Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Scham: nur ein neuronales Phänomen?

Der Journalist Till Briegleb beschäftigt sich in einem jüngst erschienen Essay mit den Arten und Funktionsweisen der Scham. Eine tatsächliche Klärung des Phänomens liefert der Autor leider nicht.

Von Dorothea Dieckmann | 19.06.2009
    Der Trend zum Massenprodukt, der die schöne Literatur in den Sumpf fernsehkompatibler Unterhaltung treibt, äußert sich beim Sachbuch im Trend zur Lebenshilfe. Anwendbarkeit ist das Gebot der Stunde, nicht mehr Analyse, Kritik, geschweige denn wissenschaftlich fundierte Reflexion. Der Suhrkamp-Verlag, lange Zeit ein Hort des unabhängigen Geistes, leistet nun in der Reihe "Bibliothek der Lebenskunst" des dazugehörenden Insel-Verlags seinen Tribut an die Realität. Der Begriff Lebenskunst klingt nicht nur edler als Lebenshilfe; er stützt sich zudem auf eine lange philosophische Tradition, die in der Neuzeit die Ausdrucksform des Essays beförderte. Einen solchen hat dort nun der Hamburger Journalist Till Briegleb veröffentlicht – mit der interessanten These, dass die Scham eine "Quelle von Glück, Erkenntnis und Kultur" sei.

    "Es wäre schön, wenn es in diesem gerafften Überblick über ein ausschweifendes Thema gelingen würde, zumindest zwei Segnungen des Schamgefühls anzudeuten: Zum einen, wie man in der Annahme ihrer Zeichen unsere Freundlichkeit und unser Verständnis so verfeinern kann, dass wir einer souveräneren Lebensführung näherkommen. Zum anderen, wie gerade die Rebellion gegen Schambarrieren erst zu den größten Kulturleistungen führt, die wir Kohlewasserstoffeinheiten auf dem Planeten Erde zuwege bringen."

    Diese Zusammenfassung erfolgt am Ende des zweiten Kapitels, nachdem neben einem Parcours von Doping bis Kindstötung eine Serie von Komposita wie "Schamangst, Schamgewalt, Schamschmerz, Schambilder, Schamstrudel, Schamkonflikte" etc. geprägt wurde. Denn der Essay bietet mitnichten einen gerafften Überblick über ein quasi von selbst zur Ausschweifung neigendes Thema, sondern ausschweifende Assoziationen zu einem Begriff, der nach Raffung und Klärung ruft. Doch danach sucht man vergeblich, denn Briegleb hält sich lieber an den, wie er sagt, "praktischen Sprachgebrauch" ...

    "... wobei ich Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Gehemmtheit, peinliches Berührtsein, Verlegenheiten, depressive Lähmung und viele andere Schammasken in das Arsenal der Schamängste eingemeinde, durchaus bewusst, dass es viele kluge Autoren gibt und gab, die sich große Mühe gegeben haben, diese Sphären sorgsam auseinanderzuhalten."

    Statt die Arbeiten von Freud bis Niklas Luhmann, von Nietzsche bis Norbert Elias oder Foucault zu befragen, zitiert Briegleb eine Modetheorie, die auch seine Auffassung vom Menschen als "Kohlewasserstoffeinheit" erklärt. Scham, heißt es zu Beginn schlicht, sei ein "neuronales Phänomen".

    "So wie das Gehirn keine zentrale Kommandoeinheit besitzt, in der das Ich die Hebel schwingt, so tritt auch das Schamgefühl vermutlich viel eher als weitverzweigtes Netzwerk sich inspirierender Erlebnisimpulse auf, dessen Gesamtschwingung für unser Wohlbefinden viel entscheidender ist als eine mehr oder weniger aus der Fassung geratene Kerninstanz. Nicht die isolierte Instanz eines Ichs (oder wie Psychologie, Philosophie und Religion unser Bewusstsein sonst noch nennen) gilt es zu heilen, sondern einen Kosmos miteinander verbundener Erlebnisse und Erinnerungen von Verspannung und Gejammer zu befreien."

    Sobald sie auf diese Weise den Begriffswust legitimiert und eine Art Wohlfühldiskurs eröffnet hat, ist jedoch von der Neurophysiologie nicht mehr die Rede. Getreu der Beobachtung, dass sich Scham hinter vielfältigen Verhaltens- und Ausdrucksformen verbirgt, liefert Briegleb eine Phänomenologie der Scham von Schweißgeruch bis Singledasein, von Mundgeruch bis Sinn des Lebens. Dabei herrscht fast durchweg ein holpriger Nominalstil:

    "Der Mann, der sich zwischen mich und meine Freundin an den Tresen drängt (...), kann nur mit schweigendem Lächeln und Wegdrehen ein notwendiger Stich verpasst werden, der in der Wiederholung durch andere ihn vielleicht irgendwann zur Überprüfung der eigenen Zumutbarkeit nötigt."

