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Schlaraffenland des Käse

Die französische Auvergne ist ein Land der grünen Vulkane, der mineralischen Heilquellen und eine Region, in der fünf staatlich geprüfte Käsesorten hergestellt werden. Eine davon ist der Saint-Nectaire. Seinen Namen hat er von der gleichnamigen Stadt südwestlich von Clermont-Ferrand.

Von Jörg- Christian Schillmöller | 26.09.2010
    So einfach geht das: Der Herr des Hauses ordnet ein Interview mit der Presse an, und sein Freund, der Koch zögert keine Sekunde. Sehr erfreut, sagt er, ich bin Gérard aus Gouadeloupe. Ich koche kreolisch und mache Musik. Also ich hab die Gitarre oben, wenn Sie wollen. Im Handumdrehen ist Gérard zurück und spielt ein karibisches Lied über den Frühling und die Liebe. Der Titel: "Gib mir einen Kuss!"

    "Der Reiz der Auvergne? Das sind die Menschen. Hier wirst Du gut aufgenommen, und die Hautfarbe interessiert keinen. Die Landschaft erinnert mich an meine Heimat Guadeloupe. Die Hügel, die Flüsse, ganz wie auf den Antillen. Und wir grillen und tanzen hier alle zusammen und lassen es uns irgendwo am Flussufer gut gehen."

    Eine gute Zeit in der Auvergne: Das heißt vor allem, richtig gut zu essen. Deftig, reichhaltig – und natürlich nur mit original Erzeugnissen aus der Region. Wer abnehmen will, ist hier falsch.

    "Zur Begrüßung gibt es einen Apéritif aus Hagebutten, danach einen herzhaften Salat, den haben wir nach meiner Mutter benannt, Salade Bernadette. Da kommen Brotwürfel, Speck und Blauschimmelkäse hinein. Als Hauptgericht haben wir dann eine Phonsounette, das ist ein Gratin aus der Auvergne: Eine Schicht gekochte Kartoffeln mit Thymian, dann eine Schicht Saint-Nectaire-Käse, immer abwechselnd, und dazu gegrillte Würstchen."

    La Grange Alphonse heißt das kleine Restaurant, das zum Bauernhof Bellonte gehört, und das heutige Menü erläutert uns der Chef selbst, eine imposante Persönlichkeit, höflich und wohlgenährt.

    "Ich bin Alphonse Bellonte, und ich arbeite hier mit meiner Familie, meinem Bruder, meinen Neffen, Nichten und so weiter. Wir sind eine sehr alte Familie und machen hier seit acht Generationen Käse. Seit kurzer Zeit bin ich auch Bürgermeister von Saint-Nectaire."

    Saint-Nectaire liegt tief in der Auvergne. Die Gegend ist ebenso idyllisch wie verschlafen: Sonnige Hochebenen wechseln mit schattigen Flusstälern. Mal ist die Aussicht feierlich, und der Blick reicht über Gras- und Waldflächen mit grauen Felszähnen bis zum Horizont. Dann geht es plötzlich hinunter in eine enge Schlucht, es zieht Nebel auf - und die kleinen Orte wirken einsam und trostlos. Doch schon eine Viertelstunde später reißt die Wolkendecke auf, und die Sonne kehrt zurück.

    Das beständige Auf und Ab von Landschaft und Stimmung: Das ist Auvergne in Reinkultur. Das Gestein in der Gegend ist vulkanischen Ursprungs, darum gibt es viele alte Heilquellen. Auf dem fruchtbaren Boden gedeihen Gräser und Kräuter besonders gut – sie geben der Milch einen kräftigen Geschmack. Wir stehen vor der Käserei Bellonte, und uns erwartet eine junge Frau mit blonden Haaren und einer schmalen Brille.

    "Je suis Lisa"
    Gleich werden Sie sehen, wie wir aus der Milch unserer Kühe den Saint-Nectaire machen. Okay? Dann hier lang

    "Alors on va rentrer"

    Ein gefliester Raum mit silbernen Kesseln und vielen runden Käseformen aus Holz. Hier wird 365 Tage im Jahr Käse produziert, jeden Morgen und jeden Abend nach dem Melken, 100 Stück pro Tag im Schnitt.

    "Die Milch kommt über Leitungen direkt aus dem Stall hier an, ganz unbehandelt, sie kommt sozusagen direkt aus dem Euter, und wir machen Käse daraus."

