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Scharfe Kritik an Israel

Der Krieg in Gaza wirkt sich bis nach Ankara aus, denn die Türkei gehört zu den wenigen Staaten, die zu allen Regierungen und Parteien im Nahen Osten diplomatische Beziehungen unterhält. Der türkische Premier Erdogan hat sich seit dem Beginn der Luftangriffe um eine Waffenruhe bemüht. Als aber Israel seine Bodenoffensive begann, fühlte er sich vor den Kopf gestoßen, und seine gemäßigten Töne sind scharfer Kritik gewichen.

Von Gunnar Köhne |
    "Israel trägt die Verantwortung für ein menschliches Drama. Doch die vielen Kinder und Frauen werden nicht umsonst gestorben sein. Ihre Tränen werden nicht umsonst vergossen sein. Die Peiniger werden am Ende in dem Meer aus Tränen ertrinken!"

    Wenn der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen Tagen auf den Gaza-Streifen zu sprechen kam, trauten viele ihren Ohren nicht. Redet so der Vertreter des engsten Verbündeten Israels in der Region?

    Die Kooperation beider Länder im Militärbereich ist eng, in der Bekämpfung des Terrors fühlt man sich strategisch verbunden, und außerdem sind beide Staaten besorgt über das iranische Atomprogramm. Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Israel hat sich in wenigen Jahren auf über 1,5 Milliarden Euro verzehnfacht.

    Vier Tage vor Beginn der Offensive gegen die Hamas war Israels Ministerpräsident Olmert noch zu Gast in Ankara und soll dabei Erdogan versichert haben, keine Strafaktion größeren Ausmaßes gegen die Hamas zu planen. Hier liegt wohl der tiefere Grund für Erdogans Empörung: Der türkische Premier fühlt sich von Israel hintergangen und um die Früchte seiner Friedensbemühungen gebracht - schließlich war es Erdogan durch monatelange geheime Kontakte gelungen, indirekte Gespräche zwischen Syrien und Israel aufzubauen.

    Außenminister Ali Babacan macht klar, dass sein Land an diesem Friedensprojekt vorerst nicht mehr weiter arbeiten werde:

    "Gegen die Palästinenser Krieg führen und gleichzeitig mit den Syrern indirekt über Frieden verhandeln, das geht wohl nicht recht zusammen. Unter solchen Bedingungen können wir die Gespräche nicht fortsetzen."

    Zehntausende demonstrierten seit Beginn der israelischen Offensive in der ganzen Türkei gegen den Krieg. Meist standen radikale islamistische Gruppen dahinter. Verflucht sei Israel schallte es vergangenes Wochenende über den zentralen Istanbuler Caglayan-Platz. Umfragen zeigen, dass die Israelfeindliche Stimmung in der Bevölkerung so groß ist wie nie zuvor. Stimmen auf Istanbuls Strassen:

    "Ich werde in Zukunft alles boykottieren, das aus Israel kommt. Die Türkei sollte jetzt mit anderen muslimischen Ländern gemeinsam gegen Israel stehen!"

    "Das ist ja nicht das erste Mal. In den letzten Jahren haben die Israelis sich außerhalb der zivilisierten Nationen gestellt!"

    Erst seit der Regierungsübernahme der gemäßigt religiösen Partei für "Gerechtigkeit und Entwicklung" vor sechs Jahren zeigt die Türkei überhaupt Interesse für den Nahen Osten. Neu im Amt suchte Ministerpräsident Tayyip Erdogan Kontakt zu Syrien - mit dem die Türkei 1999 beinahe einen Krieg geführt hätte, weil der PKK-Führer Abdullah Öcalan in Damaskus untergetaucht war. Und Erdogan verbesserte die Beziehungen zm Iran - ohne die zu Israel zu vernachlässigen.

    Anfang der Woche raunzte der Premier einen saudischen Journalisten an, der ihn nach dem Grund gefragt hatte, warum sich die Türkei ausgerechnet jetzt für den Nahen Osten zu interessieren beginne. Sein Land habe eine Jahrhunderte lange Verbundenheit mit und trage eine historische Verantwortung für die Region. Nie zuvor hatte ein türkischer Regierungschef so positiv Bezug auf das koloniale Erbe der Osmanenzeit genommen.

