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Schäferidyll für vier Stimmen

Für einen gemischten Chor in Leipzig schrieb Robert Schumann die anspruchsvollen Gesänge op. 59 und fünf eher schlichte Lieder op. 55 nach Texten des damals populären schottischen Nationaldichters Burns. Beide Zyklen bilden den Grundstock einer CD, mit der sich das Orpheus-Vokalensemble aus Baden-Württemberg vorstellt. Ebenfalls neu erschienen ist eine CD mit Bearbeitungen für Chor von Clytus Gottwald, der von György Ligetis Chortechnik inspiriert war.

Von Frank Kämpfer |
    Im Folgenden geht es um Lieder. Genauer gesagt, um Chorlieder. Um Lieder von Robert Schumann, von György Kurtag, und um Lieder, die vor und nach 1900 entstanden - in neuen Aufnahmen mit gemischten Chören aus Baden-Württemberg.

    * Musikbeispiel: Robert Schumann - "Hirtenknaben-Gesang"

    Zwei Damen, zwei Herren - arkadische Landschaft, ein Schäferidyll. Der Lockruf fliegt hin und her zwischen ihnen - der Gestus des Singens, nicht der gesungene Text stellt klar, worum es hier geht. Komponist Robert Schumann hat den bukolischen Vers Annette Droste von Hülshoffs dramaturgisch leicht korrigiert und den Werbe- und Sehnsuchtsgesang des Schäfers zu einem Quartett umgeformt, darin sich die je zwei Tenöre und je zwei Soprane gleichwertig sind. Eine kanonische Episode in der Mitte setzt ein reizvolles Echo-Szenario in Gang und macht die Miniatur für vier Solisten zur Herausforderung.

    Besagter "Hirtenknaben-Gesang" steht im Anhang der Vier Gesänge op. 59 - und er erinnert ein wenig daran, dass sein Urheber sich im Umfeld des Komponierens mit Kontrapunkttechnik befasste. Ursächlich entstand der kleine Zyklus Anfang 1846, weil Robert Schumann in Leipzig einen Liederkranz fand, der Damen- und Herrenstimmen vereinte und von ihm ein vierstimmiges Opus für sich erbat. Schumann, der Kompositionen für Solistenquartette und Chöre als stets willkommene Übung für größere Arbeiten ansah, schrieb den Leipzigern nicht nur die anspruchsvollen Gesänge op. 59, sondern auch fünf eher schlichte Lieder op. 55 nach Texten des damals populären schottischen Nationaldichters Burns.

    Beide Zyklen bilden den Grundstock einer im Mai vergangenen Jahres in den Bibliothekssälen Ochsenhausen und Bad Schussenried produzierten CD, mit der sich zugleich das Orpheus-Vokalensemble, der Kammerchor der Landesmusikakademie Baden-Württemberg vorstellt. Dreiundzwanzig Sängerinnen und Sänger vereint die Formation, die erst gut eineinhalb Jahre besteht - ihr Leiter Gary Graden ist international renommiert und wurde in 2005 in Schweden zum Chordirigenten des Jahres gewählt. Hier setzt er auf professionelle, erfahrene und dennoch jugendliche Stimmen, die den Kosmos des Schumann'schen Chorlieds mit Neugier wie Kompetenz für sich erforschen. - Ein zweites Hörbeispiel stammt aus den Vier doppelchörigen Gesängen op. 141 für größere Gesangvereine, die im Herbst 1849 entstanden - es sind die anspruchsvollsten Titel der Platte, deren Texte schon im Grenzbereich von Lebensphilosophie und geistlicher Dichtung changieren. Hier daraus: "Ungewisses Licht".

    * Musikbeispiel: Robert Schumann - "Ungewisses Licht", op. 141, 2

    "Ungewisses Licht" aus Robert Schumanns Doppelchörigen Gesängen op. 141 - hier dargeboten vom Orpheus-Vokalensemble unter der Leitung von Gary Graden - erschienen ist diese CD beim Label CARUS.

