Seine Heldin Azra fühlt sich ihrem Faruk gegenüber oft wie der verlassene König, als Betrogene. Denn Faruk ist nicht zu fassen, sein Ich entzieht sich ihr, es versteckt sich in immer neuen Geschichten. Azra ist eine handfeste, nüchterne Frau, gegen die er ein Idealist und wirrer Faselhans ist. Ein Fantast, der sie bis an die Grenze des Erträglichen irritiert, indem er ihr seine Sermone ins Ohr träufelt und jede seiner Absurditäten und "Schweinereien" mit Anekdoten aus seinem Leben erklärt, die sich ihrerseits ständig verschieben.
"Es mag ja anrührend sein, alles zu ästhetisieren, ... aber ... er muß Gott weiß was für Philosophien erfinden, um sich zu rechtfertigen, daß er gelegentlich ißt oder Liebe macht. So einen kann man lieben, aber man kann mit ihm keine Kinder haben, Wintervorräte anlegen, Wäsche flicken und sich einreden, daß Essig erträglich riecht. Alles Menschliche und Körperliche muß er filtrieren, ästhetisieren, harmonisieren, sterilisieren ... Welche normale Frau will eine lange Diskussion führen, nur um sich zu entschuldigen, daß sie mit Appetit gegessen oder gut geschlafen hat. ... Schön, daß er das Leben so sehr verachtet, das macht es ihr möglich, auch mütterliche Zärtlichkeit an ihn zu verschwenden, gerade deshalb liebt sie ihn vielleicht so zärtlich, aber ... es ist nicht mehr zu ertragen, daß allem, was sie tun und sind, Realität und Leben fehlen. Sie würde ihrer Verbindung gern ein wenig Fleisch hinzutun, ein wenig Körper, ein wenig irdische Unreinheit, die nicht besonders schön sein mag, dafür aber lebendig ist. ... Wo ist er, und wie ist er wirklich?"
Azra findet nach einiger Zeit, Faruk laste zu sehr auf ihr, und bittet ihn, zu gehen. Kurz vor der Belagerung verläßt er Sarajevo. Er hinterläßt ihr, natürlich, eine Geschichte, deren Titel ironisch auf Goethes "Wilhelm Meister" anspielt: "Scheich Figanis Lehrjahre", nennt Faruk eine Geschichte, die von seinem eigenen möglichen und vielleicht besseren Ich handelt - er bittet Azra jedenfalls, zu lesen und ihn dabei zu spüren, denn sonst gebe es ihn nicht wirklich. Was dann folgt, sind Episoden aus dem Leben des osmanischen Dichters Figani, der im 16. Jahrhundert in Istanbul ungewollt in eine Verschwörung geriet. Dieser Figani wird im Verlauf der Handlung beauftragt, ein sumerisches Märchen zu übersetzen; es wird in seine Geschichte eingebaut, das heißt wir befinden uns jetzt auf der dritten Erzählebene. Im Märchen aus dem Zweistromland, in der Stadt Uruk geht es um einen Geist, einen Dschinn namens Bell, der durch die Liebe zu der wilden, leidenschaftlichen Belitsilim ein wirklicher Mensch werden möchte, mit Gefühlen, Körper, Erinnerung. Bells Offenheit und seine Sehnsucht nach dem Lachen werden ihm zum Verhängnis, er wird als "Lachopfer" zelebriert, und da er inzwischen Mensch geworden ist, stirbt er auf grausame und groteske Weise. Nicht viel besser ergeht es Figani; seine verwirrenden Erfahrungen mit machtgierigen Verschwörern werden ihm zwar gedeutet, aber er begreift nicht, und endet wie Bell.
Azra wiederum liest beide Geschichten, die von Bell und die von Figani, als Umschreibungen ihres Geliebten, und während Faruk durch zerstörte bosnische Dörfer irrt im Wunsch, mit einem Donnerschlag ein Leben zu beenden, in dem es alles gab "außer Leben und Tod", schreibt Azra im belagerten Sarajevo ihre Erinnerung an den Geliebten nieder. Sie will sich beweisen, daß er existiert hat, daß es eine Realität jenseits des Kriegs gab.
