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Schande

"Er weiß, daß er lügt, weiß, daß er schlecht ist, aber er ändert sich nicht. Er ändert sich nicht, weil er sich nicht ändern will. (...) Wenn er aufhören würde zu lügen, müßte er seine Schuhe putzen und höflich sein und alles tun, was normale Jungen tun. Dann wäre er nicht mehr er selbst. Wenn er nicht mehr er selbst wäre, was hätte das Leben dann noch für einen Sinn?" (J.M.Coetzee, Der Junge. Eine afrikanische Kindheit, Fischer-Verlag, Frankfurt/M., 1998, S. 45).

Tanya Lieske | 05.03.2000
    Schon als Heranwachsender hegte der Südafrikaner J.M. Coetzee ein Mißtrauen gegenüber der Sprache, das sich später in seinem preisgekrönten literarischen Werk wiederfinden sollte. Vor drei Jahren nahm sich Coetzee, Jahrgang 1940, die Zeit, seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Der oft kontrovers diskutierte Coetzee erwies sich nun als Angehöriger seiner Generation. Wie andere südafrikanische Schriftsteller auch, wie Nadine Gordimer, André Brink oder Breyten Breytenbach, gönnte Coetzee sich eine Ruhepause. Kindheitserinnerungen, Privates, eine Autobiografie, all das hatte vor dem Ende der Apartheid 1994 wenig Raum in der zeitgenössischen Literatur Südafrikas. Nun hat Coetzee, mit seinem neuen Roman "Schande”, auch einen ersten Roman vorgelegt, der erkennbar im Südafrika der Gegenwart spielt.

    Die Hauptfiguren sind David Lurie, ein Professor an der Universität Kapstadt und dessen Tochter Lucy, die auf einer Farm in der Provinz Ost-Kap lebt. In kleinen, überschaubaren Kapiteln agieren sie vor den Augen des Lesers, die Zeit verläuft geradlinig ohne nennenswerte Rückblenden, die Sprache ist zwar geschliffen, aber unprätentiös. Sollte Coetzee, der Mann, der 1974 mit seinen beiden Novellen "Duskland”, die literarische Moderne in Südafrika einläutete, nun einen naturalistischen Roman geschrieben haben? Die Antwort lautet nein. Womit auch gleich die Antwort auf die nächste Frage gegeben ist, warum Coetzees neuer Roman "Schande” nämlich trotzdem sein düsterstes und beunruhigendstes Buch ist. Die Leere, die es im Kopf und im Herzen seiner Leser erzeugt, ist nicht mehr das Resultat einer fernen Apokalypse wie der des Vietnamkriegs in "Duskland". Sie begründet sich im Handeln und im Reden von Figuren, die so von ihrer Normalität durchdrungen sind, daß sie unsere Nachbarn sein könnten.

    "Wenn er aufhören würde zu lügen, (...) dann wäre er nicht mehr er selbst. Wenn er nicht mehr er selbst wäre, was hätte das Leben dann noch für einen Sinn?"

    Diese Frage des jungen Coetzee ist ein zentrales Thema seines neuen Romans. Auch David Lurie weigert sich, zu lügen. Lurie fällt in Schande, wenigstens in den Augen der Öffentlichkeit. Er beginnt eine Affäre mit einer zwanzigjährigen Studentin, die ihn in der Folge wegen sexueller Nötigung anzeigt. Lurie muß sich vor einem Untersuchungsausschuß verantworten, der über Fälle von ethnischer, religiöser und geschlechtlicher Diskriminierung an der Universität berät. Der Leser ahnt, daß dieser Ausschuß ursprünglich ins Leben gerufen wurde, um die Rassentrennung an der Universität von Kapstadt zu beenden. Verglichen mit der Apartheid wirkt das Vergehen des David Lurie banal, trotzdem trägt er selbst zur Eskalation des Geschehens bei. Er stößt sich daran, daß der Untersuchungsausschuß nicht nur sein formales Schuldbekenntnis, sondern auch Reue fordert. Reue aber ist für Lurie nicht einklagbar. Er weigert sich, sie vorzutäuschen, und sei es um den Preis seiner Entlassung:

    "Er holt tief Luft. Ich bin mir sicher, daß die Mitglieder dieses Ausschusses Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als eine Geschichte aufzuwärmen, die unstrittig ist. Ich bekenne mich schuldig im Sinne beider Anklagepunkte. Fällen Sie das Urteil, und lassen Sie das Leben weitergehen.

