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Schlecken am Trabbi

Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" ist ein soziales Drama in fünf Akten, das bei seiner Uraufführung im Oktober 1889 Aufsehen erregte, weil es von naturalistischen Derbheiten strotzt. Das Stück markierte den Anschluss Deutschlands an eine literarische Strömung, die von Autoren wie Zola, Ibsen oder Tolstoi initiiert wurde. Doch von Hauptmanns Theater ist in der Mannheimer Inszenierung nichts übrig geblieben.

Von Christian Gampert |
    Eigentlich ist der Weltverbesserer Alfred Loth ja nach Schlesien gekommen, um eine deskriptive Studie über die Lebensverhältnisse der Kumpel im Kohlerevier zu schreiben. Aber er wird sich dann hoffnungslos erotisch verwickeln in den noch unübersichtlicheren Verhältnissen der trunksüchtigen Familie Krause, deren neureiches Delirium er mit einem Glas Milch zu bekämpfen sucht.

    Auch der Regisseur Armin Petras wird es nicht bei einer deskriptiven Studie des Stücks belassen; er wird Gerhard Hauptmann in bewährter Manier klein häckseln und mit Musik und viel hysterischem Getue dann freigeben zum allgemeinen Gebrauch. Das schlesische Elend liegt bei Petras natürlich in Ossi-Land, jedenfalls schleckt im Videofilm ein wahrscheinlich aus der LPG übrig gebliebenes Schwein ausdauernd den Kotflügel eines Trabbi. Und Schwiegersohn Hoffmann, der vom dauerdämmernden Vater Krause längst das Kommando über die Familie und die Kohleförderung an sich gerissen hat, fläzt zuhältermäßig in Netzhemd und Pelzmantel am Tisch wie ein Kapo der Russenmafia, der im Osten mal schnell Gewinn machen möchte.

    Gerhard Hauptmanns Thema war eine infolge Alkoholismus sieche frühindustrielle Gesellschaft. Hauptmanns Naturalismus wird bei Petras vor allem von einem Hund ausgespielt, der eingangs im Familienbild herumscharwenzelt und an Frauchens Bein rammelt; außerdem gibt es noch einen Esel und zwei Ziegen, die stehen im biblischen Stall, weil Alkoholikers Töchterlein eine Totgeburt erleiden wird. Ob auch der unter Priapismus leidende Wilhelm Kahl, ein manischer Stotterer mit feuchter Aussprache, noch in die naturalistische Ecke gehört oder schon unter Petras allfällige Maniriertheiten fällt, ist schon sehr zweifelhaft. Jedenfalls findet man Stottern in Mannheim ungeheuer lustig.

    Es ist die übliche Freakshow, das übliche Monstertheater, das Armin Petras hier bietet, und dagegen wäre auch gar nichts einzuwenden, wenn er über die Figuren etwas zu erzählen hätte. Aber Gerhard Hauptmann bleibt bloßer Spielanlass, Petras verliert sich in einem wabernden Kosmos aus Alkohol, exaltierter Sexualität und im Hintergrund rauchenden Industrieschloten, die irgendwie mit der abgewickelten DDR zu tun haben. Aber: Ibsen und Zola, die anderen naturalistischen Vorbildfiguren, sind das überhaupt Dichter? Ach nö, über die redet man mal kurz auf der Effi-Briest-Schaukel und watscht sie dann postmodern in die Ecke.

    Das ist schön, das sieht so toll dreist und unverschämt aus, und es geht Petras, unserem jugendlichen Mini-Castorf mit Ziegenstall und CD-Player, ja auch um eine viel grundlegendere Verzweiflung als um die Hauptmanns. Es geht um den "angry young director", der sich als ewiger Rebell inszenieren muss. So wie Tugendbold Loth im Stück gern zugibt, dass der "Kampf im Dienste des (sozialen) Fortschritts" ihm große Befriedigung verschaffe, so saugt Petras seine Befriedigung aus dem Kampf im Dienste der Theater-Zerstörung. Dabei gelingen natürlich immer wieder bezwingende Momente und Schnitte, und allein die Verwandlung der körperlich tot gestellten Krause-Tochter Helena von einem Nägel kauenden Mauerblümchen zur sexuell dauerverfügbaren Marylin-Lolita ist sehenswert. Aber das ist die einzige Figur, an der Petras arbeitet, und Stephanie Leue ist eben eine tolle Schauspielerin.
    Ansonsten bewegen wir uns in einem schlesisch redenden, dumpfen, alkoholabhängigen Ossi-Land, und das ist nun eine bald abgenudelte These. Die Figuren sind alle furchtbar gespalten modern und furchtbar tot. Dem Weltverbesserer Loth wird der Rücken eingecremt, die fremdgehende, völlig überdrehte Gattin des Grubenbesitzers macht Yoga und Aerobic. Maniriertheiten, Gekreische, Aktionstheater. Zerfall überall. Alle treiben es mit allen. Und wenn ein Stammhalter geboren werden soll, drehen wir darüber ein Home-Video.

    Zu allem Überfluss stellt sich auch der Sozialreformer Loth bei Petras als simpler Stern-Reporter heraus. Na so was. Könnte sein, dass auch Petras, mit all seiner Schnipseltechnik, eine Art nihilistischer RTL-Mann ist. Oder jedenfalls ein Schrebergärtner des Diskurs- und Poptheaters, an dem sich die jugendliche In-Group berauscht. Das wird nicht ewig währen, und das Aufwachen ist wahrscheinlich mit einem ziemlichen Kopfschmerz verbunden.