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Schlaglicht auf eine vergangene Zeit

Es ist eines der Erfolgsbücher der Saison "Ich bitte nicht um mein Leben. Eine junge Christin entflieht dem iranischen Terrorregime" von der aus Iran stammenden Kanadierin Marina Nemat. Fast zeitgleich kam dieser autobiografische Bericht in 16 Ländern auf den Markt, 2008 soll er sogar in China erscheinen. Ob der Bestseller auch ein lesenswertes Sachbuch ist, hat Elisabeth Kiderlen untersucht.

    "Am 18. August 1991, einem schönen sonnigen Tag, landeten wir auf dem Pearson International Airport von Toronto... Wir ließen die Vergangenheit hinter uns, es war in unser aller Interesse, dass ich mit ihr abschloss. Wir mussten ein neues Leben beginnen in diesem fremden Land, das uns eine Zuflucht bot, als es keinen anderen Ort mehr gab, wohin wir hätten gehen können."

    So beginnt der autobiografische Bericht von Marina Nemat aus der Zeit kurz nach der iranischen islamischen Revolution von 1979. Eine solche Einleitung wirft die Frage auf: Warum wollte die Autorin, anscheinend seit über einem Jahrzehnt um die Verdrängung des Erlebten bemüht, nun doch auf ihre Schreckenszeit im Teheraner Evin-Gefängnis zurückblicken? Nemat nennt als Motivation die Ermordung der iranisch-kanadischen Fotografin Zahra Kazemi 2003 im selben Gefängnis, die alles Verdrängte wieder aufgewühlt habe.

    "Es begann damit, dass immer wieder Bilder aus meiner Erinnerung auftauchten. [...] Die Vergangenheit begann Besitz von mir zu ergreifen, [...] ich musste ihr ins Auge sehen, sonst hätte ich meine Gesundheit ruiniert."

    Marina Nemat gehört mit ihrer Familie inzwischen zur kanadischen Mittelklasse, wie sie mit einigem Stolz schreibt. Und doch gibt es ein Jenseits der Idylle.

    "Ich begann zu schreiben über meine Zeit im Evin-Gefängnis - dem berüchtigten Teheraner Gefängnis für politische Gefangene -, über die Folter, das Leid, den Tod und all die Qualen dort, über die ich niemals hatte sprechen können. [...] Ich glaubte, wenn ich erst alles aufgeschrieben hätte, würde es mir besser gehen - doch dem war nicht so. [...] Ich konnte meine Aufzeichnungen nicht in einer Nachttischschublade begraben. Ich war Zeugin und musste aussprechen, was ich erlebt hatte."

    Es ist tatsächlich eine unglaubliche Geschichte, die Marina Nemat erzählt. Sie kommt aus einer christlichen Familie, gehört also zu einer im Iran geduldeten religiösen Minderheit. Oft geht sie in die Kirche und betet zu Maria. Im Januar 1982 wird sie verhaftet. In der Schule hatte sie sich mit einer Lehrerin angelegt, weil diese die jungen Mädchen politisch indoktrinieren wollte anstatt ihnen Mathematik beizubringen. Als die Lehrerin Marina wütend aufforderte, das Klassenzimmer zu verlassen, begleiteten sie alle ihre Mitschülerinnen. So wurde sie ungewollt zur Anführerin eines Streiks und damit notorisch. In der damals noch ungefestigten islamischen Republik waren Attentate gegen die neue Führung und Exekutionen von Oppositionellen an der Tagesordnung. Und Marina kannte einige linksradikale Volksmudjahedin. So kam die damals 16-Jährige ins Evin-Gefängnis. Mit verbundenen Augen musste sie das erste Verhör über sich ergehen lassen - und jetzt die Überraschung: Der Kerkermeister, Zitat, "hatte eine tiefe und freundliche Stimme". Sie unterhalten sich über das Christentum.

    "Der Mann sagte mir, dass es im Heiligen Koran eine Stelle gebe, in der von Maria, der Mutter Jesu, gesprochen werde. Muslime sähen in Jesus einen großen Propheten und hätten großen Respekt vor Maria. Er bot sich an, mir eine Stelle aus dem Koran vorzulesen. [...] Ich schien ihn wirklich interessiert zu haben. Vielleicht war ich die erste Christin, die er im Evin-Gefängnis getroffen hatte. Vielleicht hatte er geglaubt, ich sei wie die meisten muslimischen Mädchen aus traditionellen Familien still, schüchtern und unterwürfig - Eigenschaften, die ich alle nicht besaß."

    Mit dieser trotzigen Haltung kann sich eine westliche Leserschaft schnell identifizieren. Doch weiter: Ali, so heißt der Mann, der sie im Namen des Islamischen Revolutionsgerichts verhört, ist kein schlechter Mensch. Dann gerät Marina allerdings in die Hände von Hamed, der mit einem Kabel auf ihre Fußsohlen einschlägt, bis sie bluten. Eine weitere Person betritt die Folterkammer.