    Hakim beugt sich zu Mathabane hinüber. Sie sprechen leise miteinander. "Professor Lurie”, sagt Hakim, "ich muß wiederholen, das ist ein Untersuchungsausschuß. (...) Er hat keine Vollmacht, Entscheidungen zu fällen. Ich frage noch einmal, wäre es nicht besser, wenn Sie sich von jemandem vertreten ließen, der unsere Vorgehensweise kennt?” "Ich brauche keine Vertretung. Ich kann meine Sache sehr gut selbst vertreten. Verstehe ich richtig, daß wir trotz meines Geständnisses mit der Anhörung fortfahren müssen? (...) Offen gesagt, will man von mir anscheinend keine Antwort, sondern eine Beichte. Nun, Ich lege keine Beichte ab. Ich mache eine Aussage, wie es mein Recht ist. Schuldig im Sinne der Anklage.”

    Der Vorsitzende des Ausschusses ist, seinem Namen Mathabane nach zu urteilen, ein Schwarzer. Der Vergleich mit der Versöhnungskommission des südafrikanischen Bischofs Tutu drängt sich auf. Im Unterschied zu Tutu und auch Mathabane hält David Lurie Reue nicht für eine zweckdienliche Kategorie im Umgang mit der Vergangenheit. Er bezieht eine ethisch rigorose Position, auch wenn die Folgen destruktiv sind. Lurie zerstört sein Leben, er fällt von einer gesellschaftlich hoch angesehenen Position ins Nichts.

    "Fallhöhe" ist tatsächlich ein Begriff, der hier angebracht ist, im Verlauf des Romans macht Coetzee weitere Anleihen bei Themen und Konstellationen der antiken Tragödie. Mit dem entscheidenden Unterschied, daß Lurie kein Held im klassischen Sinne ist. Coetzee hat wenig unternommen, um Sympathien für seine Hauptfigur zu wecken. Lurie ist zweifach geschieden, sich mit 52 Jahren der Verfallsprozesse seines Körpers schmerzlich bewußt und vorrangig damit beschäftigt, sein Triebleben zu regeln. Vor der Affäre mit der Studentin Melanie freite er donnerstags eine dunkelhäutige Prostituierte. Auch Melanie ist dunkel, dunkelhaarig, Meláni nennt Lurie sie in seinen Gedanken. Kaum wahrnehmbar schiebt sich ein altes Thema Coetzees unter den Text, der Kolonialismus in seiner ursprünglichsten Form, der Unterwerfung des Schwarzen durch den Weißen. David Lurie freilich findet diese Deutung absurd. Er sieht sich lieber, ganz klassisch in Rhetorik und Bildung und nicht frei von Selbstironie, als "Diener des Eros":

    "Er sieht sich wieder im Zimmer des Mädchens, in ihrem Schlafzimmer, und draußen regnet es in Strömen, und die Heizung in der Ecke riecht nach Paraffin, er kniet über ihr und schält sie aus den Sachen, während ihre Arme herabfallen wie die Arme einer Toten. Ich war Diener des Eros - das möchte er sagen, aber hat er die Unverschämtheit dazu? Ein Gott handelte durch mich. Welche Eitelkeit! Doch keine Lüge, nicht gänzlich. An der ganzen unglückseligen Geschichte war etwas Großzügiges, das sich mit aller Macht entfalten wollte. Wenn er bloß gewußt hätte, daß nur so wenig Zeit blieb!"

