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Schläge, Tritte, Elektroschocks

"Yo soy un hombre sincero" - "Ich bin ein aufrichtiger Mann aus dem Land, in dem die Palmen wachsen", dichtete einst Kubas Nationalheld José Marti. Das Lied von der hübschen "Guantanamera" ging um die Welt, ist heute fast so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne Kubas. Das "Land, in dem die Palmen wachsen", könnte ein Stück vom Paradies sein, hätten die USA dort nicht einen Vorhof der Hölle eingerichtet: das Gefangenenlager Guantanamo.

    "Vergessen habe ich davon nichts, aber einige Folterarten sind natürlich ein bisschen schlimmer zu ertragen gewesen, als andere. Wie sie mich in Ketten gehangen haben, oder wie sie mich hungern lassen haben."

    Murat Kurnaz, in Bremen geboren und aufgewachsen, verbrachte mehr als 1600 Tage in Amerikas "GULAG": "Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo". Das Buch ist heute erschienen. Eine Rezension von Volker Skierka.

    "Willkommen im Camp Delta!" Jovial und mit stolzem Selbstbewusstsein begrüßte der amerikanische Offizier Anfang Januar 2004 eine kleine Gruppe Journalisten in dem Hochsicherheitsgefängnis des US-Militärs auf dem Marinestützpunkt Guantánamo auf Kuba. Es war nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf Weisung des Weißen Hauses hier installiert worden, um Terroristen wegzuschließen. Unsere unmittelbare Assoziation beim Anblick des weitläufigen, von hohen, stacheldrahtbewehrten Drahtgitterzäunen eingefassten, kalt und bedrohlich in der Sonne glänzenden Komplexes aus Stahlkäfigen war die von dem perfektesten und modernsten Konzentrationslager, das je gebaut worden war. Das Militärpersonal sah das offenbar ähnlich. Einer der ersten, den sie auf Guantánamo einsperrten, war der in Bremen geborene Deutsch-Türke Murat Kurnaz. Mit Hilfe des Journalisten Helmut Kuhn gibt er uns in seinem "Bericht aus Guantánamo" jenen Einblick in den Lageralltag, der uns Besuchern verwehrt oder schön-gelogen dargestellt worden war. Bei seiner Ankunft habe er, so Kurnaz, einen Vorgeschmack auf das Bevorstehende erhalten, als ein deutsch sprechender Vernehmungsoffizier namens Gail Holford ihn mit den Worten begrüßte:

    "Weißt du, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben? Genau das machen wir jetzt mit euch."

    Nüchtern, fast emotionslos, beschreibt Kurnaz mit Kuhns Hilfe, was ihm in den darauf folgenden Jahren widerfuhr. Angefangen hatte seine Odyssee am 3. Oktober 2001. Ausgerechnet drei Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September war er als frisch Vermählter nach Pakistan gereist - angeblich um Koranschulen zu besuchen, bevor seine türkische Frau zu ihm nach Deutschland ziehen sollte. Zwei Monate später, am 1. Dezember, als er schon auf dem Heimweg war, wurde er bei Peschawar aus dem Bus geholt. Während er gehofft habe, seine Festnahme werde sich bald als Missverständnis herausstellen, verschob man ihn zwei Monate lang durch pakistanische Gefängniszellen, ehe er in einem US-Militärlager im benachbarten afghanischen Kandahar landete. Ihm wurde vorgehalten, dem Terrornetzwerk Al Qaida anzugehören. Sein Alltag und der dutzender Mitgefangener bestand aus Schlägen, Tritten, Elektroschocks, der Simulation von Ertrinken durch Untertauchen des Kopfes im Wasserbad bis hin zu tagelangem Aufhängen an Handschellen und Eisenketten. Eines Tages habe er Besuch von zwei Männern in deutscher Uniform bekommen.

    "Der Dunkelhaarige kam auf mich zu. Er beugte sich zu mir herab und zog mich an den Haaren.
    "Weißt Du, wer wir sind?", schrie er mich an ... .
    "Wir sind die deutsche Kraft, das KSK!", brüllte er. Ich lag, die Hände auf dem Rücken, vor ihm im gefrorenen Dreck, und er hielt meinen Kopf in der Hand. Dann schlug er ihn, die Nase voran, auf den Boden. Der Deutsche richtete sich auf. Ich spürte einen Tritt."

    Am 2. Februar 2002 wurde Kurnaz nach Guantánamo verfrachtet. Monate später, am 23./24. September hatte er wieder eine Begegnung mit deutschen Landsleuten. Zwei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes verhörten ihn. Zwei Tage später meldete der BND überraschend an das Bundeskanzleramt:

    "USA sehen die Unschuld von Murat Kurnaz als erwiesen an. Er soll in etwa sechs bis acht Wochen entlassen werden."

    Von da an wusste die rot-grüne Regierung Schröder in Berlin Bescheid, dass der als "Bremer Taliban" bezeichnete Kurnaz kein Terrorist war und somit unschuldig auf Kuba saß. Aber das half ihm nicht. Vielleicht, so wurde spekuliert und suggeriert, hat er ja ein Terrorist werden wollen, und er wurde nicht genommen. Es war ja tatsächlich rätselhaft, weshalb ein neuerdings islamistischer 19-Jähriger, der nur eine knappe Autostunde vom Hamburger Wohnort des Haupttäters der Terroranschläge vom 11. September 2001, Mohammed Atta, entfernt lebte, so naiv sein konnte, so kurz nach den New Yorker Anschlägen und wenige Tage vor dem in der Luft liegenden Angriff der Amerikaner auf Afghanistan in das pakistanische Grenzgebiet zu Afghanistan zu reisen.