Karahasan hat mit "Schahrijars Ring" einen Roman vorgelegt, der gebaut ist wie eine Matroschka: In der Puppe ist die Puppe ist die Puppe. Auch, wenn das Buch zwischen Orten, Epochen und Diskursen springt, wiederholen sich Motive, sie werden variiert und verweisen aufeinander. Bei Faruk, Figani und Bell handelt es sich jeweils um den an sich ganz sympathischen Typus des weltfremden Intellektuellen. Alle drei sind sie verträumt, sie sind Idealisten, aber - leider - auch "Narren". Sie meinen es gut, sie haben viele Gedanken, manchmal große, und sie streben nach Wahrhaftigkeit. Also - also? - sind sie unfähig, Kleinliches, Intrigantes, Schlechtes, Böses zu durchschauen. Sie sind weise Toren und törichte Weise. Faruk wünscht sich in seiner Verzweiflung vergeblich das Schicksal, das seine beiden anderen Ichs ereilt: Figani und Bell werden zum Gespött des Pöbels; man bindet sie mit dem Gesicht zum Schwanz auf einen Esel, der durch die Stadt geführt wird, bewirft sie mit Unrat und steinigt sie schließlich zu Tode. Diese drei Helden werden in ihrer Gutgläubigkeit und Naivität geradezu Sinnbilder menschlicher Torheit, sofern sie Realität, auch reales Glück, allenfalls im Nachhinein begreifen, wenn es zu spät ist.
Das ist nur eine Deutungsmöglichkeit dieses Romans. Karahasan geht es sicherlich um mehr, vor allem um die Frage der Identität, um Zugehörigkeit und um den Verlust von Identität und Heimat. Faruk in einem Brief an Azra, bevor er die Stadt Sarajevo verläßt:
"Wie oft haben wir über Menschen gesprochen, die mit ihrem Schicksal meine These bestätigen, daß der Weggang aus Bosnien der sicherste Weg ist, zum Bosnier zu werden. ... Warum werden die Bosnier ... so leidenschaftliche Patrioten, wenn sie weggehen, und warum lieben sie ihre Gegend so gar nicht, wenn sie zu ihr verurteilt sind, das heißt, solange sie dort leben? Vielleicht könnte die richtige Erklärung in der Vielfalt liegen, die unser Alltagsleben so unendlich kompliziert macht. Ein guter Bosnier liebt seine Nachbarn, die allen möglichen Glaubensrichtungen angehören, mit Zärtlichkeit. ... Wenn man mit den Menschen um sich herum gut auskommen möchte, erfordert ein einziger Gang durch Sarajevo so viel Wissen über die verschiedenen Religionen und Kulturen, daß sich jeder von uns für einen Kandidaten der Kulturanthropologie oder Ethnologie halten könnte."
Ein Plädoyer für die Vielheit in einer Stadt, die es dem Einzelnen gleichwohl erlaubt, seine Eigenart zu bewahren; so, wie es in Sarajevo vor dem Krieg gewesen sein mag, als ganz unterschiedliche Religionen und Kulturen nebeneinander lebten. "Vielheit" könnte aber auch in einer einzigen Person gedacht werden. Der unheimliche Scheich Demir in der Stadt Istanbul, bei dem der junge Figani Schüler werden soll, formuliert diese Idee in morgenländisch anmutender Bildersprache:
"Nur deshalb, weil ich ein wenig an deiner inneren Form gerüttelt habe, hast du Genüsse empfunden, von denen du nicht einmal gehört, die du nicht einmal geahnt hast. Es gibt keine Grenze zwischen dir und der Welt GOTTES ... Nur das eine unendliche Gefühl, ein Tropfen Wasser zu sein, im Zweig eines Apfelbaums zu erbeben und im kommenden Frühling in Blüte zu stehen, in einem Stein einen Abhang hinunterzukollern, losgetreten vom Fuß eines Schafes, in dem wiederum du selbst bist. Alles auf einmal, in diesem Moment, gleichzeitig. Kannst du dir das vorstellen, du faule, hochfahrende Seele? ... Dein weiser Ata ... verlangt vom Menschen, er solle entdecken, was er ist, um sich dann in dem, was er entdeckt, einzuscharren wie ein Esel und zu erstarren. Aber wir sind deshalb das höchste Geschöpf, damit wir uns ändern können."
