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Schleppende Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit

Als nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 nacheinander alle kommunistischen Regime Ost- und Mitteleuropas zusammenbrachen, gab es plötzlich nur noch Opfer und kaum noch Täter. Die Kader und die Schergen der Geheimdienste, die jahrzehntelang die Bevölkerung drangsaliert hatten, sie waren auf einmal abgetaucht. Aber verschwunden sind sie nicht.

Von Alois Berger | 14.01.2009
    "Bei Tagesanbruch griffen Polizisten, bewaffnete Freiwillige und Soldaten die wehrlosen Dörfer an. Jedes noch so kleine Zeichen von Missfallen wurde mit Prügeln beantwortet, mit Festnahmen, auf die monatelange Haftstrafen folgten. Es war unmöglich zu entkommen. Frauen rannten schreiend hinter den Polizeiwagen her, in denen ihre Männer und Söhne weggebracht wurden. Andere brachen unter Tränen zusammen."

    Sükrü Altay hat die Verfolgung der türkisch-sprachigen Minderheit in Bulgarien selbst miterlebt. Hunderte wurden damals, Ende der 80er Jahre, ermordet, Hunderttausende gewaltsam vertrieben. Sükrü Altay wurde zwei Jahre lang in einem Arbeitslager auf der Donau-Insel Belene festgehalten und gefoltert. Danach musste er Bulgarien verlassen. Noch heute stockt ihm die Stimme, wenn er davon erzählt.

    "Kriminelle, die sich Polit-Büro nannten, haben uns viele Jahre unseres Lebens gestohlen, nur, weil wir andere ethnische Wurzeln haben."

    Nicht einmal 20 Jahre ist das alles her. Das kommunistische Regime ist längst gestürzt, Bulgarien ist seit zwei Jahren Mitglied in der Europäischen Union. Doch keiner der Verantwortlichen dieser brutalen ethnischen Säuberung wurde jemals zur Verantwortung gezogen. Einige sind nach wie vor in Amt und Würden, andere haben es geschafft, nach einer kurzen Auszeit im neuen demokratischen Staatsapparat erneut Karriere zu machen. Und sie bemühen sich, jeden Ansatz von Vergangenheitsbewältigung im Keim zu ersticken.

    Bulgarien steht nicht allein. Als nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 nacheinander alle kommunistischen Regime Ost- und Mitteleuropas zusammenbrachen, gab es plötzlich nur noch Opfer und kaum noch Täter. Die Kader und die Schergen der Geheimdienste, die jahrzehntelang die Bevölkerung drangsaliert hatten, sie waren auf einmal abgetaucht. Aber verschwunden sind sie nicht.

    Die jungen Demokratien erwiesen sich vielerorts als zu schwach, um mit der Vergangenheit aufzuräumen. Zu schwach, um die alten Kader von der neuen Macht fernzuhalten. Und die sorgten dafür, dass die Archive der kommunistischen Geheimdienste verschlossen blieben. Das war in Budapest nicht anders als in Warschau oder in Prag. Pavel Zacek ist Direktor des Tschechischen Institutes für Totalitarismusstudien, in dem heute die Geheimdienstdokumente aufbewahrt werden.

    "Es gab immer Gründe, das Material nicht offenzulegen. Als erstes natürlich wurde stets die Notwendigkeit der Geheimhaltung angeführt. Das wurde selbst im tschechischen Parlament lange diskutiert. Ein anderer Grund war schlicht, dass bis 2006 im Archiv im Innenministerium nach wie vor viele ehemalige Geheimdienstler arbeiteten, und die haben natürlich darauf geachtet, dass nichts frei gegeben wurde, was sie selbst betreffen könnte. Die saßen auf ihren eigenen Akten."

    Erst vor zwei Jahren wurden die Archive vom Prager Innenministerium in ein eigenes Institut ausgelagert. Seit 1997 gibt es auch in Tschechien ein Gesetz, nach dem alle Akten aus der Zeit des kommunistischen Geheimdienstes öffentlich zugänglich gemacht werden müssen. Wir haben fast 20 Jahre verloren, klagt Pavel Zacek vom Totalitarismus-Institut, und noch lange nicht gewonnen.