    Gleichwohl: Es lag nichts gegen ihn vor. Dennoch sperrte sich Berlin im Herbst 2002, Kurnaz aus Guantánamo herauszuholen - vier weitere, für Kurnaz lebensgefährliche Jahre der Willkür, Erniedrigung, Isolationshaft, andauernder Prügel und Folter folgten. Des vollkommen hilflosen Ausgeliefertseins. Wüsste man nicht längst aus zahlreichen anderen Berichten ehemaliger Gefangener, aus Dokumenten des US-Kongresses, darunter Untersuchungsberichte des FBI, was das US-Militär und die Geheimdienste in dem Lager mit ihren Häftlingen alles angestellt haben, es fiele schwer, den Schilderungen von Kurnaz zu glauben. Zum Beispiel dieser:

    "Als ich in den Käfig zurückkam, traute ich meinen Augen nicht: Da war ein neuer Gefangener in Charly-Charly-1, einem Käfig, der bisher leer gestanden hatte. Er war noch jung, vielleicht so alt wie ich, neunzehn oder zwanzig Jahre. Er lag auf dem Boden und gab leise Geräusche von sich. Er hatte keine Beine mehr. Seine Wunden waren noch ganz frisch. Der Verband, der darumgewickelt war, hatte sich rot und gelb verfärbt. Alles blutete und nässte. Ich sah, wie er sich aufrichtete. Er kroch zu dem Eimer in seinem Käfig und versuchte daraufzuklettern. Er musste wohl auf die Toilette. Er versuchte, sich mit den Händen am Maschendraht heraufzuziehen, um den Eimer zu erreichen. Aber er schaffte es nicht. Trotzdem versuchte er es verzweifelt. Da kam ein Wärter und schlug ihm von draußen mit dem Knüppel auf die Hände. Der Junge fiel zu Boden. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich auf den Eimer zu hieven, kamen die Wärter und schlugen ihm auf die Hände. Das war Gesetz: Wir durften den Draht nicht berühren. Sie sagten, er dürfe nicht aufstehen. Wie hätte er das können, ohne Beine!? Er dürfe sich nicht an das Gitter anlehnen. Er dürfe auch nicht liegen. Sie ließen ihn nicht einmal auf den Eimer kriechen. "

    Die Schläger, das sind die "IRF-Teams", die "Immediate Reaction Force". Einheiten aus fünf bis acht martialisch herausgeputzten Soldaten mit schweren Stiefeln, Knüppeln und Pfefferspray. Kurnaz begriff anfangs nicht, warum er auf sinnloseste Weise bestraft wurde, er konnte kein System erkennen. Bis er begriff: Die Bestrafung war das System. Es besteht in der dauernden Demütigung durch Prügel zu jeder Tages- und Nachtzeit und anderen Schikanen. Wärter spucken ins ohnehin schlechte Essen, trampeln mit ihren Füßen auf dem Koran herum, versuchen Häftlinge durch weibliche Aufseher sexuell erniedrigen zu lassen, verweigern ihnen den Hofgang oder das Duschen. Kurnaz spricht sogar von drei Morden an Häftlingen, die als Selbstmord durch Erhängen ausgegeben wurden. Es kam zu Hungerstreiks und einmal, nachdem Ende 2002 General Geoffrey Miller, der spätere Chef von Abu Ghraib und Gewährsmann des damaligen US-Verteidigungsministers Rumsfeld, das Kommando übernommen hatte, bombardierten die Gefangenen ihn bei einem Rundgang aus den Zellen heraus mit Kot. Miller verschärfte die Lage laut Kurnaz dramatisch.

    "Das Erste, was General Miller anordnete, war die "Operation Sandmännchen". Das bedeutete, dass wir alle ein bis zwei Stunden in eine neue Zelle verlegt wurden. Das Ziel der Operation war, dass wir überhaupt keinen Schlaf mehr fanden."

    Uns Journalisten gegenüber hatte Miller solche Foltermethoden jedoch kategorisch bestritten:

    "Wir wenden weder Schlafentzug noch physische Techniken an. Um offen zu sein, die nützlichsten Ergebnisse erzielen wir, indem wir von der üblichen Verhörpraxis ab- und beinahe zur Konversation übergehen. Das ist eine Kunst. Unsere Verhörspezialisten sind sehr gut."

    Kurnaz' Buch ist die beklemmende Chronologie eines Wirklichkeit gewordenen Alptraums von der systematischen Demontage des Rechtsstaates. Ein erschütterndes Dokument, welches belegt, auf welch abschüssige Bahn sich die westliche Zivilisation durch die unheilige Allianz pseudoreligiöser Gotteskrieger, fanatisierter und traumatisierter Sicherheitspolitiker sowie zynisch kalkulierender Militärs und Rüstungsunternehmer gleichermaßen hat bringen lassen.

    Kurnaz' persönliche Schilderungen erlittener Demütigungen und Folterqualen, die vom Präsidenten der USA ausdrücklich und von einer rot-grünen Bundesregierung durch Wegsehen sanktioniert wurden, dürften selbst für jene, die über einen robusten Glauben an Demokratie und Rechtsstaat verfügen, kaum auszuhalten sein. Kurnaz' präzises Protokoll zwingt die Frage auf, ob es nicht höchste Zeit ist, dass die Bundeskanzlerin manche Personen, die politische und administrative Verantwortung ausüben, endlich ausbremst. Angela Merkel, die Kurnaz aus Guantánamo herausgeholt hat, scheint manchmal die einzige in Berlin zu sein, deren moralischer Kompass noch funktioniert.

    Volker Skierka über Murat Kurnaz mit Helmut Kuhn, "Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo". Heute erschienen bei Rowohlt Berlin, 16.90 Euro.