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Schlacht am Meeresgrund

Der Fund ist eine Sensation: Nachdem sie zwei Jahrzehnte danach gesucht hatten, entdeckten Taucher vor wenigen Monaten das Wrack der "Mars". 1564 war das Flaggschiff der schwedischen Kriegsflotte vor der Ostseeinsel Öland von der dänischen Armada versenkt worden. Der spektakuläre Fund beweist: Am Grund der Weltmeere liegen zahllose Wracks, die entweder noch gar nicht entdeckt oder  weitgehend unerforscht sind.

Von Frank Grotelüschen | 09.04.2012
    Der Hafen von Kiel, es ist früher Morgen. Am Kai liegt das Forschungsschiff "Littorina". An Bord laufen letzte Vorbereitungen: Wissenschaftler besprechen den Einsatzplan und bauen ein Gerät zusammen: eine Art Mini-Torpedo mit Flossen an den Seiten.

    "Sieht ein bisschen aus wie ein Fisch. Wird hinterhergezogen hinter dem Schleppfahrzeug und in einer bestimmten Tiefe über dem Meeresgrund gefahren."

    Fisch, so nennen Christian Howe und seine Kollegen die Sonde. Ein Spion, der den Meeresgrund fächerartig abtastet, und zwar akustisch, mit leisen Klicklauten.

    Howe: "Das sind die Echo-Schallwellen, die vom Fisch zum Meeresboden ausgesendet werden. Die reflektierten Wellen werden vom Fisch wieder aufgenommen und als Daten zum Rechner gesendet."

    Gleich wird die "Littorina" auslaufen. Ihre Mission: Wracks am Grund der Kieler Förde aufspüren, die seit Jahrhunderten im Schlick begraben sind.

    "Ein Schiff muss man sich vorstellen als einen Mikrokosmos."

    Mike Belasus, Deutsches Schifffahrtsmuseum, Bremerhaven.

    "Schiffe waren Bereiche, in denen Menschen für eine bestimmte Zeit leben mussten. Sie mussten alles an Bord haben, was sie für diese Zeit brauchten."

    Unterwasserarchäologen wie Mike Belasus fahnden nach versunkenen Schiffen.

    "Lebensmittel, die mitgeführt worden sind. Die Kleidung, die man zu dieser Zeit trug."

    Nach stummen Zeugen längst vergangener Jahrhunderte, die zu Tausenden am Grund von Flüssen und Meeren liegen.

    "Wie sind die Verletzten versorgt wurden? Was haben die Leute in ihrer Freizeit gemacht?"

    Geht ein Schiff unter, bleibt die Zeit stehen. Das Wrack wird zur Zeitkapsel.

    "Spiele findet man dort, Musikinstrumente. Das alles kann man an so einer Zeitkapsel ablesen. Es ist faszinierend."

    Ein scharfer Wind fegt durch das mittelalterliche Bremen – der Vorbote einer Sturmflut. Am Ufer der Weser ist ein Schiff nur schlampig vertäut. Ein Rohbau noch, aber die Kogge ist fast fertig. Das Wasser steigt und steigt. Das Schiff reißt sich los und treibt steuerlos auf dem Fluss. Dann schlägt es leck, Wasser dringt ein. Immer stärker neigt sich die Kogge zu Seite – bis sie in den Fluten der Weser versinkt. Wenig später haben wandernde Sandbänke das Wrack fast vollständig begraben. 600 Jahre wird es hier ruhen, vom Schlick perfekt konserviert.

    1962 erweitern Bagger den Hafen und heben das Flussbett aus. Plötzlich stoßen die Bauarbeiter auf Bohlen und Planken – die hölzernen Überreste eines Wracks. Die Archäologen werden gerufen. Schnell ist klar: ein Volltreffer. Ein archäologischer Schatz. Mike Belasus:

    "Das ist das momentan am besten erhaltene spätmittelalterliche Schiffswrack weltweit."

    Heute ist die Bremer Kogge im Deutschen Schifffahrtsmuseum ausgestellt. Belasus:

    "Wir befinden uns unten direkt vor dem Wrack. Wir sind an der besser erhaltenen Seite, haben eine Länge von etwa 18 Metern. Und dann ragt hier eine Schiffswand aus Eichenholz vor uns empor, die ungefähr vier Meter hoch ist. Sie ist fast vollständig erhalten."

