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"Schaden sollen sie nehmen - nur nicht gewinnen"

Für das berufliche, private oder sportliche Vorankommen haben schon die Menschen der Antike auch unlautere Mittel eingesetzt - zum Beispiel Flüche. Verwünschungen wurden dem Gegner per Bleitäfelchen untergeschoben. Nur eine Handvoll Wissenschaftler weltweit untersucht die rund 1700 bekannten Fluchtafeln - einer davon forscht an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Von Bettina Mittelstrass |
    "Binde den Pferden den Lauf, die Beine, den Sieg, die Kraft, den Mut, die Geschwindigkeit. Mach sie verrückt. Ohne Muskeln, ohne Glieder, damit sie morgen im Hippodrom nicht laufen, nicht gehen, nicht siegen, die Starttür nicht verlassen, die Zielsäule nicht umrunden können. Damit sie vielmehr mit ihren Lenkern umstürzen."

    Die Ziel- oder Wendesäule beim antiken Wagenrennen der Römer war lebensgefährlich. Spätestens seit dem Hollywood Film "Ben Hur" wissen alle: In den Wendekurven war das Risiko zu stürzen am höchsten. Da flog aus dem Rennen, wer nicht aufpasste oder - vielleicht - erfolgreich verflucht wurde! Denn an den alten Wendesäulen haben Ausgrabungen kleinste Bleitäfelchen zutage gebracht. In den Umrissen nicht größer als ältere Mobiltelefone, der Form nach länglich wie eine Zunge, aber hochbrisant. Es sind sogenannte Fluchtafeln.

    "Die Tafeln sind in der Regel gefaltet und mit einem Nagel durchbohrt. Zweitens sind sie sehr oft gefunden worden auf Friedhöfen und in unterirdischen Wasserreservoirs und gelegentlich auch in Heiligtümern von Gottheiten, die irgendeine Beziehung zur Unterwelt hatten, also Persephone, Hades. Das heißt also, irgendwie war es wichtig, dass diese Dinge in die Unterwelt kamen. Auch die Verben, die da drin stecken, das, was man sagt: nämlich zum Beispiel katadeo, ich binde herab, katagrapho, ich schreibe herab. Ganz brutal sogar mal einer "ich nagle herab den und den". Das heißt immer, die Richtung ist so nach unten."

    Klaus Hallof ist Epigrafiker an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsstelle Inscriptiones Graecae - den griechischen Inschriften. Er gehört zu einer Handvoll Wissenschaftler weltweit, die sich intensiv mit rund 1700 derzeit bekannten antiken Bleitäfelchen beschäftigt, indem sie deren Inhalt Buchstabe für Buchstabe für die weitere Forschung zugänglich macht:

    "Verfluchungen oder Fluchtafeln ist so ein bisschen ein moderner Begriff, der die Dinge eindrucksvoll beschreibt. In Wahrheit sind es also Bindezauber. Man bindet den Gegner herab, man versucht ihn als Person - als Ganzheit und seine einzelnen Körperteile - zu binden. Und eben darum, dass er also keinen Schaden mehr anrichten kann oder konkret, dass er vor Gericht plötzlich nicht erscheinen kann als Zeuge, weil er also nicht mehr laufen kann. Oder wenn er schon kommt, dass er zwar den Mund aufmacht, aber dann kommt nichts raus."

    Herr nimm herab, binde herab Diokles, meinen Prozessgegner. Die Zunge und die Gedanken und die Helfer des Diokles, allesamt. Und seine Rede. Und die Zeugnisse. Und die Rechtsmittel allesamt vorbereitet gegen mich. Und nimm ihn herab. Alle die Rechtsmittel, die er gegen mich vorbereitet, lass nicht aufkommen! Und die Helfer des Diokles. Und dass besiegt werde Diokles von mir in jedem Gerichtshof. Und lass kein Recht für Dilokles aufkommen."