    "Die öffentliche Meinung unterstützt unser Archiv. Aber es gibt natürlich politische Widerstände. Unser Archiv ist nach wir vor Gegenstand politischer Kontroverse. Es ist ein politischer Kampf. Aber dieser Kampf ist wichtig für unsere Gesellschaft. Alles was für und gegen die Öffnung der Archive sprach, kam auf den Tisch."


    Immerhin wird in der Tschechischen Republik bei der Neueinstellung von Beamten inzwischen regelmäßig das Archiv für Geheimdienststudien um eine Stellungnahme gebeten. Die Behörden arbeiten eng mit uns zusammen, sagt Archiv-Direktor Pavel Zacek. Sein Institut bekomme langsam Einfluss auf die Personalpolitik.

    Dieses Interesse ist den Behörden in Rumänien und Bulgarien noch sehr fremd. Laszlo Tökes war zu Zeiten der Wende Pfarrer der ungarischen Minderheit im rumänischen Temeswar. Tökes war einer der populärsten und zugleich unbeugsamsten Kritiker der Ceausescu-Diktatur. Als er im Dezember 1989 von der Geheimpolizei Securitate verhaftet wurde, lösten die anschließenden Proteste seiner Anhänger den Beginn der rumänischen Revolution aus. Der Revolution, an deren Ende der Sturz des Ceausescu-Regimes stand. Tökes ist inzwischen Bischof von Siebenbürgen und Europaabgeordneter in Straßburg. Seine Bilanz der Revolution fällt heute ernüchternd aus.

    "Es ist ganz offensichtlich, dass die Securitate-Leute zusammen mit der alten Nomenklatura sich und ihren Einfluss in Sicherheit gebracht haben. Vor allem durch ökonomische Mittel. Sie haben sich durch ihre alten Verbindungen und Privilegien die Macht über weite Bereiche der Wirtschaft gesichert. Diese wirtschaftliche Macht wurde dann wieder in politische Macht umgemünzt."

    Wie eine Schattenregierung kontrollierten die alten kommunistischen Kader und die Securitate-Leute das politische Leben in Rumänien, klagt Bischof Tökes. Sie seien längst wieder überall, schüchterten ein und sorgten dafür, dass die Vergangenheit im Dunkeln bleibe. Zwar werden in Rumänien immer wieder ehemalige Spitzel entlarvt und aus ihren Jobs entlassen, doch die meisten bleiben unentdeckt. Auch im Parlament in Bukarest gebe es ehemalige Mitarbeiter von Diktator Ceausescu, klagt Bischof Laszlo Tökes. Zwar würden immer wieder alte Kader und vor allem Securitate-Spitzel enttarnt und müssten dann unter dem öffentlichen Druck ihren Hut nehmen. Aber der Prozentsatz der rumänischen Abgeordneten mit dunkler Vergangenheit sei nach wie vor sehr hoch, meint Tökes, und nicht nur in Bukarest:

    "Wir wissen von rumänischen Abgeordneten im Europäischen Parlament, die im alten kommunistischen Regime hohe Posten hatten. Und aus ihrem Verhalten, gerade auch gegenüber Minderheiten, kann man sehr deutlich ableiten, dass viele noch genauso denken wie zu Ceausescus Zeiten."

    Ceausescus Schergen im Europäischen Parlament?

    Natürlich, sagt Laszlo Tökes, ihr merkt es nicht, weil ihr es nicht merken wollt. Der Bischof von Siebenbürgen kann nicht verstehen, dass die Europäische Union sich so wenig dafür interessiert, welche demokratiefeindlichen Altlasten im östlichen Teil der EU nach wie vor aktiv sind. Die Europäische Union müsste viel mehr Druck auf die Regierungen in Mittel- und Osteuropa ausüben, damit sie das Unrecht offenlegen, Täter bestrafen und Opfer rehabilitieren. So wie sie das in Ex-Jugoslawien mit den Kriegsverbrechern gemacht hat. Dort hat Brüssel jede Zusammenarbeit und jede finanzielle Unterstützung an die Bedingung geknüpft, dass die Regierungen mithelfen, die Kriegsverbrechen aufzuklären und die Schuldigen zu bestrafen.