    Mike Belasus geht an der Bordwand entlang zum Heck der Kogge.

    "Im hinteren Bereich haben wir das sogenannte Achterkastell – einen Aufbau, in dem sich Unterkünfte befanden, von dem aus das Schiffsruder bedient wurde. Und in dem auch die sagenumwobene Schiffstoilette gefunden worden ist. Ein Brett mit einem runden Loch drin, das an der Stelle angebracht worden ist, wo das Kastell über die Bordwand hinausragt. Darauf konnte wahrscheinlich derjenige, der das Schiff führte, sitzen. Und zwar in einer Höhe, in der er mit dem Oberkörper aus dem Kastell rausguckte und das Schiff überwachen konnte – selbst wenn er seine Notdurft verrichtet hat!"

    Aber nicht nur die kleinen Details sind es, die die Archäologen faszinieren. Aus dem Fund können sie herauslesen, wie die Gesellschaft damals tickte und wie sie sich veränderte.

    "Wir können an der Konstruktion sehen, dass man auf die Qualität beim Bau wenig achtgegeben hat. Wir sehen viele Risse in dieser Holzwand. Wir können Spuren entdecken, dass diese Risse noch während des Schiffbaus repariert worden sind. Also müssen wir davon ausgehen, dass es sich hier um ein Handelsschiff handelte, mit dem so günstig und so schnell wie möglich Profit gemacht werden sollte. Wir sehen auch einen Wandel in der Art von Waren, wie sie transportiert worden sind. Dass Rohprodukte transportiert worden sind und keine Luxusgüter mehr. All das können wir an diesem Schiffsfund ablesen. Es erklärt uns sehr viel über den Wandel im Denken während des Mittelalters."

    "Wir können loslegen!"

    Die "Littorina" hat abgelegt, die Wracksuche kann beginnen. Fahrtleiter ist Jens Auer, Archäologe an der süddänischen Universität Esbjerg. Er hält ein paar Zettel in der Hand: die Positionen von Schiffswracks in der Kieler Förde. Ob sie archäologisch wertvoll sind oder nicht, das wollen die Forscher heute herausfinden – mit dem Fisch, jenem Sonargerät, das Bilder vom Meeresgrund liefert. Auer:

    "Wir haben gerade den Fisch ins Wasser gesetzt. Jetzt werden wir gucken, ob wir ein Bild bekommen. Wir sind 500 Meter von der Position entfernt. Und dann müssen wir sehen, wie es aussieht, wenn wir dran vorbeifahren."

    Auer schaut noch mal in seine Unterlagen. Der Informationsgehalt: eher dürftig.

    "Es ist kaum etwas bekannt über dieses Wrack. Es ist ein Holzwrack mit einer Ladung aus Ziegelsteinen. Die Länge ist 19 Meter. Das sind die Informationen, die vorliegen. Ansonsten nichts weiter."

    Dann greift Auer zur Sprechfunkanlage und ruft den Kapitän auf der Brücke. Jetzt sollen die Messungen beginnen.

    "Ja, gehört!"

    "Wäre es möglich, dass wir so ungefähr vier Knoten fahren?"

    "Vier Knoten, okay."

    Ein paar Minuten später. Paul Baggaley, Sonarexperte bei der englischen Firma Wessex Archaeology, steht vor einem Laptop. Der Monitor zeigt eine graue Fläche mit hellen Sprengseln und dunklen Schatten.

    "Sieht gut aus, das Gerät nimmt Daten. Im Moment schwimmt der Fisch acht Meter über dem Meeresgrund und überblickt einen 200 Meter breiten Streifen. Noch sehen wir nichts als Schlamm. Aber hoffentlich werden wir das Wrack gleich finden."

    Konzentriert starren die Experten auf den Schirm. Plötzlich herrscht Aufregung, Baggaley zeigt auf den Bildschirm.

    "Yes, we saw it."

    Er ist sich sicher: Er hat eine Ecke des Wracks erspäht. Der Kapitän soll das Schiff wenden, und zwar sofort.

    "Können wir eine zweite Linie fahren, also drehen und zurückfahren?"

    "Okay."

    Und tatsächlich: Jetzt erkennt man schwache Strukturen auf dem Bildschirm.

