Archiv


Schlagbilder

Was hat die vieldiskutierte Schock-Werbung des italienischen Konfektionärs Benetton mit der Graffiti-übersäten Berliner Mauer zu tun? Was die Demontage des Berliner Lenin-Denkmals mit dem Titelblatt des SPIEGEL vom 7. Dezember 1970, auf dem Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal zu sehen war?

Klaus Modick |
    Sie können, mit einer Prägung des bedeutenden Kunsthistorikers Aby Warburg, als "Schlagbilder" gesehen und gedeutet werden - und genau das tut der Jenaer Kunsthistoriker Michael Diers in seinen klugen, auch stilistisch eleganten Essays, die jetzt unter dem Titel "Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart" erschienen sind. Dem Schlagwort, das nicht selten eine Zeit oder Zeitströmung auf einen stimmigen, mitunter auch polemischen Begriff zu bringen vermag und in aller Munde ist, antworte, so Diers’ These, mit dem Schlagbild in ähnlicher Funktion eine ubiquitäre, ganz auf Wirkung verlegte, eindrückliche Darstellung, seien es zum Beispiel Reklame- oder Pressebilder, aber auch architektonische Symbolwerke wie historische Denkmäler oder eben auch die Berliner Mauer mit ihren realen, zugleich jedoch auch gestischen und - ungewollt oder gewollt - ästhetischen Herrschaftsansprüchen.

    Der französische Medienphilosoph Paul Virilio hat die Bemerkung gemacht, daß im Zeitalter der Simulationen das öffentliche Bild an Stelle und Funktion dessen tritt, was im gesellschaftlichen Kontext zuvor der öffentliche Platz war. "Die Repräsentation wird wichtiger als das tatsächlich Geschehene." Zur Signatur einer Epoche wie der des Zwanzigsten Jahrhunderts werden also immer weniger der rationale Diskurs und längst nicht mehr die optischen oder sprachlichen Kunstwerke, die, mit Ausnahme des Kinos, immer stärker ins museale Abseits einer Experten- und Liebhaberkultur abgedrängt werden. Epochenerfahrung bündelt sich heute viel mehr im Pressefoto oder im Werbespot, in Manifestationen also, die massenwirksam und massenweise ins Kollektivbewußtsein eindringen und dieses konturieren. Insofern stehen bei Diers’ Analysen nicht der Kunst-, sondern jener Bildcharakter im Vordergrund, der sich durch den spezifischen Funktionsbereich ergibt. Das ist allein schon deshalb der Rede wert, weil gerade die Kunstgeschichte im Verdacht steht, als akademische Disziplin welt- und gegenwartsentrückte Orchideenstudien zu betreiben, statt sich mit der optischen Umstrukturierung der Welt im telematischen Zeitalter zu befassen.

    Aby Warburg, den der propagandistische Mißbrauch von Bildmaterial im Ersten Weltkrieg vom Kunsthistoriker zum Bildhistoriker gemacht hatte, war mit seinen Einsichten, daß die öffentliche Bildproduktion anwachsend die Kommunikation und das gesellschaftliche Leben bestimmt oder gar beginnt, sich an dessen Stelle zu setzen, lange isoliert geblieben. Die Essays von Michael Diers greifen hier endlich wichtige Impulse auf, indem sie die Inflation öffentlicher Bilder eng "in den Bezugs- und Zuständigkeitsbereich einer Kunstgeschichte als Bildgeschichte" rücken, "einer Disziplin also, die sich nicht allein mit der Rolle einer Spezialistin für die Kunst bescheidet".

    Dies Buch ist allerdings und glücklicherweise weit davon entfernt, eine rein akademische Standortbestimmung für Spezialisten zu sein, auch wenn ein etwas umständliches Vorwort derartige Befürchtungen wecken könnte. Methodisch steht Diers nämlich nicht nur unter dem Einfluß Aby Warburgs, sondern auch und besonders Walter Benjamins - weshalb der letzte Beitrag, wenn auch etwas außerhalb des Kernthemas, den Camouflagen gewidmet ist, mit denen sich Benjamins Briefsammlung "Deutsche Menschen" verhüllen mußte, um im nationalsozialistischen Deutschland - zumindest bescheiden - öffentlich werden zu können. Und so spricht hier überall eine subtile, oft auch sprachwitzige Anschaulichkeit aus den detailfreudigen Überlegungen, die natürlich mit reichhaltigem Bildmaterial belegt sind; und sie spricht zu allen, die sich für die Wirkmächtigkeit optischer Manifestationen im gesellschaftlichen Alltag interessieren.