
Bettnässer, Versager, Lügner. Von den Lehrern gedemütigt, schikaniert, malträtiert; sogar von der eigenen Mutter unerwünscht; von Ärzten und Pflegern in Krankenhäusern vernachlässigt, gequält, dem Tod geweiht – Thomas Bernhards Lebensweg liest sich in seinen fünfbändigen Jugenderinnerungen wie ein P Berichten aus den Vorhöfen der Hölleandämonium des Schreckens. Dazu die Chiffre "Salzburg", ein Menetekel alles Bösen, ein Reich der verlogenen Schönheit, der rohesten Gemeinheit.
Reese gelint es die fünf Facetten einer Person aufzubrechen
Gehasst hat er diese Stadt mit radikaler Entschlossenheit. So oder so ähnlich erlebt man normalerweise seine gleichermaßen atemlose wie schamlose Prosa. Und es ist eine große Überraschung, dass und wie es Oliver Reese, gelingt, aus diesen verzweifelten, in sich kreisenden Berichten aus den Vorhöfen der Hölle - grandioses Theater zu machen. Reese hat den Autor Bernhard, der immer die Inszeniertheit und Künstlichkeit auch seiner Prosa betont hat – beim Wort genommen und diese als unspielbar geltende Textwüste aus ICH, diesen monolithischen Block aus Sprache, auf der Bühne in ein zwei-, drei-, vier-, fünfstimmiges Aufeinander-Einsprechen von fünf Ichs, fünf Facetten einer Person aufgebrochen.
Und so beginnt der Text zu sprechen und sich dem Zuschauer zuzuwenden. Wenn der junge Bernhard in dem Band „Der Keller“ den lebensentscheidenden Entschluss fasst, das Gymnasium zu verlassen und in die "entgegengesetzte Richtung" zu gehen, wird er von diesem Entschluss geradezu gepackt, durchgeschüttelt, gequält, ist von ihm gebannt; dickköpfig, rotzfrech mutet er sich wie den anderen diese Kehrtwendung zu und kostet sie bis zur bittersten, irritierendsten Konsequenz aus.
Bei solch grandiosem Übermaß an Widersprüchlichkeit und Ambivalenzen ist es nur plausibel, dass Reese diese in sich gespaltene Kunstfigur nicht nur in mehrere Facetten, sondern in mehrere Figuren zerlegt hat: in den smarten androgyn tänzelnden Salzburg-Verächter und Literatendandy im eleganten Anzug; gefolgt von dem proletenhaft frechen, überheblichen, auf krumme Art eitlen, auf tückische Weise bescheiden-anstelligen, kurz behosten Lehrling eines Kolonialwarenhändlers, der sein schniekes alter ego kurzerhand in einen grauen Kittel steckt. In Frankfurt spielen alle diese Bernhard-Figuren auf der Klaviatur ihrer Widersprüchlichkeit – und mit ihr; und das in allen Tonlagen und auf allen Gefühlsebenen.
Protagonist mit vielschichtiger Psyche
Der selbstmitleidig-starrköpfige Pier-rot im Sterbezimmer ebenso wie der lungenkranke junge Herr im schwarzen Dreiteiler in der Heilanstalt: keine Rede von dem bildungsbürgerlich gedämpften Betroffenheitston, der sich angesichts dieser Vita eines geborenen Opfers allzu oft einstellt. Statt dessen entdeckt man ein faszinierend schillerndes, malträtiertes und zurückschlagendes Wesen, das geschlagen wird – und vor den Kopf schlägt; auf den Tod krank liegt und im nächsten Moment vor Vitalität fast zu bersten scheint; und im übernächsten auch wieder wie ein Häufchen Elend in sich zusammensinkt. So wird dieser Theaterabend zu einer immer kühneren Entdeckungsreise in die vielschichtige Psyche des Protagonisten.
Aus Dichtung und Wahrheit zusammengereimte Jugenderinnerungen
Vor allem aber auch zu einer suggestiven Manifestation des Prinzips "Theater-Kunst" als eines grandiosen Instruments, um dialektische Widersprüche handgreiflich erfahrbar und erkennbar zu machen und Unvereinbares – nein, nicht aufzulösen oder zu verschmelzen, sondern auszuhalten und es buchstäblich nebeneinanderstehen zu lassen – wie diese fünf Figuren auf ihrer Suche nach dem Autor, der sie alle einen Moment lang sind – und auch nicht sind. Vom Lächerlichen und Schrecklichen bis zum schreiend Komischen – und Widerständigen. In das klägliche Scheitern des Achtjährigen beim Versuch eines längeren Fahrradausflugs hat Bernhard im letzten Band dieser aus Dichtung und Wahrheit zusammengereimten Jugenderinnerungen die Entdeckung seines Überlebensmittels hineingeschrieben: den Umgang mit Wörtern, die Einkleidung und Kenntlichmachung der Realität durch Sprachkunst – Umformung und Übertreibung.
In Frankfurt erfährt man von fünf hinreißenden Menschendarstellern, dass das Theater nach wie vor ein Hort des Widerständigen ist – eine große Ermutigung in Zeiten der Nivellierung und Standardisierung aus dem Geist der Büro- und Technokraten: eine völlig unmoralische, lustvoll präsentierte Ermutigung, sich selbst zu entdecken und zu sich zu stehen.