    "Das Schwarze da, hinter dem Schatten. Das Wrack scheint senkrecht auf dem Meeresgrund zu stehen. Ganz nett, die Aufnahme."

    Doch dann ein Problem: Ein Containerschiff taucht aus dem Nebel auf. Der Kapitän der "Littorina" muss ausweichen:

    "Wir müssen hier weg! Der Nebel wird immer mehr. Wir müssen woanders hinfahren."

    Auer: "Die Lotsen haben sich beschwert. Wir sind mitten im Fahrwasser hier."

    Immerhin: Ein brauchbares Bild hat Baggaley im Kasten.

    "Das Wrack ist um die 20 Meter lang. Da in der Mitte ist irgendwas zu erkennen. Was das sein könnte, werden wir aber erst später sagen können, wenn wir die Daten genauer ausgewertet haben."

    Das Sonar ist eines der wichtigsten Werkzeuge der Unterwasser-Archäologen. Mit seiner Hilfe gelangen sensationelle Funde. So auch im letzten Jahr an der Ostküste Schwedens.

    31. Mai 1564, die Ostsee vor der Insel Öland. Seit zwei Tagen tobt die Seeschlacht – brutal und erbarmungslos. Die Schweden sehen sich einer Übermacht entgegen, Erzfeind Dänemark hat sich mit der Hansestadt Lübeck verbündet. Aber die Schweden haben die "Mars", einen scheinbar übermächtigen Trumpf: das größte Kriegsschiff seiner Zeit, 50 Meter lang, bestückt mit mehr als 100 Kanonen.

    Am Tag zuvor haben diese Kanonen der "Mars" die "Longe Bark" aus Lübeck versenkt. Nun wollen sich die Dänen rächen, wollen die Mars entern und in ihre Gewalt bringen, um jeden Preis. Tatsächlich schaffen sie es, das Ruder zu blockieren – die Mars ist manövrierunfähig. Soldaten entern das Deck. Säbel krachen aufeinander, Kanonen donnern, Planken schwimmen im Blut. Doch dann eine Explosion: Das Pulverarsenal fliegt in die Luft. Binnen Minuten versinkt die "Mars" und reißt 1000 Mann – Freund wie Feind – mit in die Tiefe.

    "Die 'Mars' war alles andere als ein normales Schiff. Sie war der Ausdruck eines neuen schwedischen Selbstbewusstseins: brutal, vulgär, doppelt so groß wie andere Schiffe, dreimal soviel Kanonen an Bord."

    Der Schwede Richard Lundgren ist Extremtaucher. Mehr als 6000 Tauchgänge hat der Profi absolviert – in Höhlen, in eiskaltem Wasser, in extremen Tiefen. Für die BBC hat er Unterwasserfilme gedreht, Fotos für Hochglanzmagazine geschossen, in der Karibik nach den versunkenen Goldschätzen der Spanier gesucht. Seine Leidenschaft aber gilt der "Mars". Schon als Junge fasziniert ihn, dass irgendwo am Grund der Ostsee das legendäre Kriegsschiff aus dem 16. Jahrhundert liegen muss. 20 Jahre lang durchstöbert Lundgren die Archive, befragt Fischer, grenzt die Fundstelle immer weiter ein. Dann, im letzten Sommer, startet er eine Expedition. Sie führt ihn vor die Küste der Insel Öland.

    "Wir haben das Seegebiet mit dem Sonar abgesucht. Schon am zweiten Tag sahen wir etwas Interessantes am Meeresgrund, vermutlich Holzteile. Wir nahmen sie genauer unter die Lupe. Endlich hatten wir ein scharfes Sonarbild im Kasten. Wir wussten sofort: Entweder war es die Mars oder ein anderer interessanter Fund."

    Gewissheit kann nur ein Tauchgang bringen. Lundgren lässt sich bis zum Grund der Ostsee sinken, 75 Meter tief.

    Das Atemgas in den Tauchflaschen basiert auf Helium, es lässt die Stimmen wie Mickey Mouse klingen. Filter fangen den Atem auf und binden das Kohlendioxid. Eine aufwändige Tauchtechnik, man braucht sie für solche Tiefen. Am Meeresgrund schaltet Lundgren den Scheinwerfer an.

