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Schädelbasiswissen

Menschen neigen dazu, vom Äußeren auf das Innere zu schließen: von der Kopfform auf Fähigkeiten des Gehirns, vom Aussehen des Gesichts auf den Charakter. Woher aber kommen diese Werturteile? Das transdisziplinäre Forschungsprojekt "Schädelbasiswissen" sucht Antworten.

Von Anke Schaefer | 12.01.2012
    Wer eine hohe Stirn hat – so die landläufige Vorstellung – der ist klug. Wer eine niedrige Stirn hat – eher weniger. Wer eine gerade Nase hat, - der hat noble Charaktereigenschaften, wer dagegen mit einer schiefen Nase durch die Straßen läuft, - eher nicht. Menschen neigen dazu, vom Äußeren auf das Innere zu schließen, von der Kopfform auf die Fähigkeiten des Gehirns, vom Aussehen des Gesichts auf den Charakter. Woher aber kommen diese Werturteile? Ernst-Johannes Haberl, Neurochirurg an der Berliner Charité, hat sich diese Frage oft gestellt. Er operiert Kinder, die mit Schädelfehlbildungen auf die Welt kommen, - etwa 80 solcher Operationen leistet er im Jahr, was ihn auf diesem Gebiet zum führenden Experten in Deutschland macht.
    "Der Ausgangspunkt, warum wir ein Problembewusstsein entwickelt haben, ist, dass in den chirurgischen Lehrbüchern auffällig wenig ästhetische Diskussion statt findet. Sie finden dort viele technische Anleitungen, wie man Knochen erarbeiten kann, aber wenig Information dazu, wie denn eigentlich das Ergebnis auszusehen hat oder wie das zu bewerten ist."
    Wobei es Haberl nicht um Schönheitsoperationen wie bei Erwachsenen geht – sondern um die Korrektur von starken angeboren Fehlbildungen - wie etwa eine verschobene Stirn.
    "Mit einer fliehenden Stirn auf einer Seite und einer kompensierend besonders stark vorgewölbten Stirn auf der anderen Seite – und dadurch entsteht eine sehr asymmetrische Stirn, die auch ein asymmetrisches Gesicht nach sich zieht mit verschieden großen Augenhöhlen. ... das ist eine sehr stigmatisierende Fehlbildung."
    ... die das Kind ohne Frage zum Außenseiter machen würde. Daher kommen die Eltern zu Haberl und wünschen sich eine Operation für ihr Baby. Mithilfe einer Datenbank, die etwa 30 Musterköpfe von gesunden Kindern enthält, kreiert Haberl dann auf dem Computer-Bildschirm einen neuen Schädel. Dennoch bleiben Fragen offen:
    "Keiner von uns hat wirklich eine klare Vorstellung davon, warum im OP die Umgebung die da zuguckt, sagt – also das sieht aber jetzt gut aus. Oder – ne Krankenschwester sagt – da ist noch ein bisschen eckig am Auge und dann gucken wir uns das an und sagen, ja wirklich, vielleicht sollten wir das ein bisschen runder machen. Aber das ist völlig ohne Boden, diese Diskussion und das – glaube ich – können wir auch alleine nicht lösen."
    Und daher hat sich Haberl vor zwei Jahren an Sigrid Weigel gewandt und um kulturwissenschaftliche Expertise gebeten. Sie ist die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und hatte in der Vergangenheit wiederholt angemahnt, dass Mediziner beim Einsatz ihrer immer größeren technischen Möglichkeiten ihre jeweiligen Entscheidungskriterien bewusster reflektieren müssten. Chirurg Haberl nahm sie beim Wort und gemeinsam haben sie nun das Forschungsprojekt "Schädelbasiswissen" initiiert. Allerdings stellt Sigrid Weigel klar:
    "Ich denke man sollte die Zusammenarbeit nicht so sehen, dass es darum geht, praktisch eine Frage zu beantworten. Das wäre zu kurz gegriffen."

    Die Aufgabe von Kultur- und Geisteswissenschaft sei es nicht, sagt Weigel, pragmatische Lösungen zu liefern.

