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Schauspielpremieren zum Nachhören

Brechts "Mutter Courage", die "Physiker" von Dürrenmatt oder Max Frischs Schauspiel "Als der Krieg zu Ende war" - die großen Inszenierungen am Schauspielhaus Zürich der vergangenen 70 Jahre sind auf zwei CDs erschienen. "Mehr als 70 - Stimmen aus dem Schauspielhaus Zürich" lässt Inszenierungen mit Schauspielgrößen wie Therese Giehse, Gustav Knuth oder Ernst Ginsberg wieder aufleben.

Von Florian Felix Weyh |
    "Von Ulm nach Metz, von Metz nach Mähren, Mutter Courage ist dabei..."

    Ja, das kennt man, ein berühmtes Lied mit einer berühmten Interpretin. Doch woher stammt diese Aufnahme mit Therese Giehse, die sich förmlich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat? Aus dem Schauspielhaus Zürich, das von 1933 an Fluchtpunkt der deutschsprachigen Theaterwelt war. Unter dem Damoklesschwert knapper Finanzen überlebte dort zwölf Jahre lang jene engagierte Kunst, die man in Deutschland nicht mehr sehen durfte. Unerschrocken brachten die Schweizer 1941 Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" zur Uraufführung, so wie sie sich nicht scheuten, später dem jungen Max Frisch die Bühne als moralische Anstalt zu überlassen:

    "Oliver, Sie sind in Warschau gewesen?"

    "Da ist nichts mehr zu sehen."

    "Sie haben das Ghetto gesehen? Sie glauben, dass das wahr ist?"

    "Was?"

    "Was man erzählt."

    "In Warschau, wissen Sie, da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass mein Glaube nicht ausreicht."

    "Wie meinen Sie das?"

    "Wenn ich das sagen könnte. Man steht einfach da: eine Baracke voll Frauenhaar, eine Baracke voll Kinderkleider, eine Baracke voller Kämme, Schuhe und Brillen - alles, was man zum Sterben nicht braucht. Gleise für die Eisenbahn, wo man die Leute bringt, und daneben die kleine Hütte, wo man sie sofort vergast, ein Ofen, wo man die Leichen verbrennt. Anderswo haben sie Seife daraus gemacht. Und das alles geht."

    Zeitstücke mit dem Abstand von Generationen zu lesen, lässt einen oft unberührt. Ein Tondokument der Aufführung hingegen macht die einstige Brisanz deutlich, so wie hier in Max Frischs 1949 brandaktuellem Schauspiel "Als der Krieg zu Ende war".

    Brigitte Horney und Fred Tanner sind zwei von "Mehr als 70 - Stimmen aus dem Schauspielhaus Zürich", und mit welcher Vorsicht sie dem Publikum die Wahrheit über den Holocaust zu unterbreiten suchen, macht auch heute noch die Ungeheuerlichkeit eines Verbrechens spürbar, an dessen Faktizität wir uns längst gewöhnt haben.

    Diese Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes wirkt in der Tragödie besonders nachhaltig, doch auch in der Komödie triumphiert der Originalton über abgestumpfte Weltverdrossenheit. War da nicht mal eine Menschheitsbedrohung namens Atombombe? Ja, da war:

    "Wenn Sie da neben der Tür an dem Schalter drehen, was geschieht dann?"

    Das Licht geht an."

    "Sie stellen einen elektrischen Kontakt her. Verstehen Sie etwas von Elektrizität?"

    "Ich bin kein Physiker."

    "Ja, ich verstehe auch wenig davon. Ich stelle nur aufgrund von Naturbeobachtungen eine Theorie über sie auf. Und diese Theorie schreibe ich dann in der mathematischen Sprache nieder und erhalte einige Formeln. Und dann kommen die Techniker. Die kümmern sich nur um die Formeln, die gehen mit der Elektrizität um, wie ein Zuhälter mit einer Dirne. Sie nützen sie aus. Sie stellen Maschinen her, aber brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte. Und so vermag heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen - oder eine Atombombe zur Explosion."

    Auch ihn kennt man, Gustav Knuth als Dürrenmatts Einstein in den "Physikern", doch viele Kostproben sind Entdeckungen jenseits des medialen Mainstreams. Sie illustrieren, wie sich vor allem die Ästhetik von Klassikerinszenierungen verändert hat. Wo seit den 70er-Jahren hauptsächlich auf Lautstärke gesetzt wird, dominierten früher die leisen, differenzierten Töne. Ernst Ginsberg etwa klang als Franz Moor 1951 zwar für heutige Ohren irgendwie antiquiert - doch auch äußerst bezwingend. Da ersteht der Charakter aus der Sprache, das szenische Geschehen braucht man fast gar nicht mehr:

    "Aber ist Euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blass ... "

    "Ganz wohl, mein Sohn. Was hattest du mir zu sagen?"

    "Die Post ist angekommen: ein Brief von unserem Korrespondenten in Leipzig."

    "Leipzig? Nachrichten von meinem Sohn Karl."

    "So ist es. Aber ich fürchte ... Wenn Ihr krank seid, nur die leiseste Ahnung habt, so lasst es. Ich will zu gelegenerer Zeit zu Euch reden. Diese Zeitung ist nichts für einen zerbrechlichen Körper. Lasst mich zunächst auf die Seite gehen und eine Träne des Mitleids vergießen über den verlorenen Bruder. Ich sollte schweigen auf ewig. Denn er ist Euer Sohn. Ich sollte seine Schande verhüllen auf ewig, denn er ist mein Bruder. Aber Euch zu gehorchen ist meine erste traurige Pflicht, darum vergebt mir."

    Ginsberg übrigens ist der Stammvater dessen, was wir heute "Hörbuch" nennen. Als Begründer der Sprechplatte bei der Deutschen Grammophon hat er dafür gesorgt, dass eine bestimmte Art des theatralen Vortrags akustisch überlebte - so wie sie heute der Basler Christoph Merian Verlag wieder aufleben lässt.

    Das ist nicht nur verdienstvoll, es ist auch schön gemacht. Die beiden CDs stecken nicht im lieblosen Plastikkäfig, sondern sind Teil eines Buches mit Originaldokumenten - Fotos und Briefen, Zeitungsausschnitten und faksimilierten Theatermanuskriptseiten. Inzwischen bekommt das Züricher Schauspielhaus natürlich auch Subventionen, nicht so wie 1939, als Therese Giehse das noch satirisch einfordern musste:

    "Das Schauspielhaus kriegt eine Subvention
    von der Stadt und vom Bund und sogar vom Kanton.
    Und das Haus wird erhöht und die Preise gesenkt.
    Jeder Gast kriegt ein silbernes Uhrarmband geschenkt.
    Premiere ist künftig nur vier Mal im Jahr.
    Und es ist alles nicht wahr, es ist alles nicht wahr."

    Mehr als 70 - Stimmen aus dem Schauspielhaus Zürich
    Hörbuch sowie Begleitbuch mit 98 Seiten
    2 CDs, 2 Stunden, 37 Minuten
    Christoph Merian Verlag, Basel