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Schaubühne im Sommerklima

Den Europäern ist, so sagte der Alt-Philologe Heinz Wismann in Avignon, gemein, das sich Ihre Kultur durch eine beständige Wiederaneignung alter Texte auszeichne, die Geschichte des Geschriebenen also für den Entwurf einer stets neu zu gewinnenden Zukunft herangezogen werde, woraus sich, als europäischer Besonderheit eine Serie von Renaissancen ergebe. Auf dem ersten Podium des neu ins Programm genommenen "Théâtre des Idées" im völlig neu konzipierten Festival d'Avignon, machte dieser Einwurf Jacques Derridas Formel vom "neuen alten Europa" plausibel, die Derrida in Avignon vorstellte.

Von Eberhard Spreng |
    Als Thomas Ostermeier und Vincent Baudriller das Konzept dieses "Festival d'Avignon" konzipierten, hatten die USA ihren Irakfeldzug im Blick und ihre Schmähreden Europa zugeworfen. Wieder einmal - und das hat in Avignon Tradition - soll jetzt das Geschehen auf der Bühne ins große politisch-historische Konzept passen, in dem Avignon, das große und großmäulige Festival immer irgendwie mitreden will. Gerne hätte man, wenn der deutsche Schwerpunkt irgendwie auch als kulturelles Unterpfand der neuen deutsch-französischen Achse herhalten könnte, zumal der deutsche Woyzeck, in deutscher Sprache im Papstpalast, der Theaterkathedrale des französischen Schauspiels, einen mutigen Bruch mit Traditionen darstellt.

    Viel Symbolik, wenig Kunst: Ostermeiers im Lokalkolorit halbversumpfter Woyzeck und Castorfs bilder-verwirrtes "Kokain" fürs französische Publikum hochzuschreiben, fiel selbst den eingefleischtesten Germanophilen in der französischen Theaterkritik schwer. Dem Publikum hat's gleichwohl einigermaßen gefallen: Die brutale, heftige, proletarisierte Ästhetik der Deutschen wollen die Franzosen gerne akzeptieren, wenn sie denn auch politische Botschaften mit transportiert. Sie, deren Theater immer schon eine größere formale Strenge auszeichnete - und auch dieses Jahr bestätigt diese Tradition - nehmen die deutschen Beträge zur europäischen Theaterästhetik dann auch gerne als Dokumente des puren, kräftigen, und eben auch hässlichen Menschseins. Mit 1500 Kilometern Entfernung zu Berlin lassen sich Gemeinsamkeiten sogar zwischen Castorf und Ostermeier erkennen. Vincent Baudriller, einer der beiden neuen Direktoren des Festivals, versteht die gemeinsame Einladung der in Berlin verfeindeten Theaterchefs als politisches Zeichen.

    Dieses Festivaljahr hat mir bislang zwei große emotionale Höhepunkte beschert: Als wir zu einem Vorbereitungstreffen Anfang April in Berlin waren, war die Stimmung zwischen Castorf und Ostermeier, die ja auch für Theatertraditionen in Ost und West stehen, ziemlich geladen. Hier in Avignon, gingen die beiden am Ende eines Premierenfestes fast schon Arm in Arm von dannen. Ein schönes, bewegendes Bild für die Geschichte Europas und Berlins. Ein Versöhnungssymbol, und das soll Avignon 2004 auch auszeichnen.
    Es ist merkwürdig, aber wieder einmal macht die Sommertheaterschau in der mittelalterlichen Rhonestadt ihre traditionellen Versprechen wahr: Im milden Sommerklima heilen die Wunden, in einem Klima einer humanistischen, toleranten, irgendwie auf Solidarität, Gemeinsamkeit und Austausch abzielenden Grundstimmung. Und auch die "Intermittents du Spectacles", die das Festival im letzten Jahr zu Fall brachten, stellen zu Beginn der Aufführungen ihre Forderungen vor, lassen aber keine Aufführung scheitern. Avignon beginnt wieder kulturpolitisch in einer Polyphonie der Solidaritätsbekundungen, in denen von den Philosophen über die Künstler bis zu den Kulturpolitikern alle gerne die "Exception Culturelle" des alten Kontinents betonen, auch wenn noch keiner weiß, wie man eine auf 25 Länder erweiterte EU mit einem auf 15 zugeschnittenen Kulturbudget kulturell hoch leben lassen kann.

    Frankreich könnte politisch und ästhetisch hierbei ein Vorreiter bleiben. Auch wenn man allenthalben die Produktionspower des deutsche Ensembletheater lobt, wird im direkten Vergleich doch immer wieder auch die französische Texttreue, Ausdifferenzierung der Formen, Genauigkeit der Regie, mitunter zugunsten eines gewissen verstaubten Akademismus deutlich. Es wehrt sich nicht nur mit seiner Theaterkünstler- und Technikerbewegung gegen die kommerzielle Herrschaft von Bild und Spektakel. Zum Beispiel in den Inszenierungen des Lodovic Lagarde, der in einem Tryptichon ein Stück der Gertrude Stein aus der Okkupationszeit, mit zwei Stücken von Olivier Cadiot in Verbindung bringt, und als musikalisch genau durchkomponierte Salonstücke inszeniert. Ebenso wie Frédéric Fisbachs "Illusion Comique" von Corneille zeugt dieses Theater von dem ungebeugten Glauben in die Kraft der ästhetischen Strenge und Beschränkungen der Mittel.

    In der deutsch-französischen Theaterbegegnung kommt der bislang klügste Kommentar zur fatalen Macht der Bilder vom Flamen Jan Fabre. Sein "Ange de la Mort" ist ein furioses Tanzsolo mit Ivana Jozic, die auf einem kleinen Podest, umgeben von vier Videoleinwänden, auf denen der in einem Naturkundemuseum aufgenommene William Forsythe zu sehen ist, als Geist, als Prophet. Wir erleben die getanzte Rückkehr aus dem Reich der Toten: Aus der Unförmigkeit einer kreatürlichen Bewegungssprache hin zu humanen Konventionen. Wenn Ivana Jozic die Körpersprache Marylin Monroes erreicht hat, ist ihr neuer Tod als Bildgewordenes Leben perfekt. Jan Fabre ist nächstes Jahr "Artiste Associé" für das Programm in Avignon, die Flamen scheinen, einige Jahrhunderte nach van Eyck den Schlüssel für die Auflösung der Bilder- und Todesgeheimnisse in Händen zu Halten; auf 2005 man darf sich also jetzt schon freuen.