    "Immer wenn wir ins Spiel kommen, wird es komplizierter und schwieriger. Aber: Das wäre das Qualitätsmerkmal – vielleicht ein bisschen menschlicher, bewusster, reflektierter: Erhöhung der Qualität der Arbeit von Medizinern und Chirurgen, durch Bewusstsein und Wissen."
    Seit dem 18. Jahrhundert haben Gelehrte versucht zu beweisen, dass man vom Äußeren auf das Innere schließen könne. Johann Caspar Lavater – Schweizer Philosoph und Schriftsteller – gab in seinem Hauptwerk konkret Anleitungen dazu, wie man den Charakter aus den Gesichtszügen herauslesen könne. Er fand, das sei wichtig – zur "Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe". Im frühen 19. Jahrhundert verbreitete dann der deutsche Arzt Franz Joseph Gall seine Lehren über den Schädel. Er war überzeugt, die Kopfform spiegele Charaktereigenschaften. Man begann den Körper zu vermessen, empirische Daten über ihn zu sammeln und diese dann in der Psychiatrie und in der Kriminalistik zu nutzen. Sigrid Weigel:
    "Sie kennen alle wahrscheinlich diese Tafeln von Bertillon, einem der berühmtesten Kriminologen aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, der dann auf einer Tafel Nasen, Augenformen, Mundformen usw. zusammengestellt hat, die dazu dienten, Verbrecher zu identifizieren."
    Zur gleichen Zeit untersuchte der italienische Psychiater Cesare Lombroso unzählige Schädel, um zu beweisen, dass eine bestimmte Schädelform auf Kriminalität oder Geisteskrankheit schließen lasse. Seine Lehre vom "geborenen Verbrecher" griffen dann die Nationalsozialisten auf und führten unter Berufung auf Lombroso Zwangssterilisationen durch, bei Straftätern und bei Menschen, die sie für "geisteskrank" erklärten. Außerdem wurde in ihrer Ideologie die Schädelform zum Rassenmerkmal, die "Köpervermessung" zum wichtigen Instrument der Rassenlehre und zur Grundlage für menschenverachtende Diskriminierung. Sigrid Weigel:
    "Das ist ja auch der Grund dafür, warum die Frage tabuisiert ist und mit Befangenheiten kann man nicht umgehen – indem man sich vornimmt unbefangen zu sein, sondern nur indem man diese Befangenheiten bearbeitet."
    Und das soll in den kommenden drei Jahren im Rahmen des Forschungsprojektes "Schädelbasiswissen" also geschehen. Eine Medizinethnologin wird die Gespräche über den Schädel zwischen dem Chirurgen Haberl und den Eltern, aber auch während der Operation protokollieren und auswerten. Eine Kunsthistorikerin wird untersuchen, inwiefern die Proportionen-Lehre aus der Kunstgeschichte in die aktuelle plastische Chirurgie Eingang gefunden hat. Und ein Doktorand widmet sich der Frage, inwieweit ein Chirurg immer auch Künstler sein muss. Dass er es sein muss, weiß Ernst-Johannes Haberl längst:
    "Wir kreieren eine Form, die es noch nicht gegeben hat bei diesem Kind und die möglichst nahe beim Erscheinungsbild dieses Kindes liegen sollte, das aber keiner kennt. Man weiß nicht, wie es aussähe, wenn es keine Fehlbildung hätte. ... und das ist ein kreativer Prozess."

    ... den Haberl inzwischen auch minimalinvasiv in Angriff nimmt. Dabei muss er den Schädel nicht mehr öffnen, es reichen drei bis vier kleine endoskopische Schnitte in die Schädelknochen. Eine Bluttransfusion ist nicht mehr nötig, der Eingriff dauert nur noch rund 40 Minuten. Danach muss das Baby für einige Monate einen Helm tragen, der den Schädel von außen formt. Möglich ist diese Art der Operation aber nur, wenn Eltern ihr Kind gleich nach der Geburt beim Chirurgen vorstellen. Und die ästhetischen Fragen - bleiben natürlich dieselben.