Ach ja. Das höchste Geschöpf, der Mensch. Der freundliche Dschinn namens Bell hat diesbezüglich große Erwartungen. Selbst die Endlichkeit des Daseins zieht ihn an, denn als unsterbliches Flammenwesen ist er fühllos und gleichgültig. Seiner Frau Belitsilim gegenüber gerät er ins Schwärmen:
"Ihr habt einen Körper und Gefühle, ihr wünscht und sehnt euch. Schön ist das: Zu fühlen, zu begehren. Groß ist das. Einen Körper zu haben. ... Wir sind das Verlangen der Dinge nach ihren Namen ..., das Verlangen der Namen nach den Dingen ... Dschinns meiner Art brauchen die Ganzheit, sie träumen von ihr und hüten sie. Ich kann nur ein ganzer Mensch werden, und wenn ich ein Mensch sein möchte, muß ich Lachen und Traurigkeit miteinander verbinden."
Ach ja. Ganzheit. Vollständigkeit. Identität. Bei-sich-sein, und im Einverständnis leben mit der Welt. Karahasan führt uns anhand seiner drei Helden halb ironisch, halb melancholisch vor, wie Ideale in der Realität geerdet werden. Wirklich bleiben Mißverstehen, Vergeblichkeit und Unvollkommenheit. Zerstörung, Krieg.
Daß der Roman nicht niederdrückend wirkt, hat mit der Leichtigkeit und dem Charme zu tun, mit dem Karahasan seine Geschichten schreibt. Der Autor verfügt über eine Vielzahl und Spannbreite von Erzählhaltungen, die vom orientalisch wirkenden Märchenton bis zum poststrukturalistischen Duktus etwa eines Roland Barthes reichen. Gleich zu Beginn des Romans möchte die arme Azra ihren Faruk vor Wut am liebsten kräftig in die Schulter beißen. Die beiden nehmen gerade an der Beerdigung seines Onkels teil - was muß er ihr da seine Theorie über die Unbehaustheit des Menschen im Zusammenhang mit modernem Mobilar ins Ohr raunen?
"Modernes Mobilar ist die vollkommene Allgemeinheit, weshalb es vollkommen egal ist, wo es steht ... Die Materialien, aus denen modernes Mobilar hergestellt wird, verlangen geradezu danach, Erinnerung auszuschließen und unmöglich zu machen; ihrer Natur nach sind sie reine gleichgültige Gegenwart und deshalb unveränderlich. ... Die Spanplatte wird aus Holzspänen und Kleister gepreßt ... Alle Eigenschaften sind auf eine einzige reduziert - alles ist Späne. Ist die Platte zur Möbelherstellung bestimmt, wird sie mit einem Furnier beklebt, das ebenfalls nur eine einzige Eigenschaft hat - gleichgültig zu glänzen, reine Gegenwart zu sein ... Das ist das moderne Mobilar ... alles kann es, nur eins nicht: dir dabei helfen, ein Heim zu schaffen und darin zu leben wie ein Mensch."
Sechs Seiten lang räsonniert der gute Faruk über dieses Thema, und man liest das entzückt, selbst wenn man hinterher mit der entnervten Azra sympathisiert. Leider kommt dieser umfangreiche Roman nicht immer derart leichtfüßig daher. Der Text tritt manchmal allzu lang auf der Stelle herum, er wird in einer Weise ausführlich und geschwätzig, daß man springen wollte. Vielleicht ist das ein Versuch, wie Scheherazade endlos zu erzählen, in alle Richtungen fortsetzbar. Hier noch ein Handlungsfaden, da noch ein Gewebefetzen - man glaubt dem Autor zwar, daß dies alles sehr kunstvoll zusammengewoben ist und daß er die Fäden fest in der Hand hält - und ist aber doch zwischendurch erschöpft.