    "'Hat sie geredet, Hamed', fragte er. 'Nein, sie ist ganz schön widerspenstig. Aber keine Sorge, bald plaudert sie.' 'Marina, das ist deine letzte Chance', sagte der Hinzugekommene. Jetzt erkannte ich seine Stimme. Es war Ali."

    Marina wird verurteilt. Hamed übernimmt das Erschießungskommando. In letzter Sekunde rettet Ali sie. Er ist zu Ayatollah Khomeini höchst persönlich gegangen, und dieser hat das Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt. Doch wenn sie zum Islam konvertieren und Ali heiraten würde, könnten beide ein gemeinsames Leben führen. Marina will nicht, doch dann gibt sie nach, um Familie und Freunde zu schützen. Sie heiraten, die Gefängnisstrafe wird in Hausarrest umgewandelt. Nachdem Marina schwanger geworden ist, wird sie entlassen.

    Der Beruf ihres Mannes erfüllt Marina immer wieder mit Entsetzen. Doch just in dem Moment, da Ali ihrem Drängen nachgibt und seine Arbeit im Gefängnis aufgeben will, wird er erschossen. Das Ehepaar war gerade aus dem Haus gegangen, als ein Motorrad mit zwei Männern herbeibraust. Ali wirft sich auf Marina und wird von mehreren Schüssen getroffen. Wahrscheinlich, so erfährt Marina später, wurde er von Hardlinern aus dem Umkreis von Hamed getötet, denn im Gefängnis tobte ein Kampf zwischen Radikalen und Moderaten.

    Nachdem Marina eine Totgeburt erlitten hat, ist der Weg frei für ihre wahre Liebe: für André, den Organisten ihrer Kirche. Sie heiraten und ziehen in eine Kleinstadt im äußersten Südosten Irans. Nach drei Jahren dürfen sie ins Ausland fahren, nachdem sie eine hohe Kaution hinterlegt haben, die sie von einer Erbschaft bezahlen. Marina wartet in der Schlange vor der Passkontrolle in Kanada:

    "Als ich diese Teenager mit ihren strahlenden, sorglosen Gesichtern sah, wusste ich, dass wir uns in Kanada wohlfühlen würden. Es würde unser neues Zuhause werden, wo wir frei und sicher leben konnten, wo wir unsere Kinder großziehen und sie aufwachsen sehen konnten. Dort gehörten wir hin."

    Es soll hier nicht behauptet werden, dass die Geschichte von Marina Nemat, so unwahrscheinlich sie sich auch anhört, nicht stattgefunden haben könnte. Nur erinnert sie in der ganzen Machart auffällig an einen anderen Bestseller, der Anfang der 90er Jahre Furore machte: "Nicht ohne meine Tochter" von Betty Mahmoudi. Auch da wird eine selbstbewusste Christin im Gegensatz zu unterwürfigen oder fanatischen islamischen Frauen gezeigt, auch da riskiert eine junge Frau viel, um dem Land der Finsternis zu entkommen, nur dass "Ich bitte nicht um mein Leben" noch mehr reißerische Ingredienzien aufweist - Liebe unter der Folter, Rettung in letzter Sekunde, Vergewaltigung in der Ehe und ganz zuletzt das wahre Glück.

    Beide Bücher, der Bericht von Betty Mahmoudi und der von Marina Nemat, beruhen auf wirklichen Erlebnissen. Doch hier wie dort haben sich Journalisten, Agenten, Verleger, Helfer darüber hergemacht und die Geschichten in eine solche Form gebracht, dass sie das erreichen, was sie sollen: Klage und Anklage, vielleicht eine Aufrüstung der Sprache. Ebenso wie Mahmoudi wirft auch Marina Nemat in ihrem Buch ein sehr subjektives Schlaglicht auf eine Zeit, die 25 Jahre zurückliegt. Der Leser sollte es nicht als eine Charakterisierung des heutigen Iran missverstehen. Denn seither hat sich trotz der Präsidentschaft von Ahmadinedschad und trotz der Ermordung der Fotografin Zahra Kazemi in Iran sehr viel verändert: Eine lebendige Zivilgesellschaft hat sich herausgebildet, mehr Studentinnen als Studenten machen einen Hochschulabschluss, eine gemeinsame Bewegung von islamischen und säkularen Frauen kämpft für Reformen. "Ali" und "Hamed" wären heutzutage vermutlich ganz anders "gestrickt".


    Marina Nemat: Ich bitte nicht um mein Leben. Eine junge Christin entflieht dem iranischen Terrorregime
    Weltbild Buchverlag, München 2007
    390 Seiten, 12,95 Euro