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Schily warnt vor Verharmlosung antisemitischer Tendenzen

Stefan Detjen: Herr Schily, sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein?

    Schily: Ich finde, wir leben in einem wunderbaren Land, und ich liebe vor allem die deutsche Sprache. Aber es fiele mir eigentlich nicht ein, zu sagen: "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein". Ich bin vielleicht stolz darauf, dass ich in meinem Leben etwas geleistet habe, oder ich bin auch stolz darauf, dass ein deutscher Sportler mal eine Medaille gewinnt, ich bin stolz darauf, wenn ein Deutscher – obwohl ich daran wenig Anteil habe – den Nobelpreis gewinnt. Aber so einfach der flache Satz würde mir nicht so ohne weiteres auf die Lippen kommen.

    Detjen: Sie haben die Frage mal vor zweieinhalb Jahren ganz direkt beantwortet, als sie Ihnen von einem britischen Journalisten auf Englisch gestellt wurde. Da haben Sie gesagt: "Of course" – selbstverständlich. Ist es ein Unterschied, ob man die Frage auf deutsch oder auf englisch formuliert?

    Schily: Vielleicht, ja, vielleicht habe ich da eine andere Haltung gehabt. Das war ein Interview, das sehr rasch ging – sehr zur Person. Aber ich habe keine Zweifel damit, auch mit Selbstbewusstsein Deutscher zu sein.

    Detjen: Ich stelle Ihnen die Frage natürlich vor dem Hintergrund der Debatte, die in den vergangenen Wochen in Deutschland über deutsche Identität, über deutsche Schuld geführt worden ist im Zusammenhang mit dem Abgeordneten Martin Hohmann, im Zusammenhang mit dem Holocaust-Mahnmal in Berlin. Welche Art von nationalen Empfindungen bestimmen denn Ihr politisches Denken und Handeln?

    Schily: Nun, es ist die Frage, wie wir uns in der Geschichte sehen. Hohmann hat ja in einer unsäglichen Rede alle antisemitischen Klischees wieder hervorgeholt, die man kennt, so von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung und hat mit den Begriffen wie "Tätervolk" und ähnlichem hier hantiert, die in einer Weise daneben gegangen ist, dass es richtig war, dass die CDU/CSU, die ja eine große demokratische Volkspartei ist, den Trennungsstrich ziehen musste.

    Auf der anderen Seite sollte das nicht, dieses Vorkommnis, von anderen benutzt werden, sich sozusagen auf ein Podest zu stellen, zu sagen – so in dem Sinne einer "political correctness": Wir sind die Guten und die anderen sind die Schlechten. Man muss ja auch die Frage stellen: Wie kommt man eigentlich mit einem Menschen, der sich so verirrt hat wie der Herr Hohmann, wieder in ein Gespräch, das ihn von dieser falschen Position zurückführt...

    Detjen: ...und nicht nur mit ihm, sondern auch...

    Schily: ...auch mit anderen, die sich in dieser Gegend da bewegen. Das ist die Frage. Ich meine, wir Deutschen haben Anlass, was unsere Selbstfindung angeht, einen Patriotismus zu entwickeln, der sich eben vom völkischen Denken entfernt. Ich plädiere ja dafür, dass wir uns verstehen als eine Wertegemeinschaft mit einer bestimmten kulturellen Prägung, mit einem bestimmten kulturellen Profil. Und dazu gehört, dass wir auch unsere Geschichte annehmen, nicht in dem Sinne, dass etwa Menschen, die heute geboren werden oder vor zehn, zwanzig Jahren geboren sind, mit Schuldgefühlen herumlaufen müssen, oder auf Ihre Frage: "Bin ich stolz, ein Deutscher zu sein", dann sagen müssen: "Nein, nein, bin ich nicht". Sie können also mit aufrechtem Gang durch die Welt gehen, auch mit dem notwendigen Selbstbewusstsein, genau wie andere Völker.

