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Schlechte Zähne von Anfang an

Medizin.- Zahnärzte zerbrechen sich seit geraumer Zeit den Kopf über ein merkwürdiges Phänomen: Zähne, die bereits mit beschädigtem Zahnschmelz aus dem Zahnfleisch kommen. Die Ursache ist bisher unbekannt. Nun gibt es erstmals belastbare Zahlen über das Ausmaß des Problems.

Von Miriam Ruhenstroth | 24.01.2012
    Der Zahnschmelz hat weiße oder gelblich-braune Flecken, ist dünn und instabil, an manchen Stellen kann er eingebrochen sein oder er fehlt ganz:

    "Gerade bei uns, weil wir halt sehr viele Kinder haben, sehen wir immer wieder solche Diagnosen."

    Ali Mokabberi arbeitet als Kinderzahnarzt in Berlin, Prenzlauer Berg. Immer wieder sieht er Zähne, die bereits mit beschädigtem Schmelz aus dem Zahnfleisch kommen. Zahnärzte sprechen dann von einer Strukturstörung des Zahnschmelzes.

    "Da sind Veränderungen im Zahnschmelz zu sehen, die sich in Form von unterschiedlichen Farben und auch Schmelzdefekten zeigen und das führt auch zu Ablagerungen von Plaque und Entstehung von Karies und Hypersensibilität der Zähne. Das heißt, die Zähne tun einfach weh."

    Aus fast allen europäischen Ländern gibt es mittlerweile Berichte über dieses Krankheitsbild – fast alle berichten von hohen Fallzahlen. Jan Kühnisch, Leiter der Sektion Kinderzahnheilkunde am Universitätsklinikum München, hat jetzt für Deutschland aktuelle Zahlen vorgelegt. Über 1000 Kinder hat er untersucht – und eine alarmierend hohe Verbreitung festgestellt.

    "Wenn man schaut, wie viele Kinder einzelne Strukturstörungen haben, so waren das in dem Alter von zehn Jahren, wo wir die Kinder untersucht haben, so 30, 40 Prozent."

    Schon lange weiß man, dass bestimmte genetische Defekte oder auch Verletzungen zu den genannten Symptomen führen können. Und auch zu viel Fluor verändert den Zahnschmelz – allerdings lässt sich diese sogenannte Fluorose klar von der beschriebenen Störung abgrenzen. Das Verblüffende: Solche Strukturstörungen ganz ohne erkennbare Ursachen waren bis Mitte der 80er-Jahre praktisch unbekannt.

    "Das Thema ist in den 80er-Jahren in Schweden erstmals beschrieben worden, wo mit dem beobachteten Kariesrückgang diese Strukturstörungen immer mehr sichtbar wurden und dann dementsprechend auch erstbeschrieben worden sind."

    Seitdem ist die Zahl der diagnostizierten Fälle dramatisch angestiegen. Galt das Phänomen noch vor 30 Jahren als sehr selten, so ist heute etwa jedes dritte Kind betroffen. Ein Teil dieses Anstieges dürfte allerdings ein Artefakt sein. Denn viele Fälle, die man heute erkennt, hätte man früher schlicht für Karies gehalten. Dass die Strukturstörungen aber vor 30, 40 Jahren genauso häufig waren wie heute, halten die meisten Fachleute für unwahrscheinlich. Das hätte man trotz Karies bemerkt, meint Jan Kühnisch.

    "Es muss sicherlich irgendwann einen Sprung gegeben haben, auch wenn man die Literatur und vielleicht noch mal ältere Kollegen befragt, ist das einhellige Bild, dass es eigentlich früher nicht so das Thema war."

    Ob neu oder schon immer da gewesen: Die große Frage ist, was die Störung auslöst. Denn ohne dieses Wissen gibt es auch keine Präventionsstrategie für die häufige Krankheit. Die Ursachenforschung erweist sich allerdings als schwierig. Denn der Zahnschmelz entwickelt sich in den ersten Lebensjahren, zum Teil auch schon im Mutterbauch. Wenn die bleibenden Zähne mit sechs bis zehn Jahren sichtbar werden, liegt der Störfaktor also schon mehrere Jahre zurück.

    "Man braucht dazu eigentlich Studien, die von Geburt an potenzielle Ursachen mit abdecken und im voraus dokumentieren. Und diese Studien gibt es weitestgehend nicht heutzutage. Was es gibt, sind Studien, bei denen man versucht hat, mit dem Durchbruch der bleibenden Zähne die Ursachen rückwirkend zu klären. Und sie können sich vorstellen, dass das schwierig ist."

    Fehl- oder Mangelernährung schließen die Fachleute aus. Denn selbst in extremen Hungerzeiten, zum Beispiel nach dem zweiten Weltkrieg, habe der Zahnschmelz kaum gelitten, so der Forscher aus München. Klar ist, dass irgendetwas die Zellen schädigt, die den Zahnschmelz bilden: die sogenannten Ameloblasten. Was das sein könnte – da gehen die Meinungen auseinander. Von Dioxin in der Umwelt über Sauerstoffmangel bei Frühgeburten oder Asthmatikern bis zu PCB-belasteter Muttermilch wird alles verhandelt. Der Forscher aus München hat vor allem Antibiotika als möglichen Störfaktor im Visier.

    "Aber auch dazu gibt es noch keine Studie, die das in vivo belegen könnte, sondern ausschließlich eine tierexperimentelle Studie aus Finnland"

    Die zeigt, dass bestimmte Antibiotika die Ameloblasten schädigen – zumindest bei Mäusezähnen im Labor. Diese These würde auch erklären, warum immer nur einzelne Zähne oder Zahngruppen betroffen sind und nicht das ganze Gebiss.

    "Da das Antibiotikum zu einem bestimmten Lebenszeitpunkt eingenommen wird, in dem sich auch eine bestimmte Gruppe von Zähnen in der Mineralisation befindet, und diese werden zu diesem Zeitpunkt oder können zu diesem Zeitpunkt mitgestört werden."

    Handfeste Beweise für diese These gibt es aber noch keine. Es wird also weiter ermittelt. In alle Richtungen.