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Schauspiel
Die Leiden einer Nebenfigur

In dem Stück "Ismene, Schwester von" zerrt die niederländische Autorin Lot Vekemans Ismene aus dem Schatten ihrer Schwester Antigone. Die Randfigur Ismene wird zur Hauptfigur und schildert in einem Monolog ihre Sicht der Dinge. Premiere hatte das Stück am Deutschen Theater Berlin.

Von Eberhard Spreng | 22.03.2014
    Außenansicht des Deutschen Theaters in Berlin bei Sonnenschein.
    Inszeniert wurde Lot Vekemans neues Stück von Stephan Kimmig am Deutschen Theater Berlin. (picture alliance / dpa - Soeren Stache)
    3.000 Jahre Einsamkeit. Umgeben nur von Fliegen und gelegentlich sich nähernden wilden Hunden: In dieser post-apokalyptischen Isolation sieht Autor Lot Vekemans die Protagonistin in seinem Solo-Stück über die Übriggebliebene eines heroischen Zeitalters. Mit blauem Hemd und dreckiger, dunkelblauer Trainingshose steht Susanne Wolff am Ende eines schmalen Steges, der bis an den Zuschauerraum heranragt: Herausgehoben von der Bühne und doch auch nur ein Auswurf aus der Welt, der sie entstammt. Denn der Steg verschwindet in einer Luke im eisernen Vorhang, durch den die Akteurin vor ihrem Solo geschlüpft war.
    Zunächst sind von der Schauspielerin nur gequälte Tierlaute zu vernehmen, dann beginnt sie ihre Rede und erzählt von ihrer Kindheit. Davon, dass sie fast immer im Schatten ihrer Schwester Antigone stand, dass sie sich dem Bruder Polyneikes immer näher fühlte, dass er ihr Bruder und Vater zugleich war, und dass er sie ins Bett brachte und ihr Geschichten erzählte von der Entstehung der Welt und der Geburt der Götter.
    "Ich liebte Polyneikes
    Ich liebte ihn mehr als Eteokles
    Viel mehr
    Ich habe nie verstanden, dass zwei Brüder - Zwillinge wohlgemerkt und noch dazu eineiig -so verschieden sein können
    Aber als die zwei Streit um den Thron von Theben bekamen und Polyneikes mich bat, Partei für ihn zu ergreifen und Eteokles zu vertreiben ... da konnte ich mich nicht für ihn entscheiden"
    "Ich wollte einfach glücklich sein"
    Anders als andere Angehörige der Labdakidenfamilie, anders vor allem als Vater Ödipus und Schwester Antigone ist Ismene nur als Randfigur eingebunden ins Räderwerk der antiken Tragödien um den verfluchten Herrscher Ödipus, den Streit der Söhne um den Herrscherthron in Theben, das von Antigone missachtete Bestattungsverbot. Ismene will die eigene kleine Existenz nicht in den Dienst einer großen Sache stellen, ihr fehlt Entschlusskraft, Entschiedenheit, die notwendigen Charaktermerkmale von Tragödienfiguren. So hält sie sich heraus, als Antigone beschließt, sich dem Herrscherwort zu widersetzen und den toten Polyneikes mit Sand zu bedecken, um ihn dem schändlichen Blick der höhnenden Nachwelt zu entziehen. Warum hatte er nicht einfach akzeptiert, dass nun der Bruder auf dem Königsthron saß, fragt sich Ismene, warum konnte Polyneikes nicht den Ratschluss der Götter hinnehmen? Diese Griechin betrachtet die Geschichte aus der post-archaischen Perspektive eines fast heutigen Menschen, mit all seinen kleinen Kompromissen, seinem Opportunismus, seinen Charakterschwächen. Diese Ismene hätte gerne einen Mann gehabt und ein geordnetes Leben mit Waschtag am Montag und Putztag am Mittwoch. Verhärtet und verhärmt steht diese Frau im Niemandsland ihrer bedeutungslosen Unsterblichkeit; sie lehnt sich jedoch phasenweise auch aggressiv und laut gegen ihr Schicksal auf.
    "Meine ganze Familie
    Ein Haufen Verrückter
    Vater stach sich eigenhändig die Augen aus
    Mutter hängte sich höchstpersönlich an einem Strick auf
    Was das betraf, lebte ich in einer Irrenanstalt
    Ich will mich damit nicht rechtfertigen, aber so war es
    Ich war die einzig Normale in einer gestörten Umgebung
    Wirklich die einzig Normale
    Versteht ihr
    Ich wollte einfach glücklich sein"
    Mythos und Familienerinnerungen
    Ein hartes kaltes Licht fällt auf Susanne Wolff, wenn sie resigniert von einem Leben erzählt, dass nicht in seine Epoche passen wollte, blickt provozierend ins Publikum und stellt sich die eher rhetorische Frage, was es wohl noch über die damalige Zeit wissen will. Vekemans lässt sie erzählen von den psychologischen Verstrickungen innerhalb der Familie, holt das Geschehen aus dem Mythos und lässt Ismene Familienerinnerungen erzählen, die heute jeder unmittelbar versteht. Es gelingt ihm dabei jedoch, banale Aktualisierungen zu vermeiden. Ismenes Familiengeschichten sind daher nicht die einer Nachbarin von nebenan, auch wenn diese Figur sich auf der Skala zwischen Mensch und Mythos gerne ganz lebensnah in unserem Alltag wiederfände. Regisseur Stephan Kimmig und Bühnenbildnerin Anne Ehrlich verorten in ihrem Bühnenaufbau den einstündigen Monolog auf einer Passage zwischen zwei Welten. Ein kleiner, schwebender, wunderbar konzentrierter Abend mit einem Blick in die Leiden einer Nebenfigur aus heroischen Zeiten.