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Schlangenkind

Eines Tages war das Leben auf meinen Großvater herabgefallen wie ein Tropfen Harz auf eine Fliege. Wer ihn kannte, schwor, dass er sich im Harz bewegte, als wäre nichts weiter geschehen. Sein verfallener Körper war ein Zeichen für die Nichtigkeit körperlichen Verfalls. Für eine Welt, deren Antlitz sich durch den Lauf der Zeit nicht wesentlich änderte. Gestern, heute, morgen bedeuteten meinem Großvater nicht mehr als die Risse am Gemäuer unseres Hauses, die zwar unaufhaltsam in ihrer Entfaltung voranschritten, sich dafür jedoch gerade soviel Zeit ließen, dass er, wenn das Haus einmal einstürzte, weil er sich nie um dessen Instandhaltung gekümmert hatte, wohl nicht mehr in seinem Bett, sondern in der Erde ruhen würde.

Joachim Scholl |
    Dieser Großvater ist ungeheuerlich. Ein Säufer und Spieler, ein schmatzendes, rülpsendes Urvieh, das sich betrunken in die Hose pißt, über seine Frau herfällt, wie es ihm beliebt, und auch sonst auf nichts und niemand Rücksicht nimmt. Solch eine Existenz passt in ein dunkles, allmählich verfallendes Gehöft, tief in der österreichischen Provinz gelegen, und dieser Ort ist denn auch der düstere topographische Ausgangspunkt für Peter Truschners Roman, der schon in den ersten Sätzen eine faszinierende und gleichzeitig schockierende Atmosphäre von roher Kreatürlichkeit entfaltet, wie sie für den gesamten Text prägend sein wird. Es waren, so erzählt der Autor, die Erinnerungen, Bilder und Sequenzen aus der eigenen, in Kärnten verbrachten Kindheit, die den Stoff vorgaben und schließlich zu der überwältigenden Figur des Großvaters führten. Was zunächst lediglich als autobiographische Novelle geplant war, tastete bald nach einem größeren Zusammenhang. Neue Figuren kamen hinzu, die Fiktion übernahm die Regie:

    Wahr ist, dass ich mit der Autobiographie begonnen habe. Dazu stehe ich auch, zu der Kärntner Autobiographie, mit dem Aufwachsen auf dem Land. Die ersten Figuren sind auch ziemlich autobiographisch, vor allem der Großvater und die Großmutter. Dann aber hat sich plötzlich so ein Loch ergeben, vor dem ich gestanden bin, denn der weitere Fortlauf der Geschichte wollte sich nicht an meiner eigenen Biographie entlang schreiben. Die Figuren haben begonnen, ein Eigenleben zu entwickeln, eine Biographie innerhalb des noch zu schreibenden Romanes, die ich ihnen dann zu schreiben gehabt habe. Ab da wird es dann eine völlig freie Erfindung.

    Schlangenkind - das ist die Metapher für den Ich-Erzähler, der bei den Großeltern aufwächst und schon früh eine quasi-schlangenhafte Klugheit entwickeln muß, um irgendwie durchzukommen. Sein Vater, ein windiger Halodri, hat sich aus dem Staub gemacht, die Mutter verdient ihr Geld in der Stadt. Sie ist heilfroh, der ländlichen Enge und Armut, aber vor allem dem Terror des Elternhauses entkommen zu sein. Ihrem lebens- und liebesgierigen Egoismus ist das Kind notgedrungen im Weg, aber zugleich ist es Spielball der Rache. Sie wird den Jungen den Großeltern eines Tages wegnehmen, in einer schrecklichen, mit fast schon grausamer Großartigkeit beschriebenen Szene, die den Leser allerdings mehr traumatisiert als den Erzähler. Er ist sowas schon gewohnt. Überhaupt schwelt eine unheimliche Gewalt in diesem Roman, alle Herzen scheinen aus Stein, selbst die große Liebe der Großmutter zu ihrem Enkel kann sich nur in derbster Zärtlichkeit artikulieren, vom Großvater ist in dieser Hinsicht eh nichts zu erwarten. Aber dennoch schafft sich das Kind seine eigene, beschützte ländliche Welt, die ihm weitaus mehr Freiraum und Spannung bietet, als es später in der Stadt der Fall sein wird. Deutlich und klar schildert der erwachsene Erzähler die Gefühl- und Rücksichtslosigkeit seiner Jugendjahre, aber die kühle, analytische Retrospektive unterschlägt nicht den Zauber jener Zeit. Darauf kam es Peter Truschner besonders an:

    Ich würde es ein bisschen vage poetisch ausdrücken: im Buch zumindest kommt es so rüber, dass trotz aller Gewalttägigkeiten, trotz aller Brutalität, die vor allem auf Seiten des Großvaters zu Tage tritt, es eine wunderbare, geheimnisvolle, dem Chaos entgegenarbeitende Vagheit gibt, auf dem Land, in der ländlichen Unordung, während in der Stadt eigentlich eine sehr wohl geordnete, nach festen Regeln funktionierende Kategorisierung von allem gibt, die aber nicht unbedingt glücklicher macht.