    Ein ähnliches Vorgehen der EU fordert Tökes auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas, wo viele Menschen von den totalitären kommunistischen Regimen zerrieben und zerstört wurden. Wenn die EU ihren Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit ernst nimmt, dann müsse sie endlich die kommunistische Vergangenheit eines Teils ihrer Mitglieder aufgreifen, mahnt Bischof Laszlo Tökes:

    "Die Europäische Union will ganz allgemein nicht über Kommunismus reden und sich nicht damit auseinandersetzen. Es ist schockierend, gerade wenn man sieht, mit welchem Interesse sich die EU nach wie vor mit dem anderen totalitären Regime, dem Nationalsozialismus beschäftigt und wie sie jetzt alles von sich schiebt, was mit Kommunismus zu tun hat, mit den Opfern, mit dem Terror und den Irrungen des Kommunismus."

    Der Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Selbst das Europäische Parlament, das gerne über die Werte und die ethischen Grundlagen der Europäischen Integration diskutiert, das weltweit Friedenspreise auslobt und sich als Vorreiter von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten versteht, selbst dieses Parlament hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten keine wirkliche Grundsatzdiskussion über den Umgang mit den kommunistischen Altlasten geführt. Zwar haben einzelne Abgeordnete immer wieder Anhörungen und Informationsveranstaltungen zu diesem Thema organisiert. Doch die Mehrheit der EU-Parlamentarier hat sich stets vornehm zurück gehalten.

    Das Thema ist vielen zu heikel, zu kompliziert, zu sperrig. Vergangenheitsbewältigung gilt als nationale Aufgabe, die jedes Land allein erledigen muss. Der Kommunismus sei national zu unterschiedlich ausgeprägt gewesen, heißt es dann, da komme man mit einer Bewältigung aus europäischer Warte nicht weit.

    Aber das ist nicht alles. Nur in Rumänien wurde das kommunistische Regime gewaltsam gestürzt. In allen anderen heutigen EU-Mitgliedsländern wurde der Übergang mit runden Tischen, in Verhandlungen und Kompromissen zwischen der alten Regierung und den neuen Demokraten abgewickelt. In einigen Ländern wurde den alten Kadern Straffreiheit versprochen, anderswo die Integration in das neue System.

    Um einen demokratischen Staat aufzubauen und zu führen, braucht man Leute mit Verwaltungserfahrung. Schon deshalb konnte kein Land völlig auf die belasteten Kader verzichten. Die Frage nach der individuellen Schuld wurde deshalb oft erst sehr viel später gestellt.

    Der estnische Europaabgeordnete Tunne Kelam macht für die mangelnde Aufarbeitung des Kommunismus auch das westliche Europa verantwortlich. Kelam wirft den westlichen Politikern vor, sie hegten nach wie vor Sympathien für sozialistische Ideen und weigerten sich deshalb, die ganze Brutalität des Kommunismus zu sehen.

    "Als das Europäische Parlament vor drei Jahren eine Diskussion über die Folgen des zweiten Weltkriegs begann, da wurde klar, wie unterschiedlich unser Geschichtsverständnis in Ost und West ist, wie unterschiedlich unsere Vorurteile sind, unsere nationalen Traditionen. Aber es reicht nicht, wenn Europa nur politisch, wirtschaftlich und sozial zusammenwächst. Wir brauchen auch eine Integration der moralischen Werte und der Erfahrungen. Man kann die Geschichte aus westlicher Sicht sehen, aber man kann sie auch aus östlicher Sicht betrachten."

    Zusammen mit einigen anderen Abgeordneten hat Tunne Kelam im Europaparlament eine Arbeitsgruppe "Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung" eingerichtet. Erklärtes Ziel der Arbeitsgruppe ist es, das öffentliche Bewusstsein in Europa zu verändern, damit die kommunistischen Verbrechen genauso verfolgt und gebrandmarkt werden wie die Verbrechen der Nationalsozialisten.

