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Scharons Politik der einseitigen Schritte

Nach Ansicht des Politologen Volker Perthes hatte die von Scharon erst vor kurzem gegründete Partei Kadima bislang nur ein Projekt und zwar die Vervollständigung der Politik des einseitigen Abzugs der Israelis aus den besetzten Gebieten. Scharon habe eingesehen, dass Israel letztendlich den größten Teil der besetzten Gebiete wird aufgeben müssen, wollte dies jedoch ohne Verhandlungen mit den Palästinensern erreichen.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 06.01.2006
    Dirk-Oliver Heckmann: Was bedeutet das absehbare Ausscheiden von Ariel Scharon aus der israelischen Politik? Darüber wollen wir sprechen mit Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Perthes, blicken wir zunächst in die israelische Innenpolitik: Ende März sollen Wahlen abgehalten werden. Welche Folgen wird das Ausscheiden Scharons für deren Ausgang aus Ihrer Sicht haben?

    Volker Perthes: Das ist noch schwer hervorzusagen. Es ist sicherlich gut, dass es Wahlen gibt, damit dann auch relativ bald eine gewählte israelische Regierung, ein gewählter israelischer Ministerpräsident in Position ist. Ich würde mal davon ausgehen - aber das ist natürlich noch reine Spekulation -, dass die Partei Kadima, die Scharon vor kurzem gegründet hat mit mehreren Handvoll Getreuer, dass diese Partei schlechter abschneiden wird ohne Scharon als sie mit Scharon abschneiden würden, dass der alte Likud mit Netanjahu ein wenig hinzugewinnen wird, aber immer noch weit abgeschlagen bleibt und dass die Arbeitspartei unter Amir Peretz deutlich dazugewinnen kann, aber wahrscheinlich noch nicht so viel bekommt wie Kadima, also wie die Partei Scharons. Und ich gehe davon aus, dass - wenn diese Partei sich nicht heillos zerstreitet über die Frage, wer die Partei nach Scharon führen darf und führen wird -, dass sie dann in den Wahlkampf gehen wird mit einem Slogan, der etwa heißt: Wir wollen das Werk und die Agenda von Ariel Scharon vervollständigen.

    Heckmann: In den Wahlkampf gehen wird mit Ehud Olmert, der ja das Amt derzeit geschäftsführend innehat?

    Perthes: Das könnte mit Ehud Olmert sein. Aber Ehud Olmert hat natürlich nicht das Charisma, was Ariel Scharon gehabt hat. Ariel Scharon ist jemand, wo man immer eine emotionale Position zu haben konnte - ablehnend oder zustimmend. Er hat ganz heiße Gegner gehabt und er hat ganz heiße Unterstützer gehabt. Olmert ist eher in einer Position, wo Menschen, wo Wähler in Israel keine Emotionen entwickeln. Er hat selber nicht das Charisma eines Führers. Insofern wird es hier Herausforderer geben. Dazu dürfte der amtierende Verteidigungsminister Schaul Mofas gehören. Dazu dürfte möglicherweise auch Schimon Peres, der frühere Arbeitsparteiführer, gehören. Dazu könnten aber auch andere Menschen aus Kadima, wie etwa die Justizministerin, Frau Livni, gehören.

    Heckmann: Möglicherweise könnte Schimon Peres zu den Herausforderern gehören, sagten Sie. Laut einer Blitzumfrage einer israelischen Zeitung könnte Kadima unter Peres sogar 42 Sitze gewinnen, also mehr als unter Olmert. Das heißt: Könnte Schimon Peres da vor einem Comeback stehen?

    Perthes: Schimon Peres wird das sicherlich so sehen. Und er wird sich auf solche Umfragen berufen. Nun, er ist, Schimon Peres, nicht gerade dafür bekannt, dass er Wahlen gewinnt - er hat bisher noch jede Wahl verloren, bei denen er angetreten ist. Und zunehmend ist den Israelis, natürlich auch denen, die sagen, dass Schimon Peres eigentlich das richtige Programm hat und dass man ihm zutraut, den Kurs von Scharon zu vervollständigen, zunehmend ist den Israelis natürlich auch deutlich, wie alt Schimon Peres tatsächlich ist, nämlich fünf Jahre älter als Ariel Scharon.

    Heckmann: Aber ist das Programm nicht gerade das Problem bei der neuen Partei Kadima? Im Prinzip hat sie ja eigentlich kein vollständiges gültiges Programm.