    Mit der Unabhängigkeit der arabischen Kolonien vom Osmanischen Reich und der Niederlage der Türkei im Ersten Weltkrieg waren die Beziehungen zwischen der Türkei und den arabischen Nachbarn praktisch abgebrochen. Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk verordnete seinem Land einen strikten Westkurs. Nahezu alles, was die Türkei mit den arabischen Nachbarn verband, wurde beseitigt: Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt, das Kalifat abgeschafft und der Laizismus - die strikte Trennung zwischen Staat und Religion - zur Staatsdoktrin erhoben. Man sich den Arabern überlegen fühlen, sagt die Istanbuler Nahost-Expertin Nuray Mert:

    "Die Türken haben immer verzweifelt versucht, eine westliche Identität zu erreichen. Wegen dieser Identitätskrise vor allem hat es mit den arabischen Nachbarn bislang keine besseren Beziehungen gegeben, nicht einmal auf kultureller Ebene. Alles Arabische, Östliche und Islamische erinnert die Türken an die eigenen muslimisch-östlichen Wurzeln, die sie so sehr zu ignorieren versuchen."

    Heute besitzt die Türkei nahezu gleich gute Beziehungen zu allen Staaten des Nahen Ostens: So rutschte Ankara immer mehr in die Rolle eines idealen Vermittlers zwischen Ost und West, islamischer und westlicher Welt. Dass eine europäische Türkei eine Brücke zwischen Europa und dem Nahen Osten wäre, und damit den befürchteten "Zusammenprall der Kulturen" verhindern könnte, das gehört bis heute zu den wichtigsten Argumenten der Türkei-Freunde innerhalb der EU.

    Der amerikanische Ex-Diplomat Richard Holbrooke vergleicht die Rolle der Türkei gar mit der Deutschlands während des Kalten Krieges. Doch kann die Türkei diese Erwartungen erfüllen? Gibt es überhaupt eine eigenständige türkische Nahostpolitik? Der irakisch-stämmige Politologe Ibrahim Al-Marashi, der an einer Istanbuler Universität lehrt, sieht Ankara erst am Anfang:

    "Die Türkei hat immer versucht, sich aus dem Nahen Osten herauszuhalten. Erst mit Beginn des Irak-Krieges gab es ein Umdenken - hin zu aktivem Engagement im Mittleren Osten. Am Anfang stand die Erkenntnis der Türken, dass alles, was im Irak oder anderswo im Nahen Osten passiert, sie am Ende selbst betreffen könnte. Auf diesem Hintergrund fiel zum Beispiel die Entscheidung, sich an der Friedenstruppe im Libanon zu beteiligen - etwas ganz Neues. Immer wieder hat sich die Türkei als Vermittler angeboten - ob im israelisch-palästinensischen Konflikt oder im Konflikt zwischen dem Iran und dem Westen in der Atomfrage. Das alles sehe ich als Anfänge einer eigenständigen, konsistenten Nahost-Politik Ankaras."

    Für radikale Islamisten im Iran oder den arabischen Ländern sind die Türken immer noch Abtrünnige beziehungsweise Nachkommen der osmanischen Unterdrücker. Moderne Kreise der arabischen und persischen Gesellschaft dagegen entdecken die Türkei als Vorbild: Ein zu 99 Prozent muslimisches Land, jedoch mit einer Demokratie nach westlichem Vorbild. Der Annäherungsprozess an die Europäische Union wird dort mit misstrauischem Interesse verfolgt, hat Ibrahim Al-Marashi beobachtet:

    "Unter arabischen Intellektuellen gibt es für dieses Thema durchaus großes Interesse. Die westlichen Beteuerungen, es gäbe keinen Zusammenprall der Kulturen, wird am Beispiel der Türkei kritisch überprüft. Sollte die Türkei tatsächlich in die EU aufgenommen werden, dann würden diese alten Trenngräben an Bedeutung verlieren."

    Mit den säkularen, demokratischen Kräften im Nahen Osten sollte man sich solidarisieren, nicht mit den Radikalen, mahnen denn auch zahlreiche Stimmen in der Türkei angesichts der heftigen Ausfälle Erdogans gegen Israel. Der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung "Radikal" warnt, die Solidarität mit dem palästinensischen Volk müsse bei der Hamas aufhören. Und sein Kollege Türker Alpan fragt, warum ausgerechnet die Türkei sich in diesem Konflikt radikaler äußere als die meisten Araber.

    "Sollen wir etwa bei dem nächsten Nahost-Konflikt gegen Israel in den Krieg ziehen?"