    "Der Nationalsozialismus wird bis heute ganz klar verurteilt, und es ist sicher, dass Nazis nicht mehr an die Macht kommen, weil die politische und moralische Beurteilung des Nationalsozialismus völlig eindeutig ist. Beim Kommunismus ist das nicht so klar. Viele Millionen Opfer des Kommunismus sind noch am Leben, und sie fühlen sich als Opfer zweiter Klasse."

    Die Europarlamentarier-Gruppe um Tunne Kelam betrachtet die so genannte "Prager Erklärung zu Bewusstsein und Kommunismus" als einen ersten wichtigen Teilerfolg. In dieser Erklärung, die auf einer Konferenz in Prag vor acht Monaten verabschiedet wurde, wird für die Opfer des Kommunismus dieselbe Gerechtigkeit gefordert wie für die Opfer des Nationalsozialismus. Viele Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, sollten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt und vor einem internationalen Gericht verhandelt werden, ähnlich dem Nürnberger Tribunal nach dem zweiten Weltkrieg.

    Unterzeichnet wurde die Prager Erklärung auch von bekannten Persönlichkeiten wie Vaclav Havel und Joachim Gauck. Doch im Europäischen Parlament formiert sich seither eine Gegenbewegung, die hinter dem Anspruch auf geschichtliche Gerechtigkeit dunkle Absichten erkennen will. Denn Abgeordnete wie der Este Kelam kämpfen nicht nur für eine schärfere Verurteilung des Kommunismus ganz allgemein, sie wecken gelegentlich den Verdacht, dass es ihnen dabei auch um die Verharmlosung von Nazitätern geht.

    In einem Appell an das Europäische Parlament ist beispielsweise davon die Rede, dass sich lettische Freiwillige Anfang der 40er Jahre deutschen Truppen angeschlossen hätten, um gegen den Bolschewismus zu kämpfen. Der deutsche Sozialdemokrat Helmut Kuhne hält das für eine infame Geschichtsfälschung.

    "Wir haben nichts dagegen, die stalinistische Zeit aufzuarbeiten. Wir sehen allerdings Probleme, wenn das gleichzeitig verbunden ist mit einer Tabuisierung beispielsweise der Zeit, als die Nazis bestimmte Länder besetzt haben und sich einige politische Kräfte an dem Holocaust beteiligt haben, davon aber heute nichts wissen wollen. Oder wenn die Mitgliedschaft in der Waffen-SS als eine Art legitimer Widerstand gegen die Sowjetunion verkauft wird."

    Gerade in den baltischen Staaten gibt es aus der Zeit vor der sowjetischen Besatzung noch etliche dunkle Flecken in der Geschichtsschreibung, die nur wenige dort aufhellen wollen. Während Sozialdemokraten im Europaparlament auf die damalige Nähe vieler Balten zu den Nationalsozialisten hinweisen, rechnen Konservative wie Tunne Kelam das gerne zu den Jugendsünden einer vom Kommunismus bedrohten Region.

    Einige Parteien missbrauchten die Vergangenheit für ihre politischen Zwecke: So beschreibt der polnische Politikwissenschaftler Josef Pinior das, was er für den Kern des Problems hält. Der Sozialdemokrat und heutige Europaabgeordnete war Mitglied der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, er war als Dissident inhaftiert. Von der neuen Rechten in Polen fühlt sich Pinior absichtlich missverstanden. Er spricht von der "Kolonisierung der Geschichte", die parteipolitisch ausgebeutet und benutzt werde. Die PiS-Partei der Kaczynski-Zwillinge, Recht und Gerechtigkeit, gebe da einen unrühmlichen Vorreiter.

    "Radikale Rechte versuchen die Geschichte für ihre ideologischen Ziele zu benutzen. Geschichte wird gefälscht für politische Ziele. Die Partei "Recht und Gerechtigkeit" hat sich während ihrer Regierungszeit sogar der staatlichen Einrichtungen und auch des öffentlichen Rundfunks bedient, ihre Sicht der Dinge zu streuen. Aus der Arbeiterbewegung Solidarnosc wurde bei denen eine nationalistische Bewegung."