    "Also man sieht diese parataktische Struktur: Da fällt ihm das noch ein und das noch ein, dann wird das wiederholt. Möglichst nichts vergessen! Es könnte ein Fehler sein, wenn man da irgendwie was vergisst!"

    Dieser Verzweifelte, der offenbar auch alle magischen Register zog, um einen juristischen Prozess nicht zu verlieren, schrieb seine Verfluchungen irgendwann im 4. vorchristlichen Jahrhundert in Athen und steckte sie heimlich in Erde - idealerweise auch in die Nähe desjenigen, den der Fluch treffen sollte.

    "Es muss also in der Nacht vor den Pferderennen ein ziemliches Begängnis gewesen sein! Wobei also glaube ich bei diesen Fluchtafeln Pferderennen betreffend gelegentlich auch mal so eine Wirkungszeit fixiert wird. Also man ruft da diesen Dämon an, die Pferde zu binden und die Pferde fallen zu lassen oder rückwärts laufen zu lassen für den nächsten Tag oder in der nächsten Woche. Also daraus entnehmen wir so ein bisschen, dass diese Fluchtafeln nicht eine ewige Wirkung hatten. Das hatten also selbst die härtesten Flucher nicht ernsthaft betrachtet, sodass sie dann doch genötigt waren, wenn das nächste Rennen stattfand, wieder eine Fluchtafel hinzulegen oder irgendwie die ihrige wieder auszugraben, zu aktualisieren und wieder hinzulegen."

    Über die Autoren weiß man nichts Konkretes. Sie bleiben verständlicherweise anonym. Wer will sich als Schadensverursacher schon gerne erwischen lassen? Erkennbar ist: Alle haben verflucht, wenn ihnen etwas nicht passte - manche auch professionell.

    "Es geht quer durch die Bevölkerung. Die Hinweise, die wir haben, sind manchmal eine schludrige Orthografie, vulgäre Verbformen, merkwürdige Syntaxverwechslung von Kasus und so weiter, wo man denkt: naja, das ist eher schwach in der Schule gewesen. Andererseits haben auch Belege dafür, dass es berufsmäßige Schreiber waren, die diese Dinge geschrieben haben, insofern es also manche Tafeln gibt, die also so identisch sind, wo nur der Name des Verfluchten irgendwie ausgetauscht wird, dass man sagen muss: Also da hat jemand auf Vorrat geschrieben. Und das geht parallel mit Informationen, die wir haben aus Plato zum Beispiel, dass es so berufsmäßige Magier, nennt er die Leute - magoi - gab, die also umhergereist sind und diese Dienste angeboten haben."

    Über 500 Jahre hinweg, vielleicht länger, hielt sich in der Antike die offenbar alltägliche Praxis, eine Auseinandersetzung gewissermaßen mit Flüchen für sich zu entscheiden. Wenn der Inhalt der Fluchtafeln eines Tages weitgehend erschlossen ist und die kritische Edition vorliegt, an der Klaus Hallof und seine Mitarbeiter arbeiten, dann wird diese Quelle ein neuer Schatz für Historiker oder Kulturhistoriker sein. Klaus Hallof ist überzeugt, dass sich aus der Vielzahl der Fluchtafeln viele neue Einsichten in den antiken Alltag ergeben:

    "Also wir haben das ganze Leben! Das ganze antike Leben in aller seiner Fülle, in kleinen und großen Dingen vor uns und das macht die Sache unendlich spannend. Und diese Neugier, wenn man jetzt so eine unedierte Tafel hat und man öffnet sie und dann fängt man an so das erste Wort zu erkennen, dann das zweite, dann kommt langsam der Sinn raus, also das ist natürlich unendlicher Spaß auch nach 2000 Jahren der Erste wieder zu sein, der das liest."

    "Binde den Lenkern die Hände! Nimm ihnen den Sieg, die Sicht, damit sie ihre Gegner nicht sehen können. Reiße sie von ihren Wagen und schleudere sie zu Boden, damit sie überall im Hippodrom stürzen. Vor allem aber an den Zielsäulen! Zusammen mit ihren Pferden."