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Schachspieler unter sich

Paris zur Zeit des Kalten Krieges Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre: Das ist die Kulisse dieses spannenden, vielstimmigen und immer wieder berührenden Romans, in dem die Weltgeschichte auf ihre Konsequenzen für den einzelnen Menschen hin abgeklopft wird.

Von Christoph Vormweg | 28.07.2011
    Jeder kennt das Gejammer von Eltern und Lehrern, dass die Jugend des Internet-Zeitalters kaum noch lese. Umso interessanter ist ein Buchmarkt-Phänomen in Frankreich: Dort gibt es nicht nur den "Prix Goncourt", den einflussreichsten Literaturpreis des Landes, sondern auch den "Prix Goncourt des lycéens", der seit 1986 von der Buchhandelskette FNAC gestiftet wird. Die Jury dieses Preises besteht aus 1500 französischen Gymnasiasten. Und das Erstaunliche: Die Entscheidung der Schüler wird von den Lesern ernst genommen.

    So ist "Der Club der unverbesserlichen Optimisten" nicht der erste Roman, der durch die Auszeichnung mit dem "Prix Goncourt des lycéens" zu einem Verkaufserfolg wurde. Ein Grund für das Interesse der Gymnasiasten an Jean-Michel Guenassias 700-Seiten-Wälzer mag darin liegen, dass ein Gymnasiast wie sie im Mittelpunkt steht. Zu Beginn, im Jahr 1959, feiert Michel Marini, Sohn einer Französin und eines Italieners, gerade seinen 12. Geburtstag. Am Ende, 1964, ist er 17 und macht Abitur.

    Geweckt werden seine Erinnerungen an die turbulenten, aufwühlenden Jugendjahre auf der Beerdigung des Pariser Großintellektuellen Jean-Paul Sartre im Jahr 1980. Dort trifft Michel den aus Prag stammenden Pavel Cibulka wieder, den - wie es heißt - "König der großen ideologischen Abweichung und der billigen Witze". Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatte er ihn - zusammen mit all den anderen Emigranten aus dem realsozialistischen Ostblock - im "Club der unverbesserlichen Optimisten" kennengelernt.

    Jean-Michel Guenassia:

    "In diesem Roman habe ich zwei parallele Verwicklungen: die Verwicklungen eines Jugendlichen, der ohne besonderen Grund in den Club kommt, und die des Clubs und seiner Mitglieder. Die eine Geschichte wird in der ersten Person erzählt, die andere in der dritten. Bei der Geschichte des Jungen habe ich mich für einen sehr knappen, einfachen, abgeklärten Stil entschieden: Subjekt, Prädikat, Satzergänzung. Er drückt sich wie ein ganz normaler Jugendlicher aus: ohne Phrasen zu dreschen, ohne Abgehobenheiten, ohne verschachtelte Sätze. Wenn ich aber von den Mitgliedern des Clubs erzähle, ist der Stil ausgefeilter, literarischer - selbst wenn ich auch da versucht habe, die Lektüre so flüssig wie möglich zu gestalten. Mich hat ein Satz von Milan Kundera geprägt, der besagt: Der Stil muss im Dienst des Romans stehen nicht im Dienst des Autors."

    Eingängigkeit ist in Jean-Michel Guenassias Roman "Der Club der unverbesserlichen Optimisten" also Trumpf. Dennoch vermittelt der heute 61-jährige, der lange als Drehbuchautor gearbeitet hat, ein komplexes Bild der Zeit Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre in Paris. Ausgangspunkt ist das ganz Alltägliche: Der pubertierende Michel fühlt sich angeödet vom Schulstress und den ewigen Streitereien seiner Eltern. Er flieht in Lese- und Tischfußballorgien und sucht Orientierung bei den Freunden seines sieben Jahre älteren Bruders und ihren revolutionären Fantasien.

    Die Ostblock-Emigranten im "Club der unverbesserlichen Optimisten", die er durch Zufall kennen lernt, leiden ebenfalls: am Verlust ihrer Heimat und ihrer Familien, an der Nicht-Anerkennung ihrer Diplome und Titel in der Fremde. Die meisten leben vom Taxifahren oder von kleinen Jobs. Um zu vergessen, spielen sie Schach. Oder sie trinken und debattieren endlos über die politische Weltlage. Neugierig beobachtet der frühreife Michel ihr oft skurriles, aber für ihn schwer durchschaubares Treiben - und wird langsam in ihre Geschichten hineingezogen.

    "Ich wollte vor allen Dingen keine geradlinige Geschichte schreiben, also nicht einfach eine Figur nehmen und ihr bis zum Ende folgen. Das Romangefüge dreht sich zwar um eine Person: um Michel Marini. Doch der ist in Wirklichkeit ein Fährmann, ein 'go between', einer, der dazu dient, die Handlung voranzutreiben. Es gab also sein Umfeld und das der verschiedenen informellen Mitglieder des 'Clubs der unverbesserlichen Optimisten'. Ihre Geschichten, ihre Verwicklungen, ihr Leben wollte ich erzählen. In jedem Jahr, das vergeht, erzähle ich die Vorgeschichte eines Club-Mitglieds und einen weiteren Lebensabschnitt Michels: bis zu dem Moment, wo sich alle diese Geschichten treffen, wo sie unauflösbar miteinander verbunden sind, wo sie sich immer wieder kreuzen."

