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Schlechte Bausubstanz trotz Erdbebengefahr

Italien liegt erdbebengefährdet zwischen zwei Erdplatten, der afrikanischen und der eurasischen. Trotz strenger Bauvorschriften werden besonders in Süditalien Häuser ohne Genehmigung und ohne erdbebensicheres Fundament errichtet. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte Kalabrien am südlichen Zipfel des italienischen Stiefels eine ganze Reihe von Erdbeben. Höhepunkt war das Beben in der Meerenge von Messina 28. Dezember 1908. Schätzungsweise 80.000 Menschen kamen dabei ums Leben - doch gelernt hat daraus offenbar niemand.

Von Kirstin Hausen | 29.12.2008
    "Hier wurde alles zerstört, kein Stein blieb auf dem anderen"

    Stadtführerin Annina Petrasca zeigt auf die Betonbauten an der Hafenpromenade von Messina. Vor mehr als 100 Jahren standen hier elegante Palazzi, dahinter das barocke Rathaus, Banken und Handelshäuser. Dann kam der 28. Dezember 1908 und mit ihm die Zerstörung.

    "Es war ein Erdbeben, dessen Dynamik wir recht gut nachvollziehen können."

    sagt der Erdbebenforscher Ezio Faccioli von der Technischen Hochschule Mailand.

    "Die Hauptschäden richtete das Erdbeben selbst an, aber da es sich in unmittelbarer Küstennähe zutrug, löste es auch eine Bewegung des Meeresgrundes - also ein Seebeben- aus. Dieses Seebeben wiederum verursachte anormal hohe Wellen."

    Als der Tsunami südlich von Messina ganze Dörfer wegspülte, lag die florierende Handelsstadt an der Meerenge zu Kalabrien bereits in Schutt und Asche.

    "1908 war wie ein verlorener Krieg", sagt die Historikerin Emanuela Guidoboni vom Institut für Geophysik in Bologna. Messina verlor in einer Nacht fast die Hälfte seiner Einwohner. Auch der Dom und fast alle öffentlichen Gebäude stürzten ein. Die barocke Pracht der Stadt wurde zerstört. Die ersten Hilfsmaßnahmen leisteten Besatzungsmitglieder russischer und britischer Marineschiffe. Später trafen Spenden aus ganz Europa und Übersee ein, mit denen Barackenstädte gebaut wurden. Sie dienten den Überlebenden noch jahrzehntelang als Unterkünfte.

    "Dieses Erdbeben war bedeutsam für die Entwicklung von Sicherheitsnormen und auch für die Art und Weise der Berichterstattung. Denn die Massenmedien von damals, also vor allem die Tageszeitungen, haben die Maßnahmen der Regierung genau unter die Lupe genommen und kritisch begleitet. Der Wiederaufbau von Erdbebengebieten ist in Italien immer problematisch. Die unverhältnismäßig lange Dauer der Aufbauarbeiten zeigt, dass es dabei meist nicht ganz sauber zugeht."

    Korruption und Vetternwirtschaft gab es auch nach späteren Erdbeben. Das eklatanteste Beispiel für eine fehl geleitete Wiederaufbauhilfe stammt aus dem Jahr 1980. Damals zerstörte ein Beben mit einer Stärke von 6,9 auf der Richterskala Teile der Regionen Kampanien und Basilicata im Südwesten des Landes. Circa 3.000 Menschen kamen dabei ums Leben, noch viel mehr verloren ihre Häuser. Am Wiederaufbau verdiente sich die Camorra eine goldene Nase. Die Mafia-Organisation aus Neapel zog gesichtslose Wohnblocks von schlechter Bauqualität hoch und strich dafür überhöhte staatliche Geldleistungen ein.

    "Nur wenige wissen, dass das Erdbeben von 1976 in der norditalienischen Region Friaul das einzige ist, bei dem der anschließende Wiederaufbau offiziell abgeschlossen ist. Alle anderen Erdbebengebiete sind auf dem Papier immer noch nicht vollständig wiederhergestellt."

    Einschließlich dem von 1908 in der Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien. Noch heute kann man deswegen bei den Verwaltungen der beiden Regionen Fördermittel für den Wiederaufbau beantragen. In der Praxis macht das jedoch kaum jemand. Das wäre auch absurd. Aber abgesehen davon, scheint die Erinnerung an das Erdbeben vor 100 Jahren ausgelöscht, bedauert die Historikerin Emanuela Guidoboni.

    "Es gibt viel Widerstand, was mit dem Glauben zu tun hat, über Unglücke sollte man nicht sprechen."

    Diesen Glauben haben Seismologen wie Ezio Faccioli von der technischen Hochschule Mailand abgelegt. Sie arbeiten an Frühwarnsystemen und registrieren jeden noch so schwachen Erdstoss. Trotzdem können sie Erdbeben nicht voraussagen.

    "Ich kann zwar für ein bestimmtes Gebiet die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens in den nächsten zwei bis drei Jahren vorhersagen, aber das hilft mir wenig. Das wirksamste Mittel zum Schutz vor Erdbeben ist daher eine erdbebengerechte Bauweise bei Neubauten und die nachträgliche Sicherung historischer Bauten. So kann man die Schäden an der Bausubstanz im Falle eines Erdbebens begrenzen und Menschenleben retten. "