    Aber sie müssen diese Geschichte als eines der düstersten Kapitel in der Menschheitsgeschichte überhaupt wahrnehmen und das auch in ihre Verantwortung einbeziehen. Das ist meine Auffassung dazu. Und wir haben vielleicht einen Schritt vollzogen, der in diesem Zusammenhang nicht von untergeordneter Bedeutung ist. Wir haben ja bekanntlich das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert und uns von dem überkommenen Staatsangehörigkeitsbegriff verabschiedet – in dem Sinne, dass wir auch Menschen, die bei uns aufwachsen, die in unserem Lande geboren sind und in die deutsche Sprache hineinwachsen, in den deutschen Wertekanon hineinwachsen, der sich ja auch als europäischer darstellt, als Staatsangehörige betrachten, und uns von der rein völkisch-ethnischen Abstammungsauffassung verabschieden. Das ist dann eine Auffassung von Staatsangehörigkeitsrecht, die etwa in der Tradition von Renan liegt, dem großen französischen katholischen Religionsphilosophen, der eben auch gesagt hat: "Die Nation ist etwas, was wir anders definieren müssen als nur aus der ethnischen Abstammung...

    Detjen: ... Erfahrungsgemeinschaft...

    Schily: ...als Wertegemeinschaft und Erfahrungsgemeinschaft, ja, oder Schicksalsgemeinschaft, dieses Wort hat man auch verwendet.

    Detjen: Welche emotionalen Gefühlslagen müssen dabei angesprochen werden? Genügt es, wenn sich eine Gesellschaft als rein rechtlich oder ökonomisch bestimmte Solidar- und Leistungsgemeinschaft definiert?

    Schily: Ja, Gefühle lassen sich schwer definieren, und Gefühle lassen sich auch erst recht nicht regulieren oder staatlich definieren. Wir müssen uns in dem Wertekanon bewegen, den wir kennen und der sich auch in dem Grundgesetz wieder findet. Also beispielsweise die Tatsache, dass wir die Würde des Menschen, die Achtung vor der Würde des einzelnen Menschen an die Spitze stellen, den Staat nicht überhöhen. Und dann finden Sie in dem Grundgesetzkatalog ja alle Werte, die wir kennen – bis hin zu einer sozialen Verantwortung, bis hin zu der Frage der humanistisch-christlich-jüdischen Tradition, der wir die großartige Zivilisation und Kultur in Europa verdanken, in der spezifischen deutschen Ausprägung.

    Detjen: Es gibt in der Politik eine neue nationale Rhetorik. Gerhard Schröder hat im letzten Jahr den "deutschen Weg" entdeckt und beschritten. Die Debatte über die Sozial- und Wirtschaftsreform in diesen Tagen wird in auffälliger Weise immer wieder mit dem Hinweis auf national definierte Vergleichs- und Rankinglisten geführt.

    Schily: Ja, das ist ganz gut, dass Sie dieses Wort ansprechen – deutscher Weg. Der ist ja überinterpretiert worden. Ich habe die Rede seinerzeit von Gerhard Schröder in Hannover mit angehört. Dieser Begriff ist dann auf die Außenpolitik übertragen worden. In dem Zusammenhang hat Gerhard Schröder ihn gar nicht gebraucht, sondern er hat ihn gebraucht im Zusammenhang mit der sozialen Marktwirtschaft, die wir in Deutschland entwickelt haben. Das heißt, dass wir den Markt und die Wirtschaft so gestalten, dass er in soziale Rahmenbedingungen eingebettet ist.
    Und das umfasst ja auch die Tatsache, dass wir eben nicht die abhängig Beschäftigten in eine schwache Position manövrieren wollen, sondern dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe begegnen, dass es soziale Rechte gibt, auf die sich jeder verlassen kann, dass es ein sehr ausdifferenziertes Sozialsystem gibt, das wir im Moment gerade umbauen müssen unter den neuen Rahmenbedingungen der Globalisierung – aber von dem wir uns nicht verabschieden wollen.

