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Scham, Schande, Sex und Tod

In seinem ersten Kinofilm "Hunger" beschrieb der britische Künstler Steve McQueen den Hungerstreik des Bobby Sands mit dem deutsch-irischen Schauspieler Michael Fassbender als IRA-Häftling. Nun hat Steve McQueen "Shame", wieder mit Fassbender in der Hauptrolle, gedreht - der in Venedig prompt den Darstellerpreis bekam.

29.02.2012
    Was bedeutet es, wenn ein, ja, inzwischen kann man sagen, wenn ein Weltstar nackt durchs Bild läuft, wir seinen Penis sehen? Ein Skandal? Nein, nicht mehr. Kultureller Zeitenwandel. Nackte, kopulierende Körper im Kino halten uns nicht mehr davon ab, einer Kinoerzählung zu folgen. Wir können dem sexsüchtigen Brandon alias Michael Fassbender in "Shame" zuschauen, wie wir dem verhungernden IRA-Häftling in "Hunger" zuschauten. Solange wir´s aushalten konnten, solange wir jetzt die Kälte von Brandons Welt aushalten können. "Shame" - Scham, auch Schande. Das schwingt mit im Leben dieses Mannes, der sich mit Sex die Welt vom Leib hält. Nur einmal bricht sein Panzer auf. Seine Schwester singt in einer Bar. Sissy, die bei ihm untergekrochen ist.

    "Kann ich bleiben."

    Die nervt.

    "Nur für ein paar Tage."

    Er wird sie nicht los. Sie ist an der Kante. Kurz vorm Absturz.

    "[Schwester:] Morgen! Netter Ohrring. Heißes Date? - [Brandon:] Saft? Würdest du ein Glas benutzen?"

    Immer an der Kante. Aber ist Brandon anders?

    "[Schwester:] Ich habe ein paar Auftritte? - [Brandon:] Ja, sicher!"

    Also, der Auftritt in einem Restaurant, den Sissy dann doch hat.

    Sissy - gespielt von Carey Mulligan - singt "New York, New York". Aber nicht als Sinatra-Big-Apple-Slogan-Song, sondern als Blues, in dem all der Schmerz aufscheint, den eine wie sie, aber eben auch einer wie er, Brandon, mitschleppt. Für einen Moment bricht sein Panzer auf; ihm kommen die Tränen. In der Intensität dieses Moments explodiert Steve McQueens "Shame" fast, weil all die unterdrückte Energie des Schmerzes kurz ein Ventil findet. Dann wischt Brandon schnell die Tränen weg.

    "[Brandon:] Du willst wissen, warum ich so sauer bin? Das ist mein Boss. Du schläfst mit ihm, nachdem du ihn zwanzig Minuten kennst. Jetzt rufst du ihn auch noch an, was ist nur los mit dir."

    Werbebranche New York. Viel Geld. Viel Leere. Sex füllt nichts auf, sondern wird zum Abwehrakt gegen Nähe. Brandon, gut situiert, erfolgreich, ist nicht, wird nicht befriedigt, nie! Dann kommt mit der Schwester eine Irritation in sein sex-starres Leben zwischen One-Night-Stands, Masturbation vor Internet-Porno-Websites und bezahlten Edelhuren. Was sind die Ursachen für Brandons Verhalten? Der Film liefert keine Antwort. Eine Figur wird nur gezeigt; wie sie ist. Halte das mal einer aus im Kino. Einfach zuschauen, aushalten. Einmal trifft Brandon eine Kollegin.

    "Also, gibt es momentan jemanden in deinem Leben? - Nein, gibt es nicht. Wie sieht es bei dir aus? - Nein!"

    Nein, um Himmels willen!

    "Ein Mensch für den Rest deines Lebens, das ist ..."

    Um Gottes willen, und Brandon wird sich seiner hübschen Kollegin auch nur halbherzig versuchen zu nähern.

    "[Kollegin:] Wie lang war deine längste Beziehung? - [Brandon:] Auf eine Beziehung musst du dich einlassen, sonst hat sie keine Chance. - Das habe ich. Vier Monate."

    Was folgt nach diesem Restaurant-Besuch: Brandon schläft nicht mit seiner Kollegin. Weit vor dem Koitus ein interruptus. Anziehen, weg! Danach sofort die Edelhure, endlich wieder der anonyme Sex - der Reiz dadurch erhöht, dass das nackte Paar es am Fenster des Wolkenkratzers treibt. Wer jetzt denkt, das sei erotisch, denkt falsch. Als Marlon Brando 1972 in Bertoluccis Meisterwerk "Der letzte Tango von Paris" hemmungslos die üppige Maria Schneider liebte, war für alle, die es sehen wollten, nicht der Sex der Skandal, das Schockierende, sondern die unfassbare Einsamkeit und Todessehnsucht, die die Figur des Amerikaners ergriffen hatte und ihn in den Tod trieb. Auch die Geschichte von Brandon, dem sexsüchtigen Mann aus der New Yorker Werbebranche, spielt mit Eros und Tod. Man bekommt den Eindruck, das Innere von Brandon stirbt in seiner Verpanzerung. Die psychisch labile Sissy, Brandons Schwester, ist nur eine Variation.

    "Brandon, ich brauche dich. Wir sind keine schlechten Menschen. Wir kommen nur von einem schlechten Ort."

    Sissy schafft es im Gegensatz zu Brandon nicht, den Schutzpanzer zu bauen. Deswegen findet sie Zugang zu ihren Pulsadern.

    Gibt es Erlösung? Gerne möchte ich Dylans "I shall be released" dazu hören. Musikalische Wunsch-Phantasie! Wie gerne würde ich Brandon das versichern - dieses "Any day now, any day now / I shall be released". Eines Tages. Die Erlösung nur, nüchtern gefragt: Bedeutet Brandons Zusammenbruch am Ende von "Shame" das Aufbrechen des Panzers? Oder geht es morgen weiter wie bisher? Klar wird das nicht! Open End! Das New York dieser Zeit, die Werbebranche dieser Welt, eiskalt. Aber damit ist diese Figur Brandon nicht "aus"erklärt.

    P. S. oder alles noch einmal in Kurzform: "Shame" ist auch ein Meisterwerk, weil dieser Michael Fassbender etwas Verstörendes vollbringt mit dieser Figur Brandon: Er stößt uns in ein Wechselbad aus Abstoßung und Mitgefühl, und zeigt uns einen leidenden Menschen.