In mancher Hinsicht ist "Schahrijars Ring" ein geradezu exemplarisch postmoderner Roman. Er beschränkt sich nicht auf einen Duktus, eine Sprachebene. Er greift einerseits traditionelle und populäre Elemente auf, er will mitreissen, unterhalten. Daher diverse Topoi und Typen; der charakterlose karrieresüchtige Vater von Belitsilim; sie, die temperamentvolle Schönheit; tumbe Schüler, weise Lehrer; der Kriminalfall, in den Figani gerät; oder die genießerische Aufzählung exotischer Details auf dem Markt in Uruk - all das ist auf ein breites Publikum hin zugeschrieben. Andererseits spricht der Roman mit seiner kunstvoll verzweigten Konstruktion, die über das Matroschka-Prinzip hinausgeht, und mit seinen literarischen Bezügen auch den belesenen Intellektuellen an. Man findet Anspielungen auf das Gilgamesch-Epos, erfährt mehr über den Dichter Figani, der ja tatsächlich lebte und der über einen brillanten Spottvers zu Fall kam. Und wenn man sich die Mühe macht, noch einmal einen alten Text des Angelus Silesius nachzulesen, "Aus dem Cherubinischen Wandersmann", erfreut man sich der Wendung, die Karahasan seiner Azra in den Mund legt. Sie lebt in Sarajevo inzwischen im Keller, ihre Wohnung ist zerstört. Im Brief an Faruk ganz am Ende variiert sie ein altes Zitat, sie schreibt und unterschreibt:
"Mein Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, so komm zu mir, wo du sein kannst, wo du sein mußt, die Schrift und selbst das Wesen. Ich, Azra, die Glückliche."
Postmodern, das heißt an diesem Beispiel: Ein Autor spielt auf der Klaviatur der bereits vorhandenen Literatur, er eignet sich an, was ihm für seine eigene Arbeit tauglich scheint und was im veränderten Kontext neu und unverbraucht wirken kann.
Sehr schön. Nur, Karahasans Buch geht eben auch ein Risiko ein, das für den postmodernen Roman typisch ist. Man will so viel, und die Gefahr ist groß, einen Text zu überspannen. Wenn man als Leser ungnädig gestimmt ist und den Kontext der Entstehung des Buchs außer Acht läßt, könnte man sagen "Schahrijars Ring" sei überdeterminiert - und das schlage in Beliebigkeit um. Leben und Tod, Krieg und Liebe, Geister und Dichter, - was bleibt denn eigentlich längerfristig hängen aus diesem Wust von Namen, Orten, Anekdoten? Erstickt nicht dieser Text unter der breit gezogenen Oberfläche? Muß der Esoterik, muß der Mystik der Weisheitslehrer solch breiter Raum gelassen werden? Oder: Warum ist die Sprache zwar leicht gekonnt, und klingt doch aber kaum ein eigener Ton durch?
Man macht es sich allerdings zu einfach, wenn man den Roman wegen seiner Widersprüchlichkeiten und einiger Schwächen vom Tisch wischen wollte. Wenn hier anfangs von der Frage nach der Identität als einem Schwerpunktthema des Buchs die Rede war, dann kann man auch sagen: Die philosophischen Implikationen von Karahasans Buch sind möglicherweise aufregender und weitreichender, als man das innerhalb dieses Labyrinths von Geschichten erwartet beziehungsweise überhaupt beim ersten Lesen wahrnehmen kann. Wenn man Karahasans Arbeit nicht lediglich "mitgerissen", "verlockt", sondern "mitdenkend" liest, dann legt sie Folgendes nahe:
Das Ich des modernen Menschen sei nicht "zersplittert", sondern "verzweigt"; es sei nicht "fragmentiert", sondern "erweitert". Die Identität wäre demnach quasi selbst wie eine Erzählung aufgebaut, die wiederum aus kleineren Erzählungen besteht. Das schließt die Annahme ein, daß das, was einer ist, nicht ein für alle Mal gegeben ist. Daß man sich quasi immer wieder neu erfinden könnte. Figani und Bell, diese möglichen anderen Ichs von Faruk, mußten sterben, sie mußten verschwinden. Azra aber schreibt ihrem Faruk am Schluß nicht "geh", sondern "komm". "Komm zu mir, wo du sein kannst ... die Schrift und selbst das Wesen." Ist das ein happy end? Wohl nicht. Denn in was für ein Sarajevo würde Faruk, wenn er überlebt, zurückkehren. Und würden sich die Mißverständnisse mit Azra nicht fortsetzen? Karahasan läßt das Ende offen, unbestimmt. Entschieden und bestimmt aber ist dieser Roman in seinem Versuch, sich der gegenwärtigen Realität von Krieg und Zerstörung mit Hilfe sprühender Phantasie entgegenzustemmen. Karahasan selbst ist quasi in der Lage von Scheherazade: Er flüchtet weit weg in Geschichten, um dem Verhängnis zu entgehen. Er darf nicht aufhören, er muß sozusagen ums Leben erzählen.