    Wie lange wird der homosexuelle Filmstar Tibor, der nach dem gescheiterten Aufstand 1956 aus Ungarn geflohen war, das Jammertal des Exils noch ertragen? Was wird Leonid tun, der Flieger-Held der Sowjetunion, der sich für seine große Liebe nach Frankreich absetzte, um sie - aus eigener Schuld - wieder zu verlieren? Oder der schlaflose, desillusionierte Igor, der in Frankreich keine Erlaubnis bekommt, als Arzt zu arbeiten? Und wird Werner Toller, der im französischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzer aktiv war, zurück nach Deutschland gehen, nachdem man ihn auf der Straße fast totgeschlagen hat?

    Trotz aller Schicksalsschläge bleiben die Club-Mitglieder in Jean-Michel Guenassias Roman "unverbesserliche Optimisten". Denn sie haben am eigenen Leib erfahren, dass es ein Geschenk ist, am Leben zu sein - selbst dann, wenn sie Schuld auf sich geladen haben.

    Für Michel sind die oft tragischen Biografien der Emigranten existenzieller Anschauungsunterricht. Doch auch er selbst bleibt nicht von den Härten der Lebens verschont. Denn Frankreichs Kolonialkrieg gegen die algerischen Unabhängigkeitskämpfer spitzt sich immer weiter zu. Sein Bruder, der sich freiwillig gemeldet hat, desertiert und muss sich nach Südamerika absetzen. Dessen Freund Pierre fällt vier Tage vor Ende des Kriegs.

    Die Briefe, die Pierre aus Algerien geschickt hat, gehören zu den literarisch dichtesten Passagen von Jean-Michel Guenassias Roman. Denn sie dokumentieren in ganz eigenem Ton die langsame Zersetzung aller Lebensträume.

    Wie schon gesagt: Die Mitglieder des "Clubs der unverbesserlichen Optimisten" sind leidenschaftliche Schachspieler. Schach spielen heißt im Französischen "jouer aux échecs". Das Wort "échec" bedeutet aber auch "Scheitern". Nicht von ungefähr. Denn das Scheitern ist - neben dem Verrat - im Roman allgegenwärtig. Michels erste Liebe scheitert, die Ehe seiner Eltern, die Träume seines Bruders und der meisten Emigranten.

    Nur einmal scheint alles gut zu werden: als der Exilrusse und Fotograf Sascha dem verliebten Michel dabei hilft, in der Millionenstadt Paris ein Mädchen wiederzufinden, mit dem er vor einem Kino zusammengestoßen ist. Die Suche - inklusive die anschließenden Bezirzungsmühen mit Hilfe von Gedichten - gehört zu den schönsten Episoden dieses an bewegenden Geschichten so prallen Romans.

    "Für mich ist Sascha der Held des Romans, weil er den Handlungsknoten auflöst. Er macht es möglich, dass wir die Verwicklungen verstehen. Denn wir wissen nicht genau - und das macht die Spannung des Romans aus -, was sich zwischen den Club-Mitgliedern abgespielt hat. Wir verstehen nicht die Gewalttätigkeit, die einige von ihnen an den Tag legen. Wegen Sascha habe ich Lust gehabt, diesen Roman zu schreiben, das heißt, die Idee zum Roman ist gekoppelt an die Foto-Fälschungen zur Zeit des Stalinismus. Ich habe mir gesagt, dass es sehr interessant wäre, einen Romanhelden zu haben, der der Fälscher ist, einen faustischen Helden, der die Macht hat, andere verschwinden zu lassen - mit all den Konsequenzen, die das haben kann. Deshalb ist er für mich der Held, selbst wenn er zum ersten Mal auf Seite 460, also sehr spät im Roman in Erscheinung tritt."

    Wie viel Schuld Sascha in der Sowjetunion auf sich geladen hat und mit welchen Folgen, sei hier so wenig verraten wie der Ausgang der zweiten Liebesgeschichte Michels. In jedem Fall: bei der Vielzahl der Handlungsstränge und Existenzen drängt sich eine Fortsetzung von Jean-Michel Guenassias Roman "Der Club der unverbesserlichen Optimisten" geradezu auf. Die Weltgeschichte wird in diesem spannenden, vielstimmigen und immer wieder berührenden Buch auf ihre Konsequenzen für den einzelnen Menschen hin abgeklopft. So werden die hohlen Versprechungen der Ideologen unweigerlich genauso entlarvt wie die irrsinnig leichte Verführbarkeit so vieler Zeitgenossen.

    Jean-Michel Guenassia: "Der Club der unverbesserlichen Optimisten". Roman.
    Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
    Insel Verlag, Berlin 2011.
    688 Seiten
    24,90 Euro