    "Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, als sich der Schiffsrumpf langsam im Dunkeln abzeichnete. Es war einfach fantastisch, als ich das Wrack vor mir auftauchen sah. Die Steuerbordseite ist im Meeresgrund versunken. Aber man sieht noch die Kanonen herausragen. Das Deck ist herabgestürzt und hat die Backbordseite mit sich gerissen. Das Schiff hat zwar seine Form verloren. Aber sämtliche Teile sind noch da – und alles, was mit dem Schiff versunken ist: das Mobiliar, die Kriegskasse, die persönlichen Gegenstände der Besatzung, die Soldaten – nicht nur die schwedischen, sondern auch die aus Dänemark und Lübeck, die das Schiff gerade geentert hatten."

    Der Lichtkegel des Scheinwerfers wandert über Holzbohlen, über Planken und Masten. Sie sind erstaunlich gut erhalten, selbst nach 447 Jahren. Ein Glücksfall, zu verdanken den Bedingungen am Meeresgrund: Es ist tief und kalt, der Salzgehalt niedrig. Holzzersetzende Mikroben können hier nur in Zeitlupe agieren. Lundgren reibt Muschelbewuchs von einem Rohr – eine der Kanonen der Mars. Dann stößt er auf weitere Zeugnisse des Gemetzels.

    "Wir haben Knochen gesehen, die von einer brutalen Schlacht erzählen. Die letzten Stunden auf der 'Mars' müssen schrecklich gewesen sein. Wir sehen abgeschlagene Köpfe und Skelette zertrümmert von Kanonenkugeln. Das ist verstörend und faszinierend zugleich. Denn es erzählt die Geschichte der 'Mars' – eine Geschichte, in der es um nichts geht als um Krieg."

    Bislang haben sich die Forscher darauf beschränkt, das Wrack sorgfältig zu kartieren. Die eigentliche Arbeit aber beginnt erst. Gemeinsam mit Archäologen will Lundgren das Wrack untersuchen, will die Trümmer nach spektakulären Fundstücken durchforsten – und möchte Geld verdienen mit aufwendigen Film- und Fernsehproduktionen. Womöglich werden Experten das Wrack eines Tages bergen, um es an Land zusammenzusetzen und in einem Museum auszustellen wie die berühmte Vasa in Stockholm oder die Bremer Kogge im Deutschen Schifffahrtsmuseum.

    "Es ist noch zu früh, um über eine Bergung zu sprechen. Aber es ist nicht unmöglich. Zunächst aber werden wir nur wenige Teile an die Oberfläche holen, vielleicht eine der Kanonen oder ein paar Holzteile. Wir wollen das Wrack ja nicht zu sehr stören."

    "Eieiei – einer darf mitziehen!"

    Zurück an Bord der "Littorina". Das Forschungsschiff muss die Fahrrinne verlassen, sonst droht im Nebel eine Kollision. Schnaufend hieven die Forscher ihren Sonar-Fisch aus dem Wasser.

    "Das Gerät bietet einigen Widerstand. Das liegt an den Stabilisierungsflügeln. Sie drücken es kräftig nach unten."

    Zum Glück gibt es noch weitere Wracks in der Kieler Förde. Jens Auer wirft einen Blick in seine Unterlagen.

    "Die nächste ist ziemlich weit draußen, ein paar Meilen weiter raus. Da steht Dampfer. Wir haben eine Position und eine Tiefe über dem Wrack von 14 Metern. Ansonsten steht hier nicht viel. Da kann man sich überraschen lassen."

    Am Ziel setzt die Crew das Sonargerät wieder aus. Der Kapitän fährt direkt über die angegebene Position. Das Ergebnis ist enttäuschend: Auf dem Bildschirm sieht man nichts.

    "Wir sind direkt drüber gefahren. Das heißt, das Wrack ist nicht sichtbar, weil es im Schattenbereich vom Sonar liegt."

    "Können wir noch mal zurückfahren, und zwar 50 Meter weiter westlich?"

    "50 Meter weiter westlich, okay."

    Die nächsten Linien bringen mehr Erfolg. Auf dem Monitor tauchen schemenhafte Umrisse auf. Baggalay:

    "Ja, das ist das Wrack. Ein ziemlich langes Schiff, so um die 100 Meter. Es scheint noch aufrecht zu stehen. Das erkennt man an diesen langen schwarzen Schatten."

