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Schäden beseitigt, nichts gelernt

Vier Wochen lang hielt das Oderhochwasser 1997 die Menschen in Brandenburg in Atem. Es gab Schäden in Höhe von 331 Millionen Euro, aber zum Glück keine Toten. Doch in Tschechien und Polen starben insgesamt 94 Menschen.

Von Claudia van Laak |
    Das Wetter ist schuld. Anfang Juli 1997 lassen außergewöhnlich starke Regenfälle die Flüsse in Tschechien und Polen über die Ufer treten. In nur drei Tagen sind sämtliche Pegel an der Oder überflutet, die Wasserstände nicht mehr messbar. Als in Wrozlaw, dem früheren Breslau, Straßen, Autos und Häuser unter Wasser stehen und die ersten Menschen ertrinken, fährt der Präsident des Brandenburger Landesumweltamtes Matthias Freude ins Oderbruch. Er und seine Mitarbeiter wollen die Menschen an der Oder warnen.

    "Wir sind im Oderbruch, wo 20.000 Menschen wohnen unter Hochwasserniveau, zum Teil sechseinhalb, sieben Meter unter dem Hochwasserspiegel, sind wir lang gefahren und haben gesagt, Leute, es kommt gruselig. Die Leute haben auf dem Zaun gelehnt und haben uns angelächelt, wunderschönstes Wetter, haben gesagt, wir wohnen schon 45 Jahre hier, glaubt uns das, das wird nichts."

    Die Bewohner des Oderbruchs sollten nicht Recht behalten. Mitte Juli erreicht die Flutwelle Deutschland. Vier Wochen lang hält das Oderhochwasser die Menschen zunächst in Brandenburg, über die Medien auch ganz Deutschland in Atem. Die Bilanz: Schäden in Höhe von 331 Millionen Euro, aber zum Glück keine Toten. In Tschechien und Polen verläuft das Hochwasser weniger glimpflich, hier sterben insgesamt 94 Menschen. Wäre es dort nicht zu mehreren hundert Deichbrüchen gekommen, in deren Folge die Oder ganze Landstriche unter Wasser setzte, die Flutwelle hätte in Deutschland sehr viel mehr Schäden angerichtet.

    Am 17.Juli erreicht das Hochwasser Deutschland. Die 350 Einwohner der Gemeinde Ratzdorf am Zusammenfluss von Oder und Neiße blicken besorgt auf die digitale Anzeige an ihrem Pegelhäuschen. Bald steht das Häuschen unter Wasser, die Anzeige fällt bei 6,89 Meter aus. Das sind viereinhalb Meter über Normal, sagt Bürgermeisterin Ute Petzel.

    "Das Problem für Ratzdorf war, dass natürlich die Ortslage selber nicht durch einen Deich geschützt war, das kommt daher, dass hier eine Werft war vor Ort, wo Kähne gebaut wurden, und die mussten zu Wasser gelassen werden. Und deshalb konnte hier kein Deich sein."

    Die ersten Häuser und Gehöfte an der Neiße stehen unter Wasser, von Polen her kündigt sich eine zweite Flutwelle an. Der Krisenstab entscheidet: Ratzdorf muss evakuiert werden.

    "Bürger von Ratzdorf. Hier spricht die Polizei. Es gibt für die Dämme eine Gefahrensituation, deshalb muss Ratzdorf geräumt werden. Gehen Sie umgehend zum Sammelpunkt Feuerwehrgerätehaus! Dort stehen Busse für Sie bereit. Nehmen Sie nur Ihre wichtigsten Unterlagen, Medikamente und Kleidung für mehrere Tage mit!"

    In Ratzdorf, in Aurith und später im Oderbruch haben die Ordnungskräfte dieselben Probleme: Die Menschen wollen ihre Häuser nicht verlassen, sie weigern sich zu gehen. Viele ältere Bewohner der Oderregion sind Vertriebene, die Anordnung der Polizei weckt schlechte Erinnerungen. Andere haben sich nach der Wende mühsam ein Einfamilienhaus vom Munde abgespart, sie wollen ihr Privateigentum schützen. Ressentiments gegen die polnischen Nachbarn werden wach, man befürchtet Plünderungen.

    "Ach, wir gehen nicht, wir gehen nicht, wo soll ich denn hin als alte Frau."