    Und Sie wissen, dass es da erhebliche Unterschiede gibt zu den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten von Amerika, unseren amerikanischen Freunden, die ja einen anderen Weg gehen. Aber wir sagen: Unser Weg, bei dem bleiben wir. Und das bezeichnet Gerhard Schröder als den deutschen Weg. Und der war ja auch in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich erfolgreich, und wir wollen uns davon nicht verabschieden.

    Detjen: Wie erklären Sie es sich, dass sich in der Auseinandersetzung mit der Rede von Martin Hohmann – um darauf noch mal zurückzukommen –, dass sich da doch gezeigt hat, dass es so viele Menschen gibt, die 50 Jahre nach dem Ende des Krieges und nach der Wiedervereinigung immer noch glauben, die Deutschen würden allein von außen durch ein aufoktroyiertes Schuldbewusstsein zu einem gebückten Gang gezwungen?

    Schily: Ja, ich habe den Eindruck, dass solche Menschen es schwer haben, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen und es ein Bedürfnis gibt, diese Vergangenheit irgendwie zu relativieren oder abzuschwächen. Hohmann hat in seiner Rede versucht, das gegeneinander abzuwägen. Man könnte auch – so hat er ja gesagt – unter diesen Auspizien die Juden als Tätervolk bezeichnen. Das ist ja natürlich ein...

    Detjen: ... er hat das ja zurückgenommen. Er beruft sich ja nach wie vor darauf, das sei ein Missverständnis, er sei da falsch verstanden worden...

    Schily: ... ja, das ist dann leicht so, dass man dann versucht, sich dann wieder in die Büsche zu schlagen. Aber zunächst mal ist es so dazu gekommen. Man muss wissen, was das auslöst. Es gibt schon leider in der Gefühlswelt solcher Personen ein Bedürfnis zu sagen: "Warum wird uns das immer wieder vorgehalten, wir sind doch jetzt Demokraten geworden und die Vergangenheit ist vergangen und wir haben nichts mehr damit zu tun".

    Das ist übrigens ein Verständnis von Geschichte, das sich löst von der Erkenntnis, dass die Geschichte ein Kontinuum ist. Man kann nicht sagen, da ist sozusagen jetzt eine Brandmauer, und da kommt die Geschichte nicht mehr vor. Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart und die Gegenwart wirkt in die Zukunft. Vielleicht wirkt manchmal auch die Zukunft noch in die Gegenwart hinein, das ist auch ein interessanter Vorgang.

    Und ich meine, Hohmann ist eben auf die Seite derer geraten, bei denen auch dann dankbar seine Rede aufgenommen wird – von vielen noch extremeren Kreisen, die sagen: "Da seht Ihr ja, die Juden sind genau so schlimm". Das ist in etwa das, was man dann als kurzschlüssige Folgerung aus solchen Tiraden hervorholt. Und ich muss die Rede mal nachlesen von Reemtsma, der jetzt ja den Heinz-Galinski-Preis bekommen hat. Der hat ganz zu Recht gesagt – ich kenne nur einen kleinen Zeitungsbericht darüber, was er gesagt hat –, dass man sich natürlich, wenn man diese Hohmann-Affäre vor Augen hat, es sich auch nicht zu leicht machen darf. Man muss diese argumentativen Fehlbeurteilungen genau analysieren und argumentativ aufarbeiten. Sonst, wenn man jetzt einfach sagt: "Das ist also ein ganz schlimmer Finger" – oder so –, dann kommt man auf die Sache nicht genügend zu.

    Detjen: Konkret gefragt: Ist das hinreichend gelungen? Kann man sagen, die Affäre ist vorbei - oder gibt es noch Bedarf zu erklären, welche Grenze Hohmann eigentlich überschritten hat? Stoiber zum Beispiel hat ja diesen Begriff des Verfassungsbogens eingeführt. Er hat sich über die Grenzen der Verfassung hinausbewegt. Was heißt das? Standen diese Äußerungen außerhalb der Meinungsfreiheit?

    Schily: Nein, es ist nicht eine Frage der Meinungsfreiheit, sondern es ist die Frage: Wie gehen wir mit unserer Geschichte und wie gehen wir mit den Werten, die in unserer Verfassung, in dem Wertekatalog, auf den wir uns verständigt haben – wie gehen wir mit dem demokratischen Grundkonsens um.

