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Schauspiel
Querschnitt durch die Berliner Theaterszene

Über 100 Performances an drei Spielorten in vier Tagen: Das Marathon-Theater-Festival "100° Berlin" hat sich in seinem elften Jahr zur Nachwuchsshow gemausert. Die meisten Stücke sind brandneu und mehr Entwurfsskizzen als ausgereifte Regiewerke.

Von Gerd Brendel | 20.02.2014
    Außenansicht HAU in Berlin.
    Das HAU in Berlin ist einer der drei Spielorte des Festivals "100° Berlin". (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
    "Ich fahr nach Berlin, ne nach Luxenburg, ich will nach Frankfurt. Da schaff ich es , da treff ich meine Brüder, Schweden, ich kenn jemand mit falschen Pässen. Kannst du mir 200 Euro geben? Kannst du mir BVG-Karten geben? Guthaben?" - "Klar." - "Können wir vielleicht mal einen Film sehen?"
    Die Fragen des jungen Manns kommen wie aus der Pistole geschossen. Die Frau auf der anderen Seite der Bühne reagiert verhalten. Die Antwort auf seine letzte Frage bleibt sie schuldig. Den jungen Mann "Hassan le Cliché" gibt es tatsächlich. Die Regisseurin Lydia Ziemke hat ihn vor kurzen kennengelernt:
    ""Hassan le Cliché" passiert alles Schlimme, was einem passieren kann, und dem Jungen, den wir vor kurzen kennengelernt haben, dem ist sehr viel davon passiert: Missbraucht als Drogenkurier als Kind, Mafia verfolgt, versucht abzuhauen, er ist viele Jahre durch Europa - lebt illegal in Deutschland, spricht perfekt Deutsch und es ist unsere Frage, wo ist unsere Verantwortung, wenn wir darüber Theater machen?"
    Lydia Ziemke hat ihre Antwort gefunden. Sie macht Theater mit Flüchtlingen und nicht über sie. Ihr Theaterkollektiv "suite 42" inszeniert regelmäßig für das Neuköllner Offtheater Heimathafen Stücke junger arabisch schreibender Autoren. Beim "100° Festival" ist sie zum ersten Mal dabei. Ihr Stück über die feine Grenze zwischen Hilfeleistung und Freundschaft ist nicht das einzige zum Thema Migration im Festivalprogramm. Gerade noch berichteten die Lokalzeitungen von Protestcamps und Asylbewerbern im Hungerstreik, da tauchen sie auf der Festivalbühne auf. Die meisten Stücke sind brandneu, mehr Entwurfsskizzen, als ausgereifte Regiewerke. Die würden auch schlecht zu den Rahmenbedingungen passen:
    "Das Prinzip ist: Gruppen können sich bewerben, und dann gilt wer sich zuerst meldet und wessen Projekt hier auf den Bühnen zu realisieren ist, der darf hier auch spielen."
    Gespielt wird an drei Orten, dem Ballhaus Ost im Prenzlauer Berg, in den Sophiensälen in Mitte und dem HAU in Kreuzberg, vier Tage lang. Eine Auswahl haben Caroline Kähler vom HAU und ihre Kolleginnen an den zwei anderen Spielstätten nicht getroffen. Und trotzdem bieten die über 100 Performances im Stundentakt einen Querschnitt durch die Theaterszene. Gibt es einen roten Faden?
    "Hab gesehen, dass sich einige Projekte mit dem Thema Identität auseinandersetzen."
    In vielen Performances geht es nicht nur um die Frage nach den realen Fremden, sondern auch um die Frage nach dem Fremden in uns. Nationalität, Heimat, Familie lauten die Themen.
    "Mein Bruder spricht nicht. Er hört, mein Bruder sieht nicht, er hört. Herzlich willkommen in der akustischen Welt des Sebastian R. Ebner."
    Die Performance "Sebastians Ohren" mit Lieblingsklängen ihres behinderten Bruders zeigt Fiona Fux zum ersten Mal vor großen Publikum. Eine sehr persönliche Erkundung in fremde-vertraute Welten.
    Am Ende kürt eine Jury aus Festivalmachern die besten Arbeiten. Der Preis ist eine Inszenierung im Herbst. Aber die eigentlichen Gewinner stehen schon jetzt fest: Die Besucher des "100° Festivals" - denn auch wenn vielleicht nicht alle Performances das Publikum zum Kochen werden: Abgestandene lauwarme Theaterkost bekommen sie garantiert nicht geboten.
    Das Theaterfestival "100° Berlin" findet vom 20. - 23. Februar statt.