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Schauplatz der Hoffnungslosigkeit

Für seine Leser ist dieser kürzlich auf Deutsch erschienene Roman eine Expedition zu einem Schauplatz der Hoffnungslosigkeit. Er spielt Mitte der 90er Jahre in Marokko. Noch regiert König Hassan der II das nordafrikanische Land. Nach seinem Tod - 1999 - wird seine Regentschaft als "Marokkos bleierne Jahre" in die Geschichte eingehen. Eine Zeit, in der Tausende Oppositionelle spurlos verschwanden oder in Wüstenlagern des Militärs gequält - offiziell hieß es "umerzogen" wurden.

Von Brigitte Neumann |
    Auch der Autor Tahar Ben Jelloun war eineinhalb Jahre in einem solchen Lager interniert, bevor er 1971 nach Frankreich ausreiste und in Paris Psychologie studierte.

    Sein Roman "Verlassen" zeichnet die Stimmung in der Hafenstadt Tanger nach, wie sie vor zehn Jahren noch gewesen sein mag: Für die jungen Leute gibt es keine Jobs, die Polizei ist korrupt, die Mafia der Schlepper ist mächtig, die Islamisten rekrutieren emsig Kämpfer für ihren Dschihad. Und aus der Wüste kommt ein stetiger Strom junger Schwarzafrikaner ins Land, die mit den jungen Marokkanern um eine Mitfahrgelegenheit nach Europa wetteifern. Wer jung und gebildet ist, will weg: "Partir" - wie der Roman im französischen Original heißt. "Verlassen", der deutsche Titel klingt zwar weniger dynamisch, dafür hat er den Vorteil eines großen Bedeutungsspektrums: man verlässt und ist verlassen. Das eine geht oft mit dem anderen einher. Und genau das will Tahar Ben Jelloun in seinem Roman klar machen.

    Es geht also um ein klassisches Thema der Literatur: Einsamkeit. Aber es geht auch um Zeitgeschichte. Um eines der dringendsten Themen heutzutage: illegale Migration. Tahar Ben Jelloun hat den Migranten, die auf unseren Bildschirmen bald als anonyme Bedrohung, bald als eine Masse erbärmlicher Elendsflüchtlinge erscheinen, in seinem aktuellen Buch individuelle Gesichter und Geschichten gegeben.

    " Alle Fiktion nährt sich von der Wirklichkeit. Und ich habe einen Teil der Wirklichkeit fiktionalisiert. ... Denn ein Roman schafft es leichter als beispielsweise Zeitungsartikel oder Nachrichtenbeiträge, die Menschen für ein Problem zu sensibilisieren. "

    Die Menschen für ein Problem zu sensibilisieren, das gelang dem marokkanisch-französischen Autor schon mit Büchern wie : "Papa, was ist ein Fremder?", das Gespräche mit seiner 17-jährigen Tochter nachzeichnet. Der Titel erschien 1998, wurde in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt und verkaufte sich über eine halbe Million mal. "Verlassen" ist eine Mischform aus einem solchen Erklärstück und einem Roman. Oder - man könnte auch sagen: "Verlassen" ist ein Roman mit didaktischem Impetus und einem klaren politischen Ziel, dem wir hier ein wenig auf den Grund gehen wollen.
    Tahar Ben Jelloun:

    "Ich bin gegen die illegale Einwanderung, denn es gibt keine Gründe dafür, die Grenzen eines Landes mit Gewalt zu überwinden. Das ist doch nicht normal. Ich als Marokkaner finde es inakzeptabel, dass andere Marokkaner sich in Europa gewaltsam Zutritt verschaffen. Es ist nicht legitim und es ist für niemanden gut. Außer für die Mafia der Schlepper, die daran verdient. Ich verstehe, dass die Europäer ... nicht dass sie Angst haben, aber dass sie beunruhigt sind. "

    Dass die sechs größten EU-Staaten sich Ende Oktober 2006 darauf verständigt haben, in Zukunft begrenzte Kontingente afrikanischer Migranten für eine Zeit von drei bis fünf Jahren aufzunehmen, bezeichnet Tahar Ben Jelloun als einen guten Schritt in die richtige Richtung. Denn Migration ist Entwicklungshilfe - sowohl für die Aufnahme- wie für die Herkunftsländer.

    " Die 3,5 Millionen Auswanderer schicken Milliarden von Dirham in ihre marokkanische Heimat zurück, viel mehr, als Marokko durch den Tourismus oder den Export von Phosphat verdient. Aber die vielleicht noch wichtigere Rückwirkung der Migration ist die Veränderung des Frauenbildes. Die Marokkanerinnen, die in Europa leben, denen gefällt es, welche Freiheiten ihre Geschlechtsgenossinnen dort genießen. Sie wollen ebenfalls solchen Respekt. Dass vor drei Jahren die Familiengesetzgebung in Marokko geändert wurde und die Frauen jetzt mehr Rechte haben, ist sicher nicht nur das Verdienst der Rückkehrerinnen. Aber die 15 oder 20% die begeistert von den Frauen in Europa erzählten, waren lange Zeit Thema Nummer eins.

