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Schlamm, Vogeleier, Fischfang und Luftschlösser

Edward Thomas "Die Unbekümmerten" umkreist auf immer neuen Wegen das Lebensgefühl von Einzelnen, die nicht so ganz von dieser Welt zu sein scheinen. Im Mittelpunkt steht die Familie Morgan, die in einem großen, gastfreundlichen Haus im Süden Londons lebt. Hier gibt es kein Zutrittsverbot für Bettler und Hausierer, die Gartentür steht jedermann offen. Die Kinder gehen ohne Gewissensbisse ihren Vorlieben für Schlamm, Vogeleier, Fischfang und Luftschlösser nach, von den Erwachsenen nicht nur unbelästigt, sondern eher unterstützt.

Von Sabine Peters | 16.08.2005
    Als kleiner Junge schrieb Edward Thomas in sein Schulheft: "Ich mag Vögel lieber als Bücher." Im Alter von 16 Jahren veröffentlichte er seine ersten Essays. In dieser Zeit tauchte auch das auf, was man unter dem Begriff "Depression" zu fassen versucht und was ihn zeitlebens nicht verließ. Und dann - nach diversen Natur- und Reisebänden - ein Roman, der in England erstmals 1913 erschien. Ein Roman wie eine leise und dabei entschiedene Antwort auf die Depression. Ein Roman als Gegenentwurf, als eine fast vollständige Wunscherfüllung; als ein nicht geträumtes, sondern als gelebtes Glück. Das Buch "The Happy-Go-Lucky Morgans" oder, in der deutschen Übersetzung, "Die Unbekümmerten" umkreist auf immer neuen Wegen das Lebensgefühl von Einzelnen, die nicht so ganz von dieser Welt zu sein scheinen. Im Mittelpunkt steht die Familie Morgan, die in einem großen, gastfreundlichen Haus im Süden Londons lebt. Hier gibt es kein Zutrittsverbot für Bettler und Hausierer, die Gartentür steht jedermann offen. Der Ich-Erzähler erinnert sich, wie er als Kind und Jugendlicher hier ein- und ausging. Auch er selbst war einer derjenigen, die so lebten, als habe die Zeit noch nicht begonnen. Edward Thomas´ Roman ist der Ausdruck eines großen Staunens über eine kleine Welt, über eine ländliche Gegend, in der jeder Weg voller Geheimnisse wie ein Wald ist, in der Sonette auf Heuhaufen gedichtet werden, in der es die Kategorie des Unwahrscheinlichen nicht gibt. Die Kinder gehen ohne Gewissensbisse ihren Vorlieben für Schlamm, Vogeleier, Fischfang und Luftschlösser nach, von den Erwachsenen nicht nur unbelästigt, sondern eher unterstützt. Kein Wunder: Diese Erwachsenen gehören allesamt zu denen, die als "überflüssige Menschen" bezeichnet werden. Es heißt von ihnen, sie arbeiteten nicht wie die Armen, sie verbrauchten nicht, wie die Reichen; sie lachten, als ob sie keine Christenmenschen wären, sie seien unsolide, kurz, die Schöpfung habe sie aus reiner Lust an der Abweichung, am Rätsel, an der Vielfalt hervorgebracht. So versteht die Haushälterin Ann sich nicht auf Wahrheit und Reinlichkeit, sie ist halb Engel, halb Vogel. Mister Torrance, ein Lohnschreiber, der seine hastig zusammengestellten, fehlerhaften Bücher aus Profitgründen zu albernen Formaten aufblasen muss, hat sich gleichwohl sein heiteres Wesen bewahrt. Mister Stodham erzählt rätselhafte Geschichten wie die von den Frauen mit Schwanenflügeln, die ungeflügelte Männer heirateten. Alle Figuren wissen so oder so von dem, was der französische Ethnologe und Schriftsteller Michel Leiris einmal "das Heilige im Alltagsleben" nannte.