    Liebe und Alter, Eros und Tod, Political Correctness versus Pragmatisches Handeln: Man kann diesen ersten Erzählabschnitt als Exposition begreifen, in der Coetzee die zentralen Konflikte seines Romans ausbreitet. Hat David Lurie nicht nur korrekt, sondern auch klug gehandelt? Und ist die Wahrheit wirklich das höchste Gut, wichtiger noch als Gerechtigkeit? Man ahnt bereits, daß Coetzee diese Fragen, die dem Bereich der Ethik zugeordnet sind, zwar stellt, aber nicht beantworten wird. Statt sie aufzulösen, verdichtet er sie durch motivische und thematische Spiegelung.

    Nach seiner Suspension vom Dienst zieht Lurie sich in die Provinz Ost-Kap zurück, wo seine 25jährige Tochter Lucy allein in einer ehemaligen Hippiekommune lebt, sie züchtet Blumen und betreibt ein Hundeheim. Das Landleben verläuft zunächst friedlich, wenn auch wenig pastoral. Coetzee hält sich mit Schilderungen der sicher beeindruckenden Landschaft auffallend zurück, er beschränkt sich auf Details, den Staub, eine Entenfamilie, Blumen. Im Vordergrund steht die neue soziale Ordnung der Provinz. Lucys nächster Nachbar ist ein Schwarzer namens Petrus, der früher vielleicht ein Dienstbote, ein "Boy" gewesen war, oder ein "Bywoner", ein Pächter ohne Rechte.

    "Du könntest bei den Hunden helfen. Du könntest das Fleisch für die Hunde zerkleinern. Das ist mir immer schwergefallen. Dann gibt es noch Petrus. Petrus ist eifrig dabei, seinen eigenen Grund und Boden zu bewirtschaften. Du könntest ihm dabei helfen."

    "Petrus helfen. Das gefällt mir. Mir gefällt die historische Pikanterie daran. Wird er mir für meine Arbeit Lohn zahlen, was glaubst du?"

    Das neue Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß, das David Lurie zunächst noch zu süffisanten Scherzen veranlaßt, wird nach einem Spaziergang mit Lucy grausame Wirklichkeit. Sie begegnen drei fremden Männern, drei Schwarzen, die sie nach ihrer Rückkehr in Lucys Haus erwarten. Sie überfallen Vater und Tochter, gießen Brennspiritus auf Lurie, zünden ihn an und fügen ihm eine schwere Kopfverletzung zu. Sie vergewaltigen seine Tochter, plündern die Wohnung und stehlen sich mit dem Auto davon. Zu Luries Erstaunen, zu seiner Empörung, weigert sich Lucy, ihre Vergewaltigung der Polizei zu melden.

    "Du möchtest wissen, warum ich nicht eine bestimmte Anzeige bei der Polizei gemacht habe. Ich will es dir sagen, wenn du bereit bist, nicht wieder auf das Thema zurückzukommen. Der Grund ist der: aus meiner Sicht ist das, was mir zugestoßen ist, eine rein private Angelegenheit. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine."

    "Und dieser Ort wäre?"

    "Dieser Ort ist Südafrika."

    Lucys oberstes Ziel ist es, auf der Farm zu bleiben. In ihrer Schande, in ihrem Schweigen zu dem Verbrechen sieht sie einen Tribut, den sie an die Geschichte zu zahlen habe:

    "Wenn das nun der Preis ist, den man dafür zahlen muß, bleiben zu dürfen? Vielleicht sehen sie das so; vielleicht sollte ich das auch so sehen. Sie glauben, daß ich ihnen etwas schulde. Sie sehen sich als Schuldeneintreiber, Steuereintreiber.