    "Die älteren Leute, die Kinder, müssen auf jeden Fall, oder man treibt sie mit der Peitsche raus."

    "Ich habe mir berichten lassen, dass in Aurith ein, zwei Leute rausgetragen werden mussten aus ihren Häusern."

    "Ohne Haus und ohne Wohnung keine Arbeit. Und ohne Arbeit kein Haus und keine Wohnung. Und wir müssen unser Haus verteidigen."

    "In diesem Staat hat man nichts mehr, wir lassen uns hier nicht vertreiben, nicht mal von dem bisschen Wasser."

    Flussabwärts in Eisenhüttenstadt und Frankfurt an der Oder bereiten sich die Menschen auf die Flutwelle vor. Am 23.Juli 1997, eine knappe Woche, nachdem das Hochwasser Deutschland erreicht hat, bricht der erste Deich bei Brieskow-Finkenheerd, einen Tag später bei Aurith. Deutschlandfunk-Reporter Ulrich Gineiger ist vor Ort.

    "Hier brennt es, hier wird jeder gebraucht am Fluss, und weiter oben steht ein Polizist, der lässt die freiwilligen Helfer nicht durch, weil er seinen Dienst überkorrekt macht. Um die hundert freiwilligen Helfer sind im Moment im Einsatz, es ist Mittwochmorgen, etwa zehn Uhr. Die Lage hat sich zugespitzt, südlich von hier sind die ersten Deiche gebrochen, vor mir die Oder, die ist soweit hochgezogen, da sind nur noch ein paar Zentimeter zur Oberfläche des Wassers."

    Das Wasser ergießt sich in die Zilthendorfer Niederung. Aurith, Kunitz Loose und die Thälmann-Siedlung werden evakuiert. Den Menschen bleiben nur wenige Stunden. Ihre Hunde, Katzen, Kaninchen und Hühner müssen sie zurücklassen. Trotz der Katastrophenbilder aus Polen und Tschechien haben sich die Bewohner der Zilthendorfer Niederung nicht auf eine Evakuierung vorbereitet. Sie sehen die überfluteten Landstriche im Nachbarland und sind sich sicher: Die Wassermassen bleiben in Polen. 250 Jahre hatten die Deiche gehalten, also würden sie auch diesmal ihren Dienst tun. Wir haben uns geirrt, sagt Heinz Blümel, Wirt der Gaststätte "Alte Fähre" in Aurith.

    "Wir waren selber davon überrascht, als der erste Deichbruch bei Brieskow-Finkenheerd war, wir wurden dann schon zwangsevakuiert, wir haben das Wasser kommen sehen von Brieskow-Finkenheerd, aber es wurde uns keine Zeit gelassen, unser Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, es war eine regelrechte Vergewaltigung seitens des Staates."

    Bei den Bewohnern der Zilthendorfer Niederung ist die Evakuierung bis heute umstritten. "Wir haben Menschenleben gerettet", sagt der Krisenstab. "Wir haben alles verloren", entgegnen die Betroffenen. War es mangelnde Umsicht, Panik oder der Druck der Einsatzkräfte? Viele haben wichtige persönliche Unterlagen zurückgelassen, zum Beispiel ihren DDR-Sozialversicherungsausweis. Das bringt heute Probleme bei der Berechnung der Rente.

    "Sie wissen ja, was das bedeutet, viele Firmen existieren nicht mehr seit der Wende, es sind absolut keine Unterlagen mehr da. Einige Unterlagen werden abgefordert, aber die sind nicht mehr da, sind weggeschwommen. Da sagt die andere Seite, ja, das interessiert uns nicht, das müssen sie belegen."

    Die Ernte in der Zilthendorfer Niederung ist vernichtet. Öltanks halten dem Wasserdruck nicht stand und platzen. Unzählige Tiere sterben, ihre Kadaver treiben auf dem Wasser. Die zerstörerische Flutwelle setzt ihren Weg nach Norden fort. Mittlerweile ist der größte Bundeswehreinsatz seit der Sturmflut in Hamburg 1962 angelaufen. Insgesamt 30.000 Soldaten sind vor Ort, zusammen mit 20.000 weiteren freiwilligen Helfern verbauen sie 8,5 Millionen Sandsäcke. Die Bundeswehreinheiten kommen aus ganz Deutschland und bringen schwere Technik mit: Hubschrauber, Lkw, Räumgeräte. Und sie sind hoch motiviert.