    Edward Thomas´ Roman lässt sich Zeit. Das Haar, das einem Zugpferd in die Augen fällt, findet ebenso gründliche Beachtung wie die seidigen Bäuche der Mäuse oder die immerwährende Dämmerung im Eichenwald. Die hier geschilderte Welt ist fast wie nicht berührt von dem Phänomen der Industrialisierung; Fabriklärm etwa ist hier nirgendwo zu hören. Und doch hat man nicht das Gefühl, es werden einfältige Hinterglasbildchen gemalt, man steckt beim Lesen des Romans nicht in einer Idylle fest. Das hat zum einen mit der Struktur des Romans zu tun: Man weiß gemeinsam mit dem erwachsenen Ich-Erzähler von Anfang an, dass das Morgan House seinen Besitzer wechseln und unkenntlich werden wird. Man weiß, dass seine früheren Bewohner ihr Leben außerhalb der Welt und ihrer ökonomischen Imperative schließlich nicht länger fortsetzen können. Also doch eine durchaus endliche, begrenzte, in der Zeit verklammerte Welt. Der Roman wirkt aber auch deshalb nicht nostalgisch, weil er so unsentimental geschrieben ist. Thomas selbst sagte einmal, er wolle mit den "Unbekümmerten" weg von der prätentiösen, manierierten Sprache, mit der er zu schreiben anfing; er wünsche sich eine Prosa, die mit der Redeweise eines Bauern verwandt sein solle. Wie gut, dass auch in diesem Fall der Roman selbst über das hinausgeht oder das unterläuft und unterwandert, was sein Autor von ihm sagt. "Die Unbekümmerten" sind weit mehr als Bauernrede. Der Roman ist mehrdimensional, aus verschiedenen Textsorten gefügt, die sich gegenseitig produktiv ergänzen. Tagebuchartige Passagen wechseln mit Legenden. Untergründig ironische Kapitel, die das eigene zerrissene Dasein als Rezensent und Lohnschreiber thematisieren, werden ihrerseits von geradezu lyrischen Naturbeschreibungen abgelöst. Und schließlich finden sich auch Kapitel, die zeigen, wie ein Bewusstseinsstrom funktioniert. Der Übersetzer Friedhelm Rathjen weist in seinem Nachwort darauf hin, dass es schwierig ist, Edward Thomas in die Reihe seiner Zeitgenossen literarisch einzuordnen. Die "Unbekümmerten" entziehen sich solchen Versuchen so störrisch und unauffällig, wie auch der Autor selbst immer wieder zu entspringen versuchte: Weg aus der für ihn vorgesehenen Beamtenlaufbahn, weg aus der Büro- oder Lehrertätigkeit. Immer wieder weg auch von der Familie, bevor er mit erst 39 Jahren während des ersten Weltkriegs an der deutsch-französischen Front starb.

    Es ist eine mutige und schöne Entscheidung des Steidl-Verlags, dieses langsame, ziellos herumstreunende Buch herauszubringen. Denn das Glück, das sich hier immer wieder entfaltet, ist für heutige Leser nicht leicht wahrzunehmen: Wenn man diesen Roman unter Kategorien wie "Tempo" oder "Handlungsreichtum" liest, wird man ihn bald aus den Händen legen. Der seltsame Reiz, den die "Unbekümmerten" aber auch gerade heute ausmachen, liegt in der Vorstellung, es könne nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene eine Existenzweise geben, die sich allen gesellschaftlichen Forderungen entzieht. Die Morgans und ihre Freunde erinnern mit beiläufiger Selbstverständlichkeit an einen Satz, der geradezu subversiven Charakter hat und der auch dem häufig so niedergedrückten, bekümmerten Autor Edward Thomas wohl oft unglaublich schien: Die Seele ist unbezähmbar, sie ist ein heiliger Bereich und eine Wildnis.

    Edward Thomas:
    "Die Unbekümmerten"
    (Steidl Verlag).