    Und Stoiber hat etwas Richtiges gesagt: Hohmann hat sich mit diesen Äußerungen außerhalb dieses Grundkonsenses bewegt. Deshalb war für die CDU/CSU meiner Meinung nach keine andere Wahl, als Hohmann aus der Fraktion auszuschließen. Ich habe das ja auch selber gefordert seinerzeit. Was aber nicht heißt, dass man nicht eine Dialogfähigkeit entwickeln muss, um solche Menschen auch von ihrem Irrweg wieder zurück zu holen. Das meine ich schon, dass das notwendig ist.

    Detjen: Der Fall Hohmann hat ja nicht nur in der Technik der Reaktion "Fraktionsausschluss" einen Vorläufer gehabt, nämlich den Fall Möllemann. Was hat beide Ihrer Ansicht nach unterschieden und wo waren die Gemeinsamkeiten?

    Schily: Ja, Möllemann hat genau so mit manchen Klischees gespielt, die dann dankbar von anderen aufgenommen wurden. Und was den Fall Möllemann so fatal macht: Dass er das auch versucht hat, in der Werbung für Wählerstimmen zu benutzen. Mir fällt es schwer, zum Fall Möllemann etwas zu sagen nach dem tragischen Schicksal dieser Persönlichkeit, die auch ihre Verdienste hatte. Und eigentlich halte ich es mit dem römischen Satz: "De mortuis nihil nise bene". Und deshalb würde ich gerne vermeiden, jetzt über Möllemann zu sprechen.

    Detjen: Ein Unterschied aber war natürlich, dass es sich bei Möllemann um eine politische Führungsperson gehandelt hat, Hohmann war ein parlamentarischer Hinterbänkler. Und es war ja bei der FDP auch die Tendenz, das Kokettieren damit erkennbar, sich auf rechtspopulistische Argumentationen einzulassen, die in anderen europäischen, die in vielen unserer europäischen Nachbarländer - den Niederlanden mit Fortuyn, in Österreich mit Haider, in Frankreich mit Le Pen, in der Schweiz jetzt mit Blocher – jetzt durchaus erfolgreich sind. Es ist nur erstaunlich, dass es in Deutschland noch keiner politischen Kraft, noch keiner politischen Figur gelungen ist, das zu imitieren. Verwundert Sie es, dass es dieses Phänomen rechtspopulistischer durchschlagender Erfolge in Deutschland bisher nicht gegeben hat?

    Schily: Ja, zumindest ist es sehr erfreulich, dass das so ist. Es hat partiell es mal gegeben – Sie wissen, dieser vorübergehende Erfolg der DVU in Sachsen-Anhalt. Es hat auch mal einen Stimmenaufwachs gegeben bei der NPD, es hat mal einen Stimmenaufwachs gegeben von anderen Gruppierungen, etwa dieser Schill-Partei. Das sind alles vorübergehende Ausschläge, die man durchaus sorgfältig beobachten muss. Wir haben vielleicht das Glück gehabt, dass es keine charismatische Persönlichkeit gegeben hat, die sich in diese Zone begeben hat und dann womöglich in der Lage gewesen wäre, dieses ganze Sammelsurium von rechtsextremistischen Strömungen zusammenzufassen. Aber immerhin spricht das für die Reife unserer Demokratie, dass wir eigentlich verschont geblieben sind von solch einer Gruppierung.

    Detjen: Dennoch deuten demoskopische Untersuchungen darauf hin, dass rechtspopulistische Parteien auch in Deutschland ein Wählerpotenzial von zehn bis fünfzehn Prozent hätten. Liegt das wirklich allein am Fehlen charismatischer Führerfiguren, oder und in welchem Umfang sind es auch moralische, ethisch-historisch begründete Tabus, die bisher verhindert haben, dass dieses Potenzial politisch aktiviert wird?

