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Schatzkammer Ozean

Eine Postkarte aus dem Jahr 1910. Ein weißbärtiger Fischer steht da, hält stolz die Bauchflosse eines Heilbutts in der Hand, der schwer an einem massiven Haken hängt. Darunter steht: "123 Kilogramm Heilbutt, gefangen in Princetown, Massachusetts". Ein Fisch, schwer wie fünf Zementsäcke und doppelt so groß und so breit wie der Mann selbst. Ein anderes Bild zeigt einen Fischer aus Maine mit einem Kabeljau, der ihm bis zur Schulter reicht. Und obwohl die Fotografie schon lange verblichen ist, scheint das tischtennisballgroße Fischauge immer noch zu leuchten.

Von Darlene T. Crist, Gail Scowcroft, James M. Harding | 11.07.2010
    Heute staunen wir über solche Fänge, aber es sind sind doch schon Bilder aus der Zeit des Niedergangs, denn anscheinend hat der Mensch schon mit sehr einfachen Mitteln im Meer einen beträchtlichen Schaden angerichtet. Das war in Südostasien nicht anders als in Neuseeland, an der Ostküste Nordamerikas oder in der Nordsee.

    Die Bestimmung der Stunde Null, zu der die Meere noch als natürlich gelten können, war eine der Aufgabe, die sich die Wissenschaftler für den Meereszensus (CoML - Census of Marine Life) gestellt haben. Schließlich untersucht die Volkszählung der Ozeane nicht nur, wer heute in den Meeren lebt, sondern auch, wer früher darin geschwommen ist. So fanden die Forscher für das Wattenmeer heraus, dass das Jahr 1850, das derzeit als Maßstab für ein "natürliches" Ökosystem herangezogen wird, der falsche Maßstab ist, obwohl sich daran das Monitoringprogramm und die Managementplanungen ausrichten.

    Die Übernutzung des Wattenmeers setzte wohl schon vor mindestens 500 Jahren ein. Davor reinigten reiche Muschel- und Austernbestände das Wasser. Heute ist von ihnen so gut wie nichts mehr übrig - und damit ist es vorbei mit der Selbstreinigungskraft. Dazu kommt die Überdüngung, die der Nordsee seit 100 Jahren zu schaffen macht. Deshalb ist das Wasser viel trüber als einst, toxische Algenblüten sind häufiger und fremde Arten haben ein leichtes Spiel in das kränkelnde Ökosystem Wattenmeer einzuwandern. Es geht bergab.

    Diese traurige Feststellung ist nur ein Beispiel aus den vielen Informationen, die das Buch "Schatzkammer Ozean - Volkszählung in den Weltmeeren" bietet. Dieses Buch ist das Ergebnis von zehn Jahren Forschung, an der rund 2000 Forscher von verschiedenen Fachrichtungen teilnahmen und die in diesem Jahr zu Ende geht. Wenigstens ein Teil der zahllosen Erkenntnisse aus zehn Jahren Arbeit haben Darlene Crist und ihre Kollegen zusammengestellt.

    Drei große Abschnitte behandeln die Vergangenheit der Ozeane, Gegenwart und ihre Zukunft, die übrigens gar nicht so schwarz sein müsste, wie es manchmal scheint - jedenfalls wenn der Mensch lernt, und das ist eine wichtige Einschränkung. Optisch ist das Buch mit seinen vielen Fotografien eine Augenweide. Es ist eine Auswahl der bizarrsten, schönsten, exotischsten oder beeindruckendsten Wesen der Meere. Dazu kommen historische Fotografien und Karten und Bilder von Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit. Was den Text angeht, ist schade, dass des öfteren schlicht und einfach die Pressemitteilungen des Projekts "recycelt" wurden, ebenso wie etliche Texte aus dem Internetauftritt der einzelnen Projekte. Außerdem glänzen manche der Aufsätze, die die Wissenschaftler zugeliefert haben, durch ihre leblose Fachsprache, die nicht notwendig gewesen wäre.

    Aber abschrecken von diesen etwas lieblosen Passagen sollte sich ein Leser nun wirklich nicht. Das Projekt an sich ist genauso spannend wie die Mondreise in den 1960er Jahren. Außerdem gibt es immer wieder faszinierende Passagen, etwa, wenn es um das seltsame Verhalten der Weißen Haie im Pazifik geht. Um mehr über diese bedrohten Tiere zu erfahren, hatten Wissenschaftler sie mit Sendern versehen. Diese Biologger verrieten, dass sie sich auf halbem Weg zwischen Hawaii und Kalifornien in einer Art Haicafé versammeln. Dort ist das Meer allerdings nährstoffarm, im Grunde eine "blaue Wüste", wo es kaum etwas zu fressen gibt. Trotzdem verbringen die Weißen Haie Jahr für Jahr viel Zeit dort - mitten im Ozean. Nur warum? Vielleicht suchen sie sich ihre Partner aus? Jedenfalls steht das Hai-Café jetzt im Zentrum des Forscherinteresses.

    "Schatzkammer Ozean" ist ein spannendes Buch, das Einblicke in die ansonsten unsichtbare Welt unter den Wellen bietet. Wer es liest, begreift, wie groß die Zerstörung ist, die die Menschheit bereits in den Meeren angerichtet hat - und was noch verschwinden könnte, wenn sich nichts ändert. Das Meer aber ist wichtig für die Menschen, und vielleicht hilft dieses Buch, dass ein paar mehr Konsumenten bereit sind, diesen spektakulären Lebensraum zu schützen.

    [Besprochen von Dagmar Röhrlich]

    Darlene T. Crist, Gail Scowcroft, James M. Harding: Schatzkammer Ozean. Volkszählung in den Weltmeeren
    ISBN: 978-3-8274-2371-9
    Spektrum Akademischer Verlag, 244 Seiten, 39,95 EUR