    Lucy fällt nun, wie zuvor Mathabane, die Rolle der Pragmatikerin zu. Lurie hingegen fordert alles, was er einst ablehnte, er will Vergeltung, Recht, Gerechtigkeit. Die Geschichte wiederholt sich mit umgekehrten Vorzeichen, aus dem Täter ist ein Opfer geworden. Das erinnert wieder an die Gesetze der antiken Tragödie, doch ist die Historie an die Stelle eines sühnenden Gottes getreten. Auch Lurie kann sich mit diesem Konzept anfreunden, als Intellektueller, versteht sich, nicht als Vater:

    "Es ist gefährlich, etwas zu besitzen: Ein Auto, Schuhe, eine Schachtel Zigaretten. Es reicht nicht für alle, es gibt nicht genug Autos, Schuhe, Zigaretten. Zuviele Menschen, zuwenig Sachen. Was es gibt, muß in Umlauf gebracht werden, damit jeder die Chance hat, einen Tag lang glücklich zu sein. Das ist die Theorie; halte dich an die Theorie. Nicht menschliche Bosheit, nur ein gewaltiges Umverteilungssystem, für dessen Funktionieren Mitleid und Schrecken keine Rolle spielen. So muß man das Leben in diesem Land sehen - von der schematischen Seite. Autos, Schuhe; auch Frauen. Es muß eine Nische im System geben für Frauen und was mit ihnen geschieht."

    Es folgt ein Kräftemessen zwischen Vater und Tochter, das absurde Züge annimmt. Lucy hüllt sich nach dem Überfall in Schweigen. Brüsk verweigert sie alle Versuche des Vaters, ihr Leben zu ordnen, sie zur Polizei oder zum Arzt zu begleiten, sie mit sich zurück nach Kapstadt zu nehmen. Lucy trägt eine selbstauferlegte Bürde. Man erinnert sich daran, daß ihr Name auch der einer mittelalterlichen Märtyrerin ist. Das Motiv des geschändeten Kindes taucht in Coetzees Werk immer wieder auf. In "Duskland" beispielsweise versieht der Schreibtischtäter Dawn ein Foto von amerikanischen Soldaten, die ein vietnamesisches Mädchen vergewaltigen, mit der Bildunterschrift: "Vater verlustiert sich mit Kindern." Lucys Schicksal steht, wie das ihrer Vorgängerinnen, in Coetzees Bildsprache für die Perversion menschlicher Beziehungen, wie sie sich endgültig im Kolonialismus manifestiert. In "Schande" ist dieses Motiv allerdings nicht schlüssig. Lucys Weigerung, Konsequenzen aus ihrem Schicksal zu ziehen, kratzt nämlich an der Plausibilität des Romans. Anders gesagt, die allegorische Lesart arbeitet gegen eine realistische. In der Person des Petrus kulminieren diese gegensätzlichen Bewegungen. Als Nachbar, als Mensch hätte Petrus da sein müssen um Lucy zu beschützen. Als Schwarzer, als Nachfahre der Entrechteten, ist er vielleicht sogar Drahtzieher des Überfalls.

    Die schlimmste, die finsterste Interpretation wäre, daß Petrus die drei Männer angeheuert hätte, um Lucy eine Lehre zu erteilen, und sie mit der Beute bezahlt hätte. Aber er kann das nicht glauben, es wäre zu einfach. Die Wahrheit, vermutet er, ist in Wirklichkeit viel - er sucht nach dem richtigen Wort - anthropologischer; um ihr auf den Grund zu kommen, würde man Monate brauchen, Monate geduldiger, gemächlicher Gespräche mit Dutzenden von Leuten, und die Dienste eines Dolmetschers.

    David Lurie versucht, Petrus zur Rede zu stellen. Der Austausch zwischen ihm und Petrus gerät zu einer Studie in absurder Dialogführung. Petrus, der Befragte, reagiert durch Ausweichen, absichtliches Mißverstehen, Blockaden und Ablenkungen. Hinter den Gesprächen zwischen Lurie und Petrus tun sich nihilistische Textlöcher auf, eine Erinnerung daran, daß die Sprache auch in Luries Verständnis ein unzulängliches Medium ist.