    Schily: Nein, ich glaube, dass unsere Gesellschaft und die Menschen in unserem Lande klüger sind, als manche annehmen. Es gibt sicherlich, sagen wir mal, in der emotionalen Basis einiges, was uns Sorge machen muss. Ich habe jetzt kürzlich in der Zeitung einen Bericht gelesen, den ich aber im Original nicht kenne – eine Untersuchung, dass es in Thüringen ein großes, relativ breites Potenzial gäbe, das anfällig sein könnte für rechtsextremistisches Gedankengut und gepaart mit den Ablehnungen der demokratischen Strukturen. Das ist immer eine Gefahr, und gerade dann, wenn wir in einer Schwierigkeit sind eines Reformprozesses, wo auch den Menschen manche Gewohnheiten abhanden kommen oder wo auch manches, was an sozialen Garantien vorhanden war, umgestaltet werden muss, dann ist immer die Zeit von "terribles simplificateures", den furchtbaren Vereinfachern, die dann auch Anklang finden.

    Und Sie wissen, Rechtsextremismus hat immer dann Erfolge zu verzeichnen, wenn er in der Lage ist, Ressentiments zu organisieren und mit den plakativen Formeln zu kommen, und dann übrigens operiert mit einem sehr obskuren Nationalbewusstsein, was dann versucht: "Ja, wir sind doch wer, und die anderen sind eigentlich doch nur darauf aus, uns das Leben schwer zu machen oder zu unterdrücken" – bis hin dann eben zu den antisemitischen Klischees. Und das ist eines der gefährlichsten, dieses antisemitische Klischee bis hin dann zur jüdischen Weltverschwörung, die also alle Menschen unterdrückt – diese Torheiten und schrecklichen Missgriffe in der Begriffswelt, die dann sich zu propagandistischen bösen und hochgefährlichen Formeln weiterentwickeln. Das ist leider in diesem Bereich zuhause, und die Gesellschaft muss sich anstrengen, dem entgegenzuwirken.

    Detjen: Das schwer zu Fassende und Beunruhigende ist ja, dass antisemitische Klischees mehr latent als offen vorhanden sind. Gibt es nicht gerade deshalb auch die Gefahr, dass diese latent vorhandenen Klischees, dass der latente Antisemitismus erst durch gut gemeinte Überreaktionen virulent wird, also anders gefragt, dass der Aufschrei, der Protest im Fall Hohmann eine am Ende paradoxe Wirkung hat und erst der Protest die Anknüpfungspunkte für die vielen Menschen geschaffen hat, die sich jetzt mit Hohmann solidarisieren und hinter seinen Aussagen versammeln?

    Schily: Sehen Sie, Antisemitismus kann man nicht ein für alle mal ausrotten. Es wäre schön, wenn es so wäre, aber leider ist das wohl eine Gefühlshaltung und politische Verirrung und geistige Verirrung, für die manche Menschen immer noch anfällig werden können. Und deshalb ist das sozusagen eine kontinuierliche Aufgabe, dem entgegenzutreten.

    Und ich finde, da muss auch eine sehr klare Sprache und auch sehr scharfe Haltung erkennbar sein. Angesichts des Holocaust und der Geschichte, die wir damit verbinden, kann es überhaupt keine andere Haltung geben. Wer an der Stelle anfängt, so eine weiche Haltung zu empfehlen, der kommt da auch in abschüssiges Gelände. Dafür bin ich überhaupt nicht. Das heißt nicht, den Dialog zu führen, wenn wir Programme machen, um Rechtsextremisten wieder aus ihrem Geflecht zu lösen, dann gehört das auch dazu.

    Und deshalb sage ich auch, wir müssen den besonderen Wert auf Bildung legen. Letzten Endes entscheidet alles die Frage der Erziehung und der Bildung. Das geht auch natürlich nicht mit Lehrformeln oder mit einem Befehlston, denn da geht es darum, sich ein klares Bild zu verschaffen über die Geschichte, über das, wie Antisemitismus entstanden ist.

