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Schleichender Tod

Anna ist 15 Jahre alt. Sie hat heftige Schmerzen im Kiefer, manchmal schleift sie ihr rechtes Bein nach. Sie wird behandelt wegen Allergien und Rheuma. Die Ärzte sind ratlos. Nicht so Anna. In ihrem Kopf hört sie die Stimme einer Anderen. Schon bald versteht sie, was diese ihr sagen will:

Simone Hamm | 17.01.2004
    Sie hat mir klar gemacht, meine Schmerzen seien der Anfang einer Trauer, welche die anderen allmählich lernen müssten. Sachte und behutsam müsse ich sie die Trauer lehren, die sonst später allzu schnell über sie kommen würde.

    Diese Andere in ihrem Kopf sagt zu Annas Freundin Hanna:
    Hanna, du darfst nicht traurig werden, aber ich muß demnächst von hier fortgehen.

    Hanna aber kann diese Stimme nicht hören. Und genau davon, von Trauer, Schmerzen und vom Abschied, vom Nicht-Wahrnehmen-Wollen und vom Tod handelt Peter Pohl einfühlsamer Roman " Ich werde immer bei euch sein." Anna leidet an einem inoperablen, bösartigen Gehirntumor.

    Peter Pohl erzählt Annas langes Sterben aus verschiedenen Perspektiven, weiblichen Perspektiven. Er schildert die Veränderung derer, die Anna lieben. Wie aus einem Aufschrei, einem Nein!, aus verzweifelten Rettungsaktionen schließlich die Fähigkeit geboren wird, den Tod anzunehmen. Eindringlich, hochsensibel und niemals sentimental schildert er, wie die tödliche Krankheit unaufhaltsam fortschreitet, aber auch, wie alle lernen, damit zu leben, wie sie daran wachsen.

    Da ist die Mutter, die ihr Kind behüten und beschützen will, die spürt, dass etwas mit ihrer Tochter nicht stimmt, dass sie mehr hat als nur Allergien und Rheuma, und die von den Ärzten zurückgewiesen wird, die hadert und ihre Wut herausschreit, die nichts unversucht lässt, ihr Kind zu retten und die schließlich dankbar ist für jede Stunde, die sie noch mit ihrem Kind verbringen kann. Sie schreibt, wie man in ein Tagebuch schriebe:

    Es wäre unerträglich gewesen, wirklich unerträglich, sowohl für uns als auch für Anna selbst, vor einem Jahr mit der Gewissheit konfrontiert zu werden: Anna wird bald unter schweren Qualen sterben. Der Schutzmechanismus wurde ausgelöst und hinderte uns daran, etwas zu hören oder zu sehen. Als wir allmählich ahnten, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, hatte uns die lange Einleitung an die verschiedenen Sorgen gewöhnt. Und die waren nicht unerträglich.

    Und genauso ergeht es dem Leser. Langsam, behutsam führt Peter Pohl ihn an Anna und den Krebs heran. So hart das Sujet auch ist, so schwer es auch fällt, von einer Romanfigur Abschied zu nehmen, die man so lieb gewonnen hat, an keiner Stelle wird das Lesen unerträglich.

    Denn die Menschen in Annas Leben sind keine Heiligen. Peter Pohl lässt die Mutter verzweifelt nach einer Gerechtigkeit fragen, lässt sie hadern mit den Menschen, die ihr Glück als etwas ganz Normales betrachten, ohne überhaupt zu ahnen, wie kostbar es ist, gesund zu sein. Einmal lässt er es aus der Mutter herausbrechen:

    Überall bleiben Leute stehen und starrten sie an und uns, die sich damit abmühten, ein schweres, hilfloses Mädchen ein paar Schritte tun zu lassen. Sie glotzen und starrten, bis ich sie am liebsten angeschrieen hätte, geht woanders hin , es gibt Schaufenster und Tierparks, aber glotzt Anna nicht so an, sie ist nicht immer so gewesen, sie ist nicht so; im Inneren dieses fremden Körpers, hinter dem abweisenden Blick existiert ein lebendiges Mädchen, von dem ihr keine Ahnung habt.

    Hanna ist die Freundin aus Kindergartenzeiten: Sie ist immer für Anna da ist, auch dann, als sie immer kränker, immer unförmiger, immer schweigsamer wird. Sie ärgert sich über ihre Klassenkameraden, die seltener und seltener nach Anna fragen. Sie beschreibt den verregneten Sommer und den darauf folgenden heißen, schönen, der Annas letzter sein wird in der Sprache eines aufgeweckten Teenagers.

    Annas vier Jahre ältere Schwester Maria kann lange nicht weinen. Ganz langsam kehrt sich das schwesterliche Verhältnis um: Sie die größere kriecht jetzt unter die Bettdecke zu ihrer Schwester und hält sie in ihren Armen, so als wolle sie sie für immer halten. Und die Schwester blickt sie an und tröstet sie, obwohl es doch eigentlich umgekehrt sein sollte. Maria schreibt sich all die Gefühle von der Seele, die sie nicht ausdrücken kann, weil sie lange, zu lange geglaubt hat, dies sei ein Gefühl von Schwäche.

    Und da ist Anna selbst, hellsichtig, eher besorgt um die anderen, als um sich selbst und niemals larmoyant. Annas Sprache ist poetisch. Und immer wieder erzählt sie von der Anderen, die längst ein Teil von ihr geworden ist:

    Sie haben mich mit klugen Apparaten durchleuchtet, aber SIE haben sie nicht gesehen. Sie haben meine innerste Musik abgehört, aber SIE haben sie nicht gehört. Und dennoch war sie da, die ganze Zeit über. Und als sie mich in tiefen Schlaf versenkt hatten, um den Weg in die vielfältigen Geheimnisse meins Gehirns öffnen zu können, da hat SIE mich gefragt, wo ich aufwachen wolle: bei euch, mit noch etwas Zeit, um Euch das letzte zu lehren, oder in den Traum gehüllt, wo die Schmerzen keine eigenen Namen mehr tragen.

    Anna, die stärker als alle anderen, entschließt sich noch zu bleiben, ihrer Familie, ihren Freunden, den Abschied leichter zu machen. Längst schwebt sie über allem. Peter Pohl erzählt das so folgerichtig, so logisch, dass kein Leser sich darüber wundern wird, wie es denn möglich ist, dass eine gerade sechzehnjähriges Mädchen ihre Umgebung lehrt, wie sie mit ihrem Tod umzugehen habe. Und noch dazu mit einem besonders grausamen Tod. Annas Vermächtnis lautet:

    Ich werde immer bei euch sein.

    "Ich werde immer bei euch sein" ist wahrlich keine leichte Lektüre. Es ist ein ergreifendes, zutiefst trauriges und doch wunderschönes Buch. Und wer die langsame Entwicklungsgeschichte gelesen hat, der wird das irritierende Gefühl verstehen das Hanna beschreibt, als sie erfährt, dass ihre beste Freundin gestorben ist:

    Dieses Gefühl von Geborgenheit, dass ich immer gehabt habe, wenn ich mit Anna zusammen war, das stellte sich plötzlich wieder ein. Und dann war es, als ob alles, was wir zusammen erlebt hatten, gleichzeitig vorhanden war und um mich herumwirbelte. Auf unerklärliche Art wurde ich glücklich, obwohl ich so schrecklich traurig war. Ich saß da und weinte und gleichzeitig jagten wir lachend und spielend durchs Zimmer.
    Peter Pohl
    Ich werde immer bei euch sein
    Arena.239 S., EUR 13,50