    Perthes: Sie hat ein Projekt und das war das Projekt Scharon. Das war die Vervollständigung der unilateralen Schritte in Richtung auf eine Beilegung des Konfliktes zwischen den Israelis und den Palästinensern. Also ein anderes Projekt als das Projekt der Arbeitspartei unter Amir Peretz, auch ein anderes Projekt als Schimon Peres das früher gehabt hat, was nämlich hieß: Durch Verhandlungen in einem Friedensprozess zum Frieden zu kommen. Das Projekt Scharon hieß: Ja, wir werden territoriale Konzessionen machen müssen, wir werden letztlich wahrscheinlich - das hat er so deutlich nicht ausgesprochen, allenfalls Herr Olmert hat das ausgesprochen -, wir werden letztlich wohl den größten Teil der besetzten Gebiete aufgeben müssen, aber wir entscheiden darüber selbst, wir machen das unilateral, wir bauen auch eine Mauer, um uns abzugrenzen von den Palästinensern, und wir stellen die israelische Sicherheit über alle anderen Konsiderationen, die Frage der Verhandlungen oder des Wohlergehens der Palästinenser sind für uns zweitrangig.

    Heckmann: Das heißt, Sie rechnen damit, dass dieser Kurs des einseitigen Vorgehens auch unter einem Nachfolger von Scharon fortgesetzt wird?

    Perthes: Jedenfalls wäre das das Projekt der Kadima-Partei. Das ist der gemeinsame Nenner, auf den sich diejenigen einigen können, die mit Scharon zu Kadima gekommen sind. Was es dafür braucht natürlich, um ein solches Projekt nicht nur zu haben, sondern auch durchzusetzen, ist ein politischer Führer, der von sich aus eine sehr breite Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit hinter dem Projekt mobilisieren kann - unabhängig davon, ob sie ihn auch wählen würden oder nicht. Und das konnte Scharon. Das kann möglicherweise keiner der Nachfolger. Um es anders zu formulieren: Ein Herr Olmert oder auch ein Herr Peres oder ein Herr Mofas brauchten, um das gleiche Projekt umzusetzen, eine sehr viel breitere parlamentarische Mehrheit als Scharon das gebraucht hätte, der beim Gaza-Abzug gezeigt hat, dass er auch entscheidende Schritte mit einer sehr knappen Mehrheit in der Knesset durchsetzen kann.

    Heckmann: Das heißt, Sie würden es auch als sehr skeptisch sehen, dass es nach Scharon zu einem wirklichen großen Wurf im Friedensprozess mit den Palästinensern kommen könnte, nachdem die Reizfigur Scharon dann ja abgetreten sein wird von der politischen Bühne?

    Perthes: Kurzfristig, glaube ich, wird sich eher wenig bewegen. Mittelfristig und langfristig ist es so, dass wir hier natürlich strukturelle Veränderungen in Israel und im Nahen Osten haben, die Scharon erkannt hat und auf deren Grundlage er agiert hat - und die auch erhalten bleiben werden. Das sind im Wesentlichen zwei Dinge: Auf der einen Seite die Veränderung der israelischen Gesellschaft selbst, wo nicht mehr der Pioniergeist der 50er und 60er Jahre herrscht, also der Geist der Generation, die von Leuten wie Scharon und Peres bestimmt worden ist. Die jungen Israelis haben sich daran gewöhnt, dass man vom Durchschnittseinkommen eher einem europäischen Staat vergleichbar ist und sie wollen auch so leben wie Jugendliche in Europa. Also in Frieden. Und sie wollen konsumieren. Sie wollen nicht ständig sozusagen unter Ausnahmezustand leben. Und die zweite strukturelle Veränderung, das sind die demografischen Entwicklungen. Wenn Israel an den besetzten Gebieten festhält, wird es in einigen Jahren keine jüdische Mehrheit in dem von Israel kontrollierten Gebiet - also Israel plus besetzte Gebiete - geben. Und dies widerspricht natürlich dem zionistischen Projekt eines jüdischen demokratischen Staates. Dies hat Scharon erkannt, diese demografische Bedrohung, wie man in Israel nennt, ist sicherlich einer der entscheidenden Faktoren für ihn gewesen, zu sagen: Wir müssen uns von den besetzten Gebieten, jedenfalls vom größten Teil der palästinensischen, besetzten Gebiete trennen. Diese strukturellen Entwicklungen gehen ja nicht weg mit dem Ausscheiden Scharons. Sie werden dableiben. Und sie werden mittelfristig sicherlich auch dazu führen, dass es weiter eine Mehrheit gibt, und auch die politischen Führer in Israel gibt, die ein darauf basiertes Projekt umsetzen. Aber ich befürchte, mit dem Ausscheiden von Scharon mit seinem Charisma und seiner Energie wird das einige Zeit dauern, bis das politische Lager sich wieder so austariert hat in Israel, dass solche Entscheidungen auch getroffen werden können.