    Die Überreste eines Dampfers, wahrscheinlich im zweiten Weltkrieg versenkt. Für die Archäologen nicht besonders aufregend. Drei Millionen Schiffswracks sollen am Grund der Weltmeere liegen, schätzt die Unesco, viele von ihnen für die Archäologie hochinteressant. Im Mittelmeer liegen Überreste aus der Antike, in der Karibik die Wracks aus der spanischen Erobererzeit. In der Ostsee werden 16.000 versunkene Schiffe vermutet – von der Wikingerzeit bis zum 2. Weltkrieg. Das berühmteste aller Wracks aber schlummert in den Tiefen des Nordatlantiks.

    10. April 1912, Southampton. Ein besonderer Tag für die englische Hafenstadt. Ein Luxusliner sticht in See, 270 Meter lang, das größte Schiff der Welt. Die Jungfernfahrt der Titanic, das Ziel heißt New York. Zwei Tage später, am späten Abend des 14. April, schrammt der Gigant mit voller Fahrt einen Eisberg. Nur 700 der 2200 Menschen an Bord überleben. Bis zum Schluss, so heißt es, soll auf dem Bootsdeck das Schiffsorchester gespielt haben.

    1985. Mit einem Tauchroboter erkunden Forscher den Meeresgrund. Jahre haben sie nach der Titanic gesucht. Endlich die Entdeckung: Aus 3800 Metern Tiefe übermittelt der Roboter die ersten Bilder. Mittlerweile ist das Wrack ein Eldorado für Archäologen, aber auch für Abenteurer und Geschäftemacher. Heute kann jeder per Mini-U-Boot zur Titanic tauchen, vorausgesetzt, er hat 50.000 Euro übrig. Doch ihre Tage – sie scheinen gezählt. Antonio Ventosa, Universität Sevilla, Spanien:

    "Am Rumpf der Titanic wachsen verschiedenen Bakterienarten. Sie bilden einen regelrechten Biofilm. Und die Art, die wir vor anderthalb Jahren entdeckten, haben wir Halomonas titanicae getauft."

    In seinem Labor untersucht Ventosa eine unbekannte Bakterienart, gefunden am Rumpf der Titanic. Verblüfft stellt der Mikrobiologe fest: Der Einzeller hat eine bemerkenswerte Eigenschaft.

    "Dieses Bakterium kann Eisen oxidieren und daraus Energie gewinnen! Damit zerstört es den Rumpf der Titanic. Früher dachte man, die Korrosion von Eisen sei einzig und allein ein chemischer Prozess. Jetzt sehen wir, dass auch Bakterien eine wichtige Rolle spielen. Biochemisch ist das ein ziemlich komplexer Prozess. Wir bezeichnen ihn als Bio-Korrosion."

    Die Bakterien im Biofilm scheinen auf fatale Weise zu kooperieren: Einige der Mikroben bilden Säure, welche die Oberfläche des Rumpfes angreift. Damit ist das Feld bereitet für Halomonas titanicae: Der Einzeller kann das blankgelegte Eisen oxidieren. Die Titanic verrostet. Zum Glück ein Prozess in Zeitlupe, sagt Ventosa.

    "Um Eisen zu oxidieren, braucht das Bakterium Sauerstoff. Allerdings gibt es dort unten, in fast vier Kilometern Tiefe, kaum Sauerstoff. Dadurch verläuft der Korrosionsprozess sehr langsam. Und deshalb ist schwer zu sagen, wann die Titanic endgültig verrottet sein wird."

    Ob und wie sich den Mikroben Einhalt gebieten lässt – die Forscher wissen es noch nicht. Doch nicht nur Eisen verrottet unter Wasser, sondern auch Holz – also das Material, aus dem die alten Wracks bestehen. Über sie machen sich Pilze und Bakterien her – und auch der Schiffsbohrwurm, trotz seines Namens kein Wurm, sondern eine Holz vertilgende Muschel.

    "Das Holz wird sehr schwammig. Es ist stark zersetzt. Nur noch das Wasser erhält die Form. Wenn man einen starken Druck aufgibt, gibt es nach wie ein Schwamm."

