorwerfen, sich an solchen blutigen Delirien der Triebe regelrecht zu weiden - denn er läßt Hugo Wurznbacher, während er mit allerlei Haushaltsgeräten auch noch die restlichen Körperteile seiner Frau in die Kanalisation entsorgt, an diesen Prozeduren allmählich Lust finden und dabei dann schließlich sogar zu einigen wahrlich makaberen Höhepunkten kommen. Doch dieses stumpfe - und in Hugo Wurznbachers Fall geradezu amokläuferische - Wüten von sexuellen Obsessionen, die zuweilen bis in ihre ganz und gar nicht mehr schönen Exzesse geschildert sind, ist offenbar das einzig nennenswerte Moment von Vitalität all dieser Vorstadtexistenzen; und ihr bedrohliches Glimmen hat Franzobel mit einer merkwürdigen Hassliebe zu solchen nur selten überhaupt einmal in der Literatur auftauchenden Figuren hier durch die Windstöße von Sprache und Phantasie so kräftig hochflackern lassen wollen, daß die vermeintliche Gemütlichkeit solcher Wiener Kleinbürgersphären dabei gleich gründlich mitverbrennt. Im übrigen ist ja auch kein Zufall, daß gerade der Verfechter der Unbefleckten Empfängnis dieses Feuer der Phantasie entfacht hat und erzählerisch genüßlich am Leben hält, das den dünnen Lack der Zivilisation hier so schnell platzen und nichts übrig läßt als die Sündhaftigkeit allen Fleisches. So führen die Wege aller Mitglieder dieser österreichischen Sündergemeinschaft zum Schluß konsequenterweise nach Rom. Erst dort kann der Kommisar, während er die 28 Stufen der Scala Santa nach katholischer Vorschrift gebetemurmelnd auf den Knien hochrutscht, quasi Stufe für Stufe die diversen Nüße seiner Fälle knacken.
"Sechsundzwanzig. Tittenfick. Mein Jesus, um der unermeßlichen Liebe willen, von der Du gegen mich entbranntest, als Du Deinen Geist aufgabst, erbarme Dich meiner. Und Ponstingl-Ribisl wußte es. Joschi, das dicke Kind, von dem das Gmundener-Rätsel war, nein, nicht nur das. Er hatte auch den Italiener vor dem Photogeschäft auf dem Gewissen. Er hatte das angestellt - ohne Motiv, mit dem Ziel, die Kombinationsfähigkeit der Polizei zu prüfen. L’mort pour l’mort. Das Palindrom. La Scala Santa - alles bloß ein Zufall? Nein! Ponstingl-Ribisl ahnte, daß mehr dahintersteckte. Eine Art von Kraft. Etwas Unergründliches, das seit Jahrhunderten gespart hatte, einmal sich zu amüsieren."
Daß katholische Inbrunst und sexuelle Brunst in diesem Roman wie siamesische Zwillinge zusammenhängen, wäre allerdings auch zu bemerken gewesen, ohne daß Franzobel auf den 28 Stufen der Heiligen Treppe die Erleuchtungen des Kommisars noch einmal überdeutlich jeweils mit Gebeten und Liebesstellungen parallelgeführt hätte. Wenn die Wege all der Sünder des Fleisches hier schließlich nach Rom führen, ist in ihnen allerdings die Absolution ganz und gar nicht garantiert. Angesichts des blutigen Finales, das die meisten von ihnen ereilt, scheint die libidonöse Lage der österreichischen Spießerwelt vielmehr ziemlich heillos und einem kollektiven Untergang nah.
Ist das alles nun nur die lüstern-bigotte Phantasie eines fabulierenden Papstes? Oder eher eine Burleske Franzobels aus jenem Wiener Milieu, in dessen luststickiger Atmosphäre immer wieder die Josefines - ob Wurznbacher oder Mutzenbacher - erblühen? Wahrscheinlich ein wenig von beidem. Aber in erster Linie ist dieser Roman das Sprachspielfeld eines opulenten, zuweilen auch anarchistischen, aber bei allen bösen Blicken ins Familienleben des Tieres Mensch auch amüsanten Erzählers. Und wenn der Kalauerplatz dieses Romans auch auf keinem Wiener Stadtplan zu finden ist, heißt das keineswegs, daß er bloß erfunden ist.