    Diese parteipolitisch motivierte Geschichtsfälschung gebe es in vielen Ländern, meint der Politikwissenschaftler Pinior. So diffamiere auch der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi politische Gegner pauschal als Kommunisten. Doch in den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas seien die Folgen schwerwiegender. Wenn selbst ehemalige Bugbilder des politischen Widerstands wie Lech Walesa in die Nähe des Kommunismus gerückt würden, dann vergifte das nicht nur das gesellschaftliche Klima. Auch die notwendige Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit werde dadurch fast unmöglich.

    Doch ohne die öffentliche Beschäftigung mit dem vergangenen Unrecht werden die Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa nicht zur Ruhe kommen. Bernd Florath vom Berliner Stasi-Archiv mahnt zu größerer Gelassenheit. Es werde immer Politiker geben, die Geschichte aus Eigeninteresse manipulieren würden.

    "Das ist immer der Fall, und das wird sich auch nicht vermeiden lassen. Was wichtig ist, das ist die Pluralität. Die verhindert, dass irgendjemand in der Lage ist, Aspekte der Vergangenheit einseitig parteipolitisch zu verwenden. Hier hilft nur Öffentlichkeit und kontroverse Debatten. Ausschließen kann man es nicht."

    Auch der bulgarische Europaabgeordnete Nickolay Mladenov hat in seinem Land die Erfahrung gemacht, dass die Gefahr des Missbrauchs der Vergangenheit umso größer ist, je weniger offen darüber geredet wird.

    "Es gibt eine Tendenz, geheime Dossiers in Kampagnen gegen Politiker zu benutzen. Ich halte das für gefährlich. Aber wenn alles öffentlich ist, dann können die Menschen selber entscheiden, ob sie für jemanden stimmen wollen, der belastet ist oder nicht. Aber man muss informiert sein, damit Entscheidungen nicht auf der Basis von Eindrücken und Gerüchten fallen."

    Gerade in den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas fühlen sich viele Menschen zum zweiten Mal von der Geschichte betrogen: Nach der Unterdrückung durch totalitäre Regime sehen sie sich nun den Härten der oft wenig kontrollierten Marktwirtschaft ausgesetzt. Die Komplexität des neuen Systems, Mauscheleien der Regierungen und die offensichtliche Zurückhaltung bei der Behandlung der alten Geheimdienstakten führen zu einer bedenklichen Grundhaltung in weiten Teilen der Bevölkerung. Je mehr der Glaube an die Demokratie schwindet, desto stärker wird der Glaube an die Allmacht dunkler Mächte. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur, berichtet der bulgarische Europaabgeordnete Nickolay Mladenov:

    "Alle Arten von Verschwörungstheorien: Wer kontrolliert das Geld, Unternehmen, Politiker und was hat das mit ihrem früheren Leben im Staatssicherheitsapparat zu tun. Das ist ein ganz typisches Phänomen, nicht nur in Bulgarien, sondern im ganzen früheren Ostblock. Solange man nicht erklären kann, warum einige Dinge passieren, glauben die Leute gerne, dass alles mit den alten Verbindungen in der kommunistischen Partei oder im ehemaligen Sicherheitsapparat zu tun hat. Schon um das zu vermeiden, muss man alles in die Öffentlichkeit bringen."

    Bald 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wird die Forderung nach einer europäischen Diskussion über die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit immer lauter. Das liegt nicht nur daran, dass die meisten mittel- und osteuropäischen Demokratien inzwischen gefestigt genug sind, die schwierige Suche nach dem richtigen Umgang mit der Vergangenheit ohne gesellschaftliche Verwerfungen zu verkraften. Es liegt auch daran, dass die Politiker aus den neuen EU-Ländern selbstbewusster geworden sind und das Desinteresse der westlichen Kollegen nicht mehr einfach hinnehmen.