    Im Deutschen Schifffahrtsmuseum hat Laborleiterin Jana Gelbrich eine Art Kissen aus Klarsichtplastik vor sich, gefüllt mit Wasser. Darin schwimmt – wie in einem Aquarium – eine alte Bohle. Würde man sie aus dem Wasser holen und trocknen, würde sie schrumpfen, sich beim Trocknen verziehen und dann rasch zerbröseln. Darum müssen Wrackteile aus Holz sofort, nachdem sie geborgen wurden, in Wasser eingelegt werden. Will man sie in einem Museum ausstellen, muss das Holz aufwändig konserviert werden. Ein oberflächlicher Schutzanstrich reicht nicht, schließlich ist das Holz durch und durch verfault. Gefragt ist eine Konservierung mit Tiefenwirkung.

    "In einfachen Worten geht es darum, das Wasser nach und nach durch einen Stoff zu ersetzen, der an der Luft verfestigt und dem Holz die Stabilität gibt, die jetzt noch das Wasser wahrnimmt. Das geschieht durch ganz langsames Ersetzen des Wassers mit einer Konservierungsmittellösung, indem das Mittel in das Holz diffundiert und sich beim anschließenden Trocknen verfestigt und das Holz hoffentlich in seiner Form hält."

    Gelbrich zeigt auf einige Glasfläschchen, gefüllt mit weißen Körnchen. Es sind verschiedene Konservierungsmittel. Im linken Fläschchen ist ganz einfach Zucker.

    "Der Zucker würde sich im Holz anlagern. Und beim Trocknen würde der Zucker auskristallisieren und das Holz festigen."

    Zucker ist billig, hat aber den Nachteil, dass er womöglich von Mikroben gefressen wird. Dann wäre die Konservierung gescheitert. Deshalb greifen die Archäologen gern zu einer teureren Alternative, einem Kunstharz namens Polyethylenglykol, kurz PEG. Zum Konservieren wird das Wrackteil in eine PEG-Lösung gelegt. Damit genug Kunstwachs ins Holz einzieht, muss Gelbrich schrittweise die PEG-Konzentration erhöhen.

    "Es ist ein langwieriger Prozess. Die Konservierung würde ich über zwei bis drei Monate im Konservierungsbad sehen. Die Trocknung ist auch mit mindestens zwei Monaten anzusetzen."

    Und das gilt für kleine Holzteile. Für komplette Wracks dauert die Prozedur viele Jahre. Bei der Bremer Kogge waren es 18 – ein enormer Aufwand. Nur: Wie lange die Konservierung hält, das wissen die Experten noch nicht.

    "Direkte Untersuchungen dazu liegen noch nicht vor. Das ist ein ganz frisches Forschungsfeld, dass man das Langzeitverhalten der verschiedenen Konservierungen, die derzeit verwendet werden, untersucht und hoffentlich feststellt, dass sie sehr lange halten."


    "Wir sind mit der Linie fertig. Können wir die nächste 30 Meter nach Westen legen?"

    "300 Meter nach Westen."

    Auf der Kieler Förde steuert Jens Auer ein drittes Wrack an.
    Jens Auer: "Das ist ein hölzernes Wachschiff. Die Länge vermutlich um 18 Meter, steht hier."

    Dieses Mal klappt die Bildaufnahme wie am Schnürchen. Zufrieden blickt Paul Baggaley auf den Bildschirm des Sonargeräts.

    "Wir sind in einem perfekten Abstand am Wrack vorbeigefahren, besser geht es nicht. Wir können genau sehen, wie Bug und Heck des Schiffes vom Meeresgrund aufragen. Der mittlere Teil des Schiffes aber ist zerstört. Da ist keine Struktur mehr zu erkennen. Damit ist es unmöglich, etwas über die Charakteristik dieses Schiffes auszusagen. Sehr schade in diesem Fall."

    Solche Sonaraufnahmen dienen vor allem dazu, Tauchgänge vorzubereiten. Nur Taucher können letztlich erkennen, ob ein Wrack ein archäologischer Schatz ist oder nur Schrott am Meeresgrund. Baggaley:

    "Solche Bilder nutzen wir, um unsere Taucher von der Brücke aus zu dirigieren. Wir können ihnen sagen, wohin sie schwimmen sollen, um sich etwas anzuschauen oder Fotos zu machen. Am Ende haben wir dann die Sonaraufnahmen und die Informationen der Taucher. Das zusammen erzählt uns dann die ganze Geschichte eines Wracks."