    Zuerst wird die Milch zum Gerinnen gebracht – so wird eine Art Dickmilch daraus. Aus 15 Litern Milch wird dann genau ein runder Saint-Nectaire-Käse. Durchmesser 21 Zentimeter, Höhe fünf Zentimeter.

    "Zeig mal her das Etikett, Antoine. Schauen Sie, hier, steht es Saint-Nectaire Fermier, und da sehen Sie die Nummer des Bauernhofes und sogar die Nummer des Käselaibes. Man kann also ganz exakt ablesen, wo und wann dieser Käse hergestellt wurde."

    Gleich hinter der Käserei liegt der Stall. 110 Milchkühe stehen normalerweise hier, nur sind sie gerade draußen auf der Weide, wie immer zwischen April und November. Dann werden sie nur morgens und abends zum Melken hereingeholt. Das ist notwendig, weil die Milch sofort verarbeitet werden muss.

    "Die Kühe kommen durch die Tore herein und gehen ganz von selbst zu ihrem Platz, sie wissen genau, wo sie stehen. Sie können sogar fast ihre Namen lesen, die da an jedem Platz zu sehen sind."

    Zaza, Lea, Alizée und Barbara liest man auf den kleinen Schildchen, aber auch bildhafte Namen wie Neige und Framboise, Schnee und Himbeere. Sie mögen die Melkmaschinen, sagt Lisa. Mit dem Melken von Hand kommen sie dagegen nicht klar. Da werfen sie schnell mal den Schemel um. Wir spazieren vom Stall hinüber an den Hang, denn der Saint-Nectaire wird erst mitten im Berg wirklich zu Käse. Lisa führt uns in eine kühle Höhle. Wir staunen nicht nur, weil Lisa einen Text für uns auf Deutsch vorliest. Wir staunen auch über den Käse hier: Auf Stroh gebettet liegen vor uns 30, 40 kreisrunde Käselaibe in verschiedenen Reifegraden. Hellgelb, goldgelb, gelbbraun, sandfarben und schließlich, nach drei Monaten, schimmlig-dunkelgrau: Dann ist er richtig gut durch, der Saint-Nectaire aus der Käserei Bellonte.

    Unser Besuch in Saint-Nectaire ist zu Ende, aber die Auvergne wollen wir nicht verlassen, ohne auch ihren vulkanischen Wurzeln eine ganz besondere Ehre zu erweisen. Dazu fahren wir nach Orcival, wo uns die außergewöhnlich schöne romanische Kathedrale mit dem Mittagsgeläut begrüßt. Nur ein paar Schritte weiter liegt das Geschäft von Marc-Antoine Sabatier, unser Ziel. Monsieur Sabatier kann man an einem ganz bestimmten Geräusch erkennen, sozusagen sein kulinarisches Markenzeichen

    Klonk, klonk, klonk - so klingt es, wenn man mit einem großen Holzlöffel in geschmolzener Schokolade rührt. Handwerk pur, meint Marc-Antoine Sabatier. Er ist Chocolatier und hat eine Praline kreiert, die er pierre des volcans getauft hat, Vulkangestein. So etwas sehen sie nicht so oft, meint er, während er uns vorführt, wie seine vulkanische Leckerei entsteht.

    "Sehen Sie, ich nehme eine kleine Praline mit Mandel und Nougat, und die tauche ich nun in meinen Kessel mit der geschmolzenen Schokolade, die hat eine Temperatur von genau 31 Grad. Danach wende ich die Praline vorsichtig in Kakaopulver."

    Wir probieren und genießen: Die Pierres des Volcans sind zwar sündhaft teuer, schmecken dafür aber auch sündhaft lecker. Das Kakaopulver bleibt an Lippe und Gaumen hängen, darunter die eingehüllte, etwas knusprige Schokoladenpraline: Das ist das Vulkangestein von Marc-Antoine Sabatier aus Orcival. Mit Käse und Pralinen im Gepäck sind wir jetzt gut für die Heimreise ausgerüstet und sagen Adieu zur Auvergne, zum Saint-Nectaire, zum Koch Gérard und Lisa mit ihren lesenden Kühen - und zu diesem wunderbaren Geräusch, das ein großer Holzlöffel in geschmolzener Schokolade erzeugt.