    "Das war ein Schlüssel des Erfolgs. Ich habe ja alle Dialekte vernommen an der Oder, aber egal wo sie herkamen, sie haben die Deiche als die ihren betrachtet. Ich habe oft erlebt, dass Einheiten, die im Einsatz waren und nach zwölf Stunden abgelöst werden sollen, gesagt haben, wir wollen dieses Stück noch fertig machen, wir wollen was Vollendetes hinterlassen, lass uns noch eine Stunde im Einsatz oder so."

    Hans Peter von Kirchbach leitet den Bundeswehreinsatz an der Oder. Für sein umsichtiges Handeln bekommt er viel Lob und einige Orden. Der 65-Jährige gibt das Lob zurück: Die Zusammenarbeit mit der zivilen Führung sei hervorragend gewesen. Seit der Naturkatastrophe an der Oder ist er mit dem damaligen Umweltminister Matthias Platzeck befreundet. Die Flut hat den Deichgrafen politisch nach oben gespült. Besonnen und entschlossen meistert er die Naturkatastrophe an der Oder, schnell wird er als Nachfolger von Ministerpräsident Stolpe gehandelt.

    "Also ich habe mir vorgenommen in diesen Wochen, einen Beitrag zu leisten, dass keine Panik entsteht. Mein Ansatz ist, dass es immer am besten ist, die Situation undramatisch zu schildern, mit allen möglichen Folgen, aber auch mit allen möglichen Chancen, wie sie ist, nicht mehr und nicht weniger, das wäre das Falscheste gewesen. Und genauso wichtig war es, Sorglosigkeit keinen Raum zu lassen."

    Nicht nur Matthias Platzeck, auch die Bundeswehr kann einen enormen Imagegewinn durch die Oderflut verbuchen. Was teure Werbe- und Imagekampagnen nicht vermocht haben, General a. D. von Kirchbach hat es mit seinen 30.000 Mann geschafft. Der Odereinsatz ist der Durchbruch für das Ansehen der Bundeswehr in Ostdeutschland.

    "Dort, wo die Leute die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr immer noch am Stechschritt der NVA gemessen haben, haben sie plötzlich gemerkt, der Stechschritt ist bestimmt schlechter, besser gesagt, die Bundeswehr hat gar keinen, aber das ist eine machtvolle, leistungsfähige Organisation."

    Der wichtigste Auftrag für die Truppe lautet: Verteidigung des Oderbruchs. Hier leben 20.000 Menschen sechs Meter unter dem Wasserspiegel. Eine Woche nach den Deichbrüchen in der Zilthendorfer Niederung spitzt sich die Situation zu. Der Druck auf die Deiche nimmt zu, 10.000 Menschen aus 20 Dörfern müssen ihre Häuser verlassen. Sind die Bewohner des Oderbruchs zunächst gelassen, sie sind Hochwasser gewöhnt, breitet sich jetzt Panik aus.

    "Ich hab noch nie so eine Angst gehabt wie jetzt. Die ist in mir, die lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Meine Schwester hat das Hochwasser 1930 erlebt, aber das ist ja gar nichts dagegen."

    "Die Angst ist da, was wird, Wasser hat so eine Kraft, das kann man nicht beschreiben, Wasser ist auch so schnell, ruckzuck ist es um einen rum, und dann ist man verloren."

    "

    Der Deich bei Hohenwutzen droht zu brechen. Die Chance, ihn noch zu halten, liegt bei fünf Prozent, sagen die Wasserbauingenieure. Ziviler Krisenstab und Bundeswehr setzen alles auf eine Karte. Sie ziehen Personal und Hubschrauber an anderen Orten ab, konzentrieren alles an einem Punkt. Diese Entscheidung soll sich später als richtig erweisen. Der Deich hält, das Oderbruch wird nicht überflutet. Das ist das Wunder von Hohenwutzen, sagt Hans-Peter von Kirchbach.

    ""Wenn ein Deich sich in Bewegung setzt, wenn man denkt, jetzt muss es jede Sekunde passieren, wenn man selbst auf dem Deich steht und beobachtet und alles einsetzt, was man hat, das waren Transporthubschrauber, Sandsäcke und Netze, und man setzt alles auf eine Karte, und das funktioniert, damit kann man dann nicht mehr unbedingt rechnen."