    Und wenn es beispielsweise ein Bollwerk gibt gegen den Antisemitismus – auch unserer Tage –, dann gehört dazu unter anderem und mit an der Spitze das Jüdische Museum in Berlin. Das hat eine Attraktion an Besuchern, wie es kein anderes Museum in Deutschland inzwischen erreicht hat. Ich glaube, die sind bei 1,6 Millionen Besuchern angelangt nach kurzer Zeit. Und man kann einem Mann wie Michael Blumenthal und anderen, die das zustande gebracht haben, auch dem Architekten Libeskind, gar nicht genug Dank sagen dafür, weil auf diese Weise die Menschen sich von den Klischees befreien können und sich einen Erkenntniszugang verschaffen, was jüdische Kultur in Europa, in Deutschland war, was uns an schrecklichen Verlusten durch dieses mörderische Regime der Nazis zugefügt worden ist, und in welche abgrundtiefe Verirrung die Deutschen mit diesem Holocaust geraten sind. Und das wird seinen tiefen Eindruck nicht verfehlen bis hin natürlich auch zu anderen Stätten.

    Ich glaube, auch die Tatsache, dass viele Menschen den Weg in die Gedenkstätte Auschwitz finden oder andere, das – glaube ich – ist der entscheidende Punkt. Oder wenn wir etwas anders machen – ich mache jetzt einen großen Sprung: Eine sehr erfolgreiche Veranstaltung des Bündnisses für Toleranz und Demokratie gegen Extremismus und Gewalt. Hier ist es uns gelungen, vor allen Dingen junge Menschen dafür zu gewinnen, da mitzumachen. Auf diese Weise erzielen wir einen Multiplikatoreneffekt, indem die jungen Menschen, denen wir einen Preis geben oder die wir einladen, ihre Projekte vorzustellen, wieder ein Beispiel geben für andere. Denn auch das muss man wissen: Abwehr von Antisemitismus, Rassenhass, Ausländerfeindlichkeit kann nicht allein nur vom Staat organisiert werden. Letzten Endes ist die Frage, ob es eine Immunschwäche der Gesellschaft gibt, oder ob die Gesellschaft in der Lage ist, sich gegen solche Anwandlungen zu immunisieren.

    Detjen: Es bleibt aber sicherlich der Befund, dass die Schärfe des Antisemitismusvorwurfs in Diskussionen wie denen um Hohmann auf viele Leute zunächst mal verunsichernd wirkt. Es taucht dann immer wieder das Argument auf: Darf man als Deutsche überhaupt Israel, darf man jüdische Organisationen, Vertreter von jüdischen Organisationen kritisieren, ohne sich diesem Vorwurf auszusetzen. Wie schwierig ist die Gratwanderung aus deutscher Perspektive, Israel, speziell israelische Politik, israelische Siedlungspolitik zu kritisieren?

    Schily: Dass wir ein besonderes Verhältnis zu Israel haben aus der Geschichte, ist ja allgemein anerkannt, und ich mache mir das auch selbstverständlich zu eigen. Es gehört zu den großen Leistungen der Politik – da können wir Konrad Adenauer einbeziehen, können wir Willy Brandt einbeziehen, Johannes Rau und viele andere, die es verstanden haben, eine Freundschaft zu Israel wirklich zu entwickeln und auch kontinuierlich weiter zu verbessern. Aber das heißt ja nicht, dass wir zu bestimmten kritischen Aspekten der Israelpolitik nicht eine klare Stellung beziehen können. Das ist dadurch nicht ausgeschlossen.

    Detjen: Hypothetisch gefragt: Hätte Deutschland seine Zurückhaltung im Irak-Krieg aufgeben müssen, wenn im Zuge dieser Auseinandersetzung Israel angegriffen worden wäre?

    Schily: Das wäre ein völlig anderer Sachverhalt gewesen. Also, wäre Israel angegriffen worden vom Irak, wäre ich für militärische Beteiligung gegen Irak eingetreten.

    Detjen: Herr Schily, vielen Dank für das Gespräch.
    KZ Buchenwald
    KZ Buchenwald (AP)