    Die Geschichte einer trüben Jugend ist ein literarisch klassischer Topos, sie im 20. Jahrhundert nach Österreich auf's Land zu verlegen ein gefährliches Stereotyp. Sofort rauschen die Namen Thomas Bernhard, Peter Handke herbei, und Peter Truschner ist sich dieser Tradition und dem damit verbundenen Risiko, in ein exegetisches Raster gepresst zu werden, wohl bewusst. Doch dieses "Schlangenkind" schlüpft elegant vorbei an der immer auch auf das Sozialkritische hinauslaufenden Misanthropie der großen österreichischen Krittler und ihrer beinharten Verdammnis der Verhältnisse auf dem Lande. Peter Truschner geht es nicht um Denunziation eines irgendwie gearteten schlimmen Zustands. Er will nichts beweisen. Ihn interessieren die Stimmungen und Farben, die Atmosphäre von Erfahrungen, die man in der Kindheit durchlebt und immer mit sich tragen wird. Der junge Held hat einiges durchzustehen, doch im unmittelbaren Erlebnis gibt es keine Kategorien von Gut/Böse, nur die instinktive Reaktion, die noch keinen Begriff von davon hat, welche psychischen Auswirkungen damit verbunden sein können. Vor allem in der Beschreibung von Sexualität, von Körperlichkeit wird dies deutlich. Es sind rüde, oft abstoßende Szenen, an die sich der Erzähler erinnert, doch zugleich spürt man die Verlockung, die Faszination des Jungen:

    Ich schreibe ja das so im Text: Das einzige, was das Hirn produziert, ist ein noch ungeheuerlicheres Ausmaß an Neugier, und das Kind will natürlich Anteil nehmen, vor allem an sinnlichen, an direkt faßbar körperlichen Prozessen. Aber gleichzeitg distanziert es sich, und das war auch der Versuch: Kann es gelingen, das ästhetisch nebeneinander und miteinander stehen zu lassen, unmittelbare Sinnlichkeit und gleichzeitige Distanz und Reflexion dieser Unmittelbarkeit, in einer Metapher, in einem Satz, in einem Kapitel.

    Schlangenkind ist ein in jeder Hinsicht beeindruckender Roman. Mit unglaublicher stilistischer Wucht geschrieben, von souveräner dramaturgischer Ökonomie getragen, entfernt sich das Buch meilenweit von jener zur Zeit so hochmodischen Adoleszenz-Literatur, nach der deutsche Verlage gieren. Peter Truschner ist in keiner Weise "trendy" oder "hip", und geradezu erleichtert sieht man einen "literarischen" Autor am Werk, der konsequent auf das Literarische setzt. Die Novellistik Robert Musils, "Die drei Schwestern", "Tonka" oder der "Törless"-Roman seien seine entscheidenden ästhetischen Impulse gewesen, sagt Peter Truschner. Man glaubt ihm auf's Wort und genießt es, wieder einmal solche Gipfelhöhen ins Visier nehmen zu können, ohne dabei peinlich zu erröten. Sein eigenes Selbstverständnis als Schriftsteller klingt schlicht:

    Ich will mit ihr Erfahrungen machen, ich will kein Schreibtischtäter sein und irgendwelche Endprodukte in die Welt setzen, sondern ich will mit ihr, an ihr und durch sie auch für mich Erfahrungen machen. Literatur muss für mich auch eine Art Tauschhandel bereithalten, ein Mehr an Leben und Erleben.

    Man darf gespannt sein, auf welche Art dieses sanft-entschiedene literarische Pathos weiterhin Früchte trägt. Mit seinem Debüt jedenfalls hat Peter Truschner ein entschlossenes Zeichen gesetzt: Hier bin ich, und bei mir gibt es keine Faxen. Von diesem Autor und seinem Anspruch wird noch zu hören sein. Wir freuen uns jetzt schon darauf.