    Menschen in ganz Deutschland verfolgen im Radio, im Fernsehen und in den Zeitungen den Kampf um das Oderbruch. Für viele Westdeutsche sind bis zu diesem Zeitpunkt diese östlichsten Regionen Deutschlands Niemandsland, die Bezeichnung Oderbruch hören sie zum ersten Mal. Eine Welle der Hilfsbereitschaft rollt an. Viele öffnen ihre Geldbörsen: 130 Millionen DM für die Flutopfer in Tschechien, Polen und Brandenburg sammeln sich auf den Spendenkonten. Andere machen sich auf den Weg gen Osten, um beim Sandsackschippen oder später beim Aufräumen zu helfen. Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe sagt Anfang August im Bundestag:

    "Die Menschen rücken im Kampf gegen die Naturgewalten zusammen, Ossis und Wessis erleben angesichts der existenziellen Herausforderung, dass sie zusammengehören. An den Deichen der Oder hat die deutsche Nation im Jahr sieben der Einheit ihre Bewährungsprobe bestanden."

    Mitte August ist die Gefahr gebannt. Die Menschen können in ihre Häuser zurückkehren, Aufräumarbeiten und Verteilung der Spenden beginnen. Am liebsten wollen die Fernsehsender zerstörte Kinderheime und Obdachlose, weinende Menschen zeigen, die glücklich sind über einen Geldschein oder eine neue Schrankwand. Es kommt zu kuriosen Situationen: US-Star Michael Jackson will Geld für einen Kindergarten in Ratzdorf spenden. Doch Ratzdorf hat überhaupt keinen Kindergarten. Die Bürgermeisterin kann die Konzertagentur überzeugen, seitdem gibt es im Dorf einen Michael-Jackson-Spielplatz, für den auch Häftlinge der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf gesammelt haben. Das Deutsche Rote Kreuz kommt in die Kritik, weil es Geld über den Gartenzaun verteilt, ohne die Bedürftigkeit der Beschenkten zu prüfen. LKW beladen mit neuen Kühlschränken und Waschmaschinen fahren durch die Zilthendorfer Niederung. Wer laut "hier" schreit, bekommt neue Hausgeräte. Gastwirt Heinz Blümel aus Aurith erinnert sich.

    "Wo manche gewohnt haben, ob sie gleich am Ortseingang waren, wo die Spendenautos kamen, oder ob sie abseits gewohnt haben, wo die Spendenautos nicht mehr hinkamen. Wenn ich hier war, war das Spendenauto in der Thälmannsiedlung, wenn ich da war, war das Spendenauto hier."

    Die Landkreise versuchen, die Fluthilfe zu koordinieren. Ein Spendenbeirat gründet sich, der die Verteilung der Gelder überwachen soll. Die Not hat die Menschen zusammengeschweißt, der Geldsegen entzweit sie wieder. Nachbarn beobachten sich gegenseitig: Wer kauft sich ein neues Auto, wer eine teure Einbauküche.

    "Es ist die Tatsache, dass manche, die noch ein Häuschen mit Herz auf dem Hof hatten, und jetzt haben sie einen Whirlpool, das bringt kritische Auseinandersetzungen."

    "Wir hatten auch 40 Zentimeter Wasser im Bungalow, angeblich, weil das unser Zweitwohnsitz war, stand uns nichts zu, alle anderen haben gekriegt, ein Mann hier, der hatte genauso viel Wasser wie wir drin, der hat 70.000 gekriegt. Das hat viel böses Blut gegeben unter den Leuten in Ratzdorf, das können Sie sich gar nicht vorstellen."

    Die Landesregierung beginnt mit der Erhebung der Schäden. 200 überflutete Häuser, von denen nicht klar ist, ob sie wieder aufgebaut werden können. Überflutete Felder, zerstörte Straßen, verendetes Vieh. Von Milliardenschäden spricht Ministerpräsident Manfred Stolpe, 331 Millionen Euro werden es sein.

    "160 Kilometer Deiche müssen verlässlich gesichert werden, Unmassen Schlamm sind zu beseitigen, der Boden muss entseucht werden, Leitungen aller Art sind wiederherzustellen, Straßen und Brücken sind zu erneuern, Gebäude sind zu stabilisieren oder neu zu bauen. Entlang der Oder geht es darum, die Lebens- und Erwerbsmöglichkeiten der Menschen wiederherzustellen und zu schützen und darüber hinaus, der Natur ihr Recht zu lassen."