    Die nächste CD, die ich Ihnen anspielen will, vereint 15 Titel, die im Original keine Chorlieder waren und deren Komponisten stilistisch nicht wirklich zusammen gehörten. Der rote Faden, der sie alle hier jedoch recht glücklich vereint, ist von einem Bearbeiter ausgelegt, dessen Tätigkeit die des reinen Arrangements weit übersteigt. Clytus Gottwald, Jahrgang 1925, Gründer und Leiter der Stuttgarter Schola Cantorum, hat zahlreiche vor und nach 1900 entstandene Klavierlieder für zumeist 16 Stimmen transkribiert. Der langjährige SDR-Redakteur, der zahlreiche zeitgenössische Chormusik uraufgeführt hat, war dezidiert von György Ligetis Chortechnik inspiriert, als er begann, sich einer musikhistorischen Epoche zu nähern, in der Chor à capella an sich keine dominierende Ausdrucksform war. Wenn Mahler oder Debussy Chöre einsetzten, dann im Rahmen von Orchestermusik - oder Wagner in seinen musikalischen Dramen. Clytus Gottwald nähert sich diesen und anderen, indem er sie aus der Erfahrung der Avantgardemusik für solistische Chorstimmen setzt, somit ausdifferenziert und quasi übermalend musikalisch befragt.

    Drei von Alban Bergs frühen Liedern nähert sich der Bearbeiter mit Mitteln der Mikropolyphonie. Wagners Wesendonck-Lieder versteht er als Stufen auf dem Weg zur Tristan-Harmonik, Messiaens 'Louange à l'Éternité de Jésus' ist ein Satz aus dem "Quatuor pour la fin du temps", der hier als 19stimmige Polyphonie aufklingt. Ravels "Soupir" hörte Gottwald 1978 von Pierre Boulez dirigiert und beschloss, das Flächige der Miniatur auf Stimmen zu übertragen:

    * Musikbeispiel: Maurice Ravel - "Soupir"

    "Soupir" von Maurice Ravel, eines der "Trois chansons de Stéphane Mallarmé" - in einer Fassung von Clytus Gottwald. Hier dargeboten vom SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed. Die gleichfalls beim Label CARUS Ende vergangenen Jahres erschienene Platte enthält 15 Titel, die Gottwald nach Werken von Wagner, Caplet, Debussy, Mahler, Ravel, Berg, Messiaen und Holliger für 16stimmigen gemischten Chor neu gesetzt hat.

    Im Jahre seines 60jährigen Bestehens war der ambitionierte, immer wieder Zeitgenössischem verpflichtete Rundfunkklangkörper noch mit einem zweiten Produkt auf dem CD-Markt präsent, das die gesamte Chormusik György Kurtags enthält. Booklet-Autor Hans-Peter Jahn bezeichnet selbige als vokale Kammermusik, gar als 'instrumentale Musik für Sänger'. Die drei hier versammelten Werke charakterisiert die Tendenz zu aphoristischer Kürze, die Kombination von Extremem, die Expression. Mitnichten handelt es sich um Vertonungen im traditionellen Sinn. Die sechs Miniaturen "Omaggio à Luigi Nono" op. 16 zum Beispiel, die Ende der 70er Jahre entstanden, künden seinerzeit Neuen, Stimmen als Klang- und Geräuscherzeuger zu gebrauchen. Von ähnlichem Zugriff wirken die Anfang der 80er komponierten 8 Chöre zu Gedichten von Dezsö Tandori.

    Komponierte Lyrik als musikalischer Klang - auf diese Formel gebracht schließlich wirken die "sechs Lieder der Schwermut und Trauer", an denen Kurtag 15 Jahre lang gearbeitet hat, und die 36 Stimmen und 28 Instrumente vereinen. Zu Grunde liegen unmissverständliche Verse russischer Dichter aus meist stalinistischer Zeit - Blok, Jessenin, Mandelstam, Achmatowa und Zwetajewa. Die Musik spürt ihnen auf den Grund, in die Abgründe, indem sie sich autonom, nach ihren eigenen Gesetzen verhält. Die avancierte Vielgestalt, in der Stimmen und Instrumente einander begegnen, annähern und konfrontieren, entspricht der extremen Sensibilität und existenziellen Gefährdung, die die Poesie impliziert:

    * Musikbeispiel: György Kurtag - Am blauen Abend / Wo soll ich hin in diesem Januar aus: Lieder op. 18

    Soweit ein Ausschnitt aus György Kurtags "Liedern der Schwermut und Trauer", op. 18 - dargeboten vom SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Markus Creed und dem Ensemble Modern. Die Aufnahmen mit Kurtags Chormusik sind bei Hänssler Classic erschienen.

    Robert Schumann: "An die Sterne". Weltliche Chormusik
    Orpheus-Vokalensemble
    Leitung: Gary Graden
    Label: Carus
    Labelcode: LC 3989
    Bestellnr.: 83.173

    Clytus Gottwald: Transkriptionen
    SWR Vokalensemble Stuttgart
    Leitung: Markus Creed
    Label: Hänssler Classics
    Labelcode: LC 3989
    Bestellnr.: 83.181