    Für heute sind die Messungen beendet. Auf dem Rückweg nach Kiel sitzt Jens Auer in der Schiffsmesse und erzählt von einem Fund in England, bei dem Bergung und Konservierung alles andere als optimal gelaufen waren.

    "Ein sehr spannendes Wrack mit einmaligen Konstruktionsdetails. Das wurde geborgen im Zuge von Ausbaggerungsmaßnahmen in der Themse."

    Das Gresham-Wrack, ein englisches Handelsschiff aus dem 16. Jahrhundert. 2004 mussten es die Archäologen aus der Themse bergen, das Wrack war den Baggern im Weg. Für eine Konservierung fehlte das Geld. Also entschloss man sich, die Wrackteile einfach in einem See zu lagern. Auer:

    "Das sieht man als billige Möglichkeit der Aufbewahrung. Leider können in einem See völlig andere Organismen vorherrschen, die das Holz angreifen. In diesem Fall war es kein besonders gelungenes Experiment, weil das Holz im See stark angegriffen wurde und das Wrack jetzt langsam zerfällt."

    Auch bei der Konservierung mussten die Fachleute immer wieder Lehrgeld zahlen. So haben Versuche mit Salz die Hölzer zerstört. Deshalb sind Fachleute wie Mike Belasus vom Deutschen Schifffahrtsmuseum durchaus skeptisch, wenn sie ein neues Wrack entdeckt haben: Soll man es tatsächlich bergen?

    "Man macht das heutzutage wirklich nur dann, wenn es nicht zu umgehen ist. Wenn dort eine Windkraftanlage draufgestellt werden müsste, wenn dort eine Pipeline durchgebaut wird. Auf alle Fälle gilt die Regel, dass man, sofern es nicht anders geht, solche Funde erst mal dort unten lässt, wo sie sind. Denn es ist ein riesiger Aufwand, sie zu konservieren."

    Unten am Meeresboden ist ein Wrack oft am besten aufgehoben, bleibt länger erhalten als an der Luft. Manchmal aber sind die hölzernen Überreste auch unter Wasser bedroht. Strömungen können sie aus Sedimenten freilegen, und plötzlich sind die Wrackteile Mikroben und Bohrmuscheln ausgeliefert. Dann, sagt Jana Gelbrich, greift man immer öfter zu einer noch jungen Methode, der In-situ-Konservierung.

    "Diese Schutzmaßnahmen sind eine vollständige Abdeckung des Objekts, um solche Zersetzungen wie die Bohrmuschel zu verhindern. Die Aktivität der Bakterien kann man verhindern, indem man sehr hohe Schichten aufbaut und ein nahezu geschlossenes System herstellt, in dem man das Ganze mit Folien abdeckt."

    Ein unterseeischer Schutzmantel für Wrackteile, den die Archäologen regelmäßig überwachen. Für die Zukunft ist denkbar, dass Sensoren den Sauerstoff- und Säuregehalt des Wassers messen. Würde das Wrack schneller verrotten als gedacht, müsste man die Teile dann doch bergen. Dauerhaft erhalten könnte man sie wohl kaum. Aber wenigstens hätten die Fachleute noch Zeit, um die archäologischen Schätze – bevor sie endgültig zerfallen – unter die Lupe zu nehmen. Das Aufregendste aber werden auch in Zukunft neue, spektakuläre Funde sein – zum Beispiel ein Wrack aus der Flotte des Christoph Columbus.

    August 1502, die vierte Reise des Christoph Columbus. Am Kap Honduras betritt der Entdecker erstmals das amerikanische Festland. Doch die Reise steht unter keinem guten Stern: Beharrlich sucht Columbus eine Passage nach Indien und China. Nur: So eine Durchfahrt gibt es nicht. Seine vier Schiffe steuern die Bucht von Nombre de Dios an. Da erreicht ihn die Hiobsbotschaft: Ein Schiff, die "Vizcaína", ist komplett vom Schiffsbohrwurm durchlöchert. Die Mannschaft muss es aufgeben, die "Vizcaína" versinkt in den Fluten der Karibik. Dem Wrack wähnen sich die Archäologen schon dicht auf der Spur...