    Zehn Jahre danach sind die Flutschäden fast vollständig beseitigt. In Ratzdorf erinnert nur noch die Markierung an einer Pappel an das Jahrhunderthochwasser im Juli 1997. Die Häuser sind saniert, strahlen in Pastellgelb, Blau oder Apricot. Straßen und Bürgersteige wurden neu geteert und gepflastert. Die Deichlücke in Ratzdorf ist mittlerweile geschlossen, die beschädigten Wälle wurden zügig saniert, zum Teil sogar erhöht. Auf die Mahnung von Helmut Kohl haben Polen und Brandenburg allerdings nicht gehört. Der Bundeskanzler sagt im August 1997 in seiner Regierungserklärung zur Oderflut:

    "Ich denke, in allen Anrainerstaaten müssen wir dabei die Lehre beherzigen, die sich mit der Hochwasserkatastrophe verbindet: Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen, sie holen ihn sich sonst zurück mit schlimmen Folgen für die Menschen."

    Den Flüssen ihren Raum lassen, das ist eine Forderung nach jedem Hochwasser, umgesetzt wird sie nur selten. Im Laufe der letzten 200 Jahre hat die Oder 80 Prozent ihrer Überflutungsflächen verloren. Von einer Rückverlegung von Deichen, von Retentionsflächen in der Größe von 6000 Hektar spricht Brandenburgs Landesregierung direkt nach dem Hochwasser. Zehn Jahre danach sind nur zwei Prozent dieser angekündigten Überflutungsflächen realisiert. In der Zilthendorfer Niederung entstehen neue Einfamilienhäuser, in Ratzdorf wurde mit staatlichen Subventionen ein Hotel errichtet - direkt hinter dem Deich. Durch den neuen Wall wähnen sich die Ratzdorfer in Sicherheit. Das ist trügerisch, sagt Winfried Lücking, Flussexperte der Umweltschutzorganisation BUND.

    "Wir wissen aus zig anderen Beispielen, dass dort keine Sicherheit da ist, allein das Quellwasser, der Druck über das Grundwasser, schafft auf der anderen Seite Hochwassersituationen. Ich kann es wirklich nicht nachvollziehen, was die Leute sich dabei gedacht haben, da werden mit Sicherheit beim nächsten Hochwasser enorme Schäden entstehen."

    Der Präsident des Landesumweltamtes Brandenburg muss seine politische Niederlage eingestehen. Wäre es nach Matthias Freude gegangen, die völlig überflutete Thälmann-Siedlung wäre nicht wieder aufgebaut, sondern umgesiedelt worden. Und Brandenburg hätte mehr Oderdeiche in das Landesinnere zurückverlegt.

    "Die Praxis aber lehrt einen, dass vieles von dem, was man sich wünscht, was ich mir persönlich mit Herzblut wünsche, dass vieles nicht geht."

    Die Praxis, das sind der zu erwartende Volkszorn der Bewohner und die starke Lobby der Landwirte, die auf keinen Fall auf ihre fruchtbaren Böden an der Oder verzichten wollen. Brandenburgs Landesumweltamt plant nun, die Neuzeller Niederung als Überflutungsgebiet auszuweisen. Das letzte Wort dazu ist noch nicht gesprochen. In dem Gebiet befinden sich etwa tausend Datschen, die ihre Besitzer nicht kampflos preisgeben werden. Polen hat dieselbe Politik betrieben wie Brandenburg. Das Land hat kaum Überflutungsflächen ausgewiesen und seine Deiche ertüchtigt. Kommt ein neues Oderhochwasser, aufgrund des Klimawandels durchaus wahrscheinlich, werden die dortigen Wälle dem Wasser besser standhalten als vor zehn Jahren. Die Folge: Eine sehr viel höhere und gefährlichere Flutwelle als vor zehn Jahren wird Deutschland erreichen.
    Freiwillige vom Technischen Hilfswerk (THW) fahren durch das überflutete Dorf Wiesenau an der Oder beim Hochwasser im August 1997.
    Freiwillige vom Technischen Hilfswerk (THW) fahren durch das überflutete Dorf Wiesenau. (AP Archiv)