    Nun haben sich inzwischen zwar die Gesetze zum Vorteil der Frauen geändert, aber die Realitäten sind noch die alten. Um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu verändern, braucht es eben sehr, sehr viel Zeit. "

    Nur folgerichtig, dass die Tahar Ben Jellouns Romanfigur, die am meisten von einem Leben in Europa profitiert, ein Frau ist. Kenza ist schlau, attraktiv und gleich in mehreren Bereichen überaus talentiert und erfolgreich - allerdings wird die Liebe zu einem verheirateten Türken ihr schließlich doch noch zum Verhängnis.

    Die Hauptfigur, ihr Bruder, der 24-jährige Azel, ist studierter Jurist. Als für ihn feststeht, dass er in Marokko keine Chance auf einen Job hat, beginnt er, von seiner Zukunft in Europa zu träumen. Er zahlt einem Schlepper das Geld für die Überfahrt. Der macht sich damit aus dem Staub. Seelisch desolat und komplett pleite, sieht Azel nun seine letzte Chance in Miguel Lopez, einem reichen spanischen Galeristen, der ihm eine Position als Bettgenosse und Hausdiener in Aussicht stellt - und zwar in Barcelona. Azel verkauft seine Haut, um sie zu retten.

    Er erhält auch Angebote von Islamisten, die, so wird es im Buch angedeutet, überall sind, um Strauchelnde für ihre Zwecke zu rekrutieren. Diese Offerten schlägt Azel aus. Denn er liebt den Wein und eigentlich auch die Frauen.
    Tahar Ben Jelloun über die Propagandisten des Dschihad, die er mit den Seelenfängern von Sekten vergleicht :

    " Der Guru saugt den Menschen das Hirn aus dem Kopf, er leert sie. Um sie anschließend zu seinen Objekten zu machen. Sie werden zu seinen Opfern. So ist es auch mit den Islamisten. Hinter ihnen steht keine Ideologie. Sie sagen den jungen Leuten nur: Tue deine Arbeit, sie ist zum Wohle der ganzen Menschheit. Und anschließend fährst du auf in den Himmel, Paradies in alle Ewigkeit. "

    " Da hilft nur Wachsamkeit und mit allen Kräften der Kultur dagegen zu kämpfen. Aber zu meinem Bedauern gibt es gar keinen Kampf der Kulturen. Deshalb hat der Islamismus so leichtes Spiel. Er sickert überall da ein, wo ein Vakuum herrscht. "

    " Das heißt überall da, wo junge Leute nichts zu tun haben, wo sie ratlos sind und sich auf den Straßen herumtreiben, weil es keine Kulturzentren, weil es einfach nichts für sie gibt. Nun, der erste, der weiß, wie man diese jungen Leute für sich gewinnt, der hat sie. "

    "Verlassen" ist eine Warnung an die Europäer, die Entwurzelten in den Ghettos ihrer Städte als gefährdete Menschen wahrzunehmen. Wer keine Arbeit hat und dann noch nicht einmal an der Kultur teilnehmen kann, der fällt ins Chaos, sagt Ben Jelloun an anderer Stelle über die Gewaltausbrüche in den französischen Banlieues.
    "Verlassen" ist nicht für die geschrieben, um die es eigentlich geht. Denn, wie Tahar Ben Jelloun sagt, seine Bücher werden eher im Westen gelesen...

    " Aber in Marokko kennt mich viele. Denn meine Bücher sind dort Schullektüre. Kürzlich kam ich mit einem Polizisten ins Gespräch. Er sagte: Sie sind das also! Wegen Ihnen bin ich durchs Abi gerasselt
    .
    Nein, es gibt in Marokko, wie in den anderen arabischen Staaten, überhaupt nicht viele Leute, die Bücher lesen. "

    "Verlassen" ist ein spannend geschriebener, mosaikförmig gestalteter Roman in 40 kurzen Kapiteln, der einfühlsam von den Entwurzelten und ihrer Einsamkeit sprechen will. So wichtig es ist, auch auf der literarischen Ebene über diesen Aspekt der Globalisierung zu schreiben, es müsste dann auch in der angemessenen Sprache geschehen. Aber Ben Jelloun hat spürbar ab und zu ein eher theoretisches Verhältnis zu seinen Protagonisten. Sein Figuren sind ihm zu sehr Symbole einer politischen Misere, was seiner Sprache eine routinierte Note verleiht. Darunter leidet die Bindung des Lesers an die "Verlassenen" und damit der ganze Auftrag, den Ben Jelloun sich mit diesem Buch erteilt hat.
    Da es heißt, der Autor wäre ein Kandidat für den nächsten Literaturnobelpreis, sei erwähnt, dass es einen Roman von ihm gibt - "Die Nacht der Unschuld" - 1987 mit dem wichtigsten französischen Literaturpreise, dem Prix Goncourt ausgezeichnet, der den Ruf Tahar Ben Jellouns als wichtigstem Autor des Maghreb bestätigt. Von diesem Roman geht eine großartige Energie aus. Er begeistert durch die Spannung, die zwischen Autor und Stoff besteht, durch Radikalität der Sichtweise und eine phantastische Sprache, die knapp, präzise und außerordentlich schlagkräftig ist. Der neue Roman Tahar Ben Jellouns wirkt dagegen zwar wichtig, aber auch ein wenig müde.

    Tahar Ben Jelloun: "Verlassen".
    Berlin Verlag