    Aber kann man Petrus dafür schelten? Die Sprache, deren er sich so selbstverständlich bedient ist - wenn er es nur wüßte - verbraucht, mürbe, von innen her zerfressen wie von Termiten. Nur auf die einsilbigen Wörter ist noch Verlaß, und auch nicht auf alle. Was ist zu tun? Nichts was er, ehemaliger Lehrer der Kommunikations-wissenschaften, anzubieten weiß. "In dem Denouement, so wie es sich für Lucy darstellt, kommt diese nihilistische Maschinerie, die hinter den Kulissen des Textes versteckt war, zum Vorschein. Es stellt sich heraus, daß Lucy bei dem Überfall geschwängert wurde, trotz des Verbrechens will sie das Kind austragen. Ihr Nachbar Petrus bietet ihr einen Vertrag an, auf den sie eingeht: Sie wird, zumindest pro forma, seine Frau, seine dritte Frau, denn mit zwei Schwarzen ist Petrus schon verheiratet. Er will das Kind in seine Sippe aufnehmen, Lucys Land bewirtschaften, diese wird ein Mieter auf seinem Land, ein "Bywoner" in der alten Terminologie des Afrikaans. Schwarz und Weiß haben ihre Positionen vertauscht, ansonsten tritt die Geschichte auf der Stelle.

    "Wie demütigend", sagt er schließlich. "Solche großen Hoffnungen, und nun dieses Ende."

    "Ja, du hast recht, es ist demütigend. Aber vielleicht ist das eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang. Vielleicht muß ich das akzeptieren lernen. Von ganz unten anfangen. Mit nichts. Nicht mit nichts als. Mit nichts. Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde."

    "Wie ein Hund." - "Ja, wie ein Hund."

    Keiner weiß so gut wie David Lurie, wie die Hunde leben. Er hat einen Großteil seiner Zeit auf dem Land damit verbracht, einer Freundin von Lucy beim Einschläfern von streunenden und kranken Hunden zu helfen, ihre Kadaver fährt er selbst zur Verbrennungsanlage. Anders als Lucy wird Lurie die Möglichkeit der Sühne eingeräumt. David Lurie ist derjenige, der in diesem Roman die längste Wegstrecke zurücklegt, er erlebt eine Bewußtwerdung im weitesten Sinne.

    Warum hat er diese Aufgabe übernommen? (...) Den Hunden zuliebe? Aber die Hunde sind tot; und was bedeuten Ehre und Schande überhaupt für Hunde? Dann also für sich selbst. Für sein Konzept von der Welt, einer Welt, in der Männer nicht Schaufeln benutzen, um mit ihnen auf Tierleichen einzudreschen, damit sie bequemer weiterzuverarbeiten sind. (...). Seltsam, daß ein Mann, der so egoistisch ist wie er, sich dem Dienst an toten Hunden widmet. (...). Er rettet die Ehre von Tierleichen, weil kein anderer blöd genug ist, es zu tun. Das wird er nach und nach: blöd, bekloppt, verschroben."

    Nicht nur David Lurie, auch der Leser wundert sich, daß ein Mann, der so überzeugend als intellektueller Ästhet und Egomane eingeführt wurde, sich nun ausgerechnet mit Hundekadavern abplagt: Wieder steht der allegorische Überbau nicht ganz fest auf dem realistischen Fundament des Textes. J.M. Coetzee war in seiner Generation immer derjenige, der sich von der südafrikanischen Tagespolitik am weitesten distanziert hat. Sein Mißtrauen gegenüber realistischen Erzählformen hat er einmal so begründet: Er wolle keinen Roman, der zu Schlußfolgerungen komme, die von der Geschichte kontrolliert werden könnten. "Schande" gereicht genau das zum Nachteil, gemessen an den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sind weder Lurie noch Lucy reale Personen. Mit dieser einen Einschränkung ist "Schande" ein herausragender Roman. In seiner Vielschichtigkeit, in seiner beherrschten und kontrollierten Sprache hat er etwas von der kühlen Schönheit einer Wunderwaffe. Und wie eine Wunderwaffe läßt "Schande" den Leser mit der Erkenntnis zurück, daß diese Welt ein unvollkommener Ort ist: Zu unvollkommen jedenfalls für die vielen Ideen, die die Menschen bewegen.