    Zu den grammatischen Fehlern und semantischen Verwechslungen, etwa von "psychisch" mit "psychologisch", kommen laufend schiefe Bilder, vom "Wohl und Weh des Wohlbefindens" über den "Rohrstock verinnerlichter Sittsamkeit" bis zum "Martinshorn der Schwäche." Aus "Gründen für Verlegenheit" können schon einmal "verlegene Gründe" werden. Das sprachliche Hauptmerkmal sind jedoch seitenweise fleißige, oftmals in laue Satire kippende Aufzählungen.

    Wo diverse bekannte Theorien, etwa Angstbewältigung, Libidosublimierung oder soziale Herrschaftsinstrumente, erkannt werden, ortet Briegleb, zumal er eine trennscharfe Definition des Begriffs verweigert, die Scham in einem Zirkelschluss hinter allem, was er selbst zur Maske erklärt. Umgekehrt gilt ihm jede Lockerung der Scham, vom obligatorischen Humor in der Unterhaltungsindustrie bis zum fröhlichen Alltagskonsum von Pornografie, als Fortschritt in der geistigen Evolution der pluralistischen Gesellschaft. Für den Preis dieser Entwicklung ist der Autor allerdings nicht zuständig:

    "Wer aus solchen fatalen Zirkeln nicht selbst zu entkommen weiß, braucht vermutlich therapeutische Hilfe, um endlich davon befreit werden zu können. (...) Dies ist der Fall bei traumatischen Beschämungen, die hier nicht behandelt werden, da sie mehr ein Thema für therapeutische Untersuchungen sind."

    So beschäftigt sich Till Briegleb zwar durchaus mit der Medienindustrie, die den von Schamängsten geplagten Konsumenten mit Identitäsprothesen von Barbie-Girls bis zu Blockbuster-Killermaschinen versorgt, die wiederum ihre Scham – und damit ihre Sucht – perpetuieren. Doch solche Ausführungen münden regelmäßig in beschwichtigende Relativierungen:

    "Es geht hier nicht darum, die Traumproduktion einer Industrie verächtlich zu machen, die von Milliarden Menschen inklusive mir selbst wegen ihres Unterhaltungstalentes geliebt wird."

    Wie weiland Candide stapft der Autor sehenden Auges über die Schlachtfelder von medialer Verblödung und psychischer Verwahrlosung und singt dabei das Lied von der "besten aller Welten" – leider ohne Voltaires ätzenden satirischen Impuls. Kein Wunder, dass in dieser Feier des Status quo das Wort Tabu kaum vorkommt und das Wort Schamlosigkeit nur einmal – als Verdikt einer repressiven Moral. In einem Umkehrschluss, der Jahrzehnte kulturkritischer Theorie und Forschung ignoriert, wird jede Skepsis gegenüber dem neoliberalen Freiheitsbegriff als autoritäre Rückständigkeit denunziert. Der systematische Abbau des Schamgefühls vom obszönen Irrsinn der Finanzmärkte bis zur stillschweigenden weltweiten Akzeptanz der Folter als Mittel globaler Kriegführung erzeugt bei Briegleb keinen Denkansporn. Wer eine Wertschätzung der Scham erwartet, weil sie der Betäubung der Gefühle bei gleichzeitig entfesseltem Voyeurismus entgegenwirkt, sieht sich getäuscht – Brieglebs Credo lautet im Gegenteil:

    "...dass es für den Seelenfrieden ungemein nützlich ist, sich niemals wirklich festzulegen."

    Denn die moralische Unverbindlichkeit erweist sich als effizient im Sinn des kapitalistischen Sozialdarwinismus'.

    "Der Anspruch an die individuelle Selbstbestimmung, die der Daseinskampf ökonomisch-psychologischer Konkurrenten fordert, lässt verbindliche Werte nicht zu. Nur dann entwickelt unsere Gesellschaft ihre Dynamik im Sinne des Wachstums, wenn man den Wettbewerbern immer neue Argumente zugesteht, wie sie ihre Vorteilssuche legitimieren können."

    Till Brieglebs Lob der Scham verbrämt seine Ansicht, dass Scham ein willkommener Angstfaktor ist, der sich – als Störung wie als Kulturtechnik ihrer Überwindung – gewinnbringend im Sinn ökonomischer Verwertungszwecke instrumentalisieren lässt. In einer Bibliothek der Lebenskunst hat diese Rezeptur nur dann etwas zu suchen, wenn man unter Lebenskunst eine Mischung aus Wellnessanleitung und strategischer Motivationssteigerung versteht.

    Till Briegleb: Die diskrete Scham
    Insel-Bibliothek der Lebenskunst, Frankfurt 2009, 171 Seiten