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Schlepperroute ins Saarland

Viele junge Afghanen fliehen in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus ihrer Heimat. Ihre Flucht führt sie über Paris häufig nach Saarbrücken. Dort werden sie aufgenommen, besuchen Sprachkurse und gehen in die Schule. Eine sichere Perspektive ist das aber noch lange nicht.

Von Tonia Koch |
    Nach der Renovierung darf gefeiert werden. Die Stimmung ist gelöst wie lange nicht. Denn die minderjährigen afghanischen Flüchtlinge, die im sogenannten Clearinghaus, einem ehemaligen Kinderheim der Diakonie in Völklingen, aufgenommen werden, hatten lange Zeit nichts zu lachen, sagt Joseph Chabaki:

    "Sie sind weit weg von der Heimat, ohne Familie, keine Verwandten. Wir sind wie eine kleine Familie für sie."

    Joseph ist die gute Seele des Hauses, der die Dinge am Laufen hält und kocht. Er weiß, was seine Schützlinge brauchen. Vor 27 Jahren ist er selbst aus dem Libanon nach Deutschland, in seine neue Heimat gekommen.

    "Ich verstehe die Jungs, was sie unterwegs erlebt haben, dieser Schmerz, dieses Heimweh, ich kann das alles verstehen, ich hab das alles miterlebt."

    Überwiegend sind es Jungen im Alter zwischen 14 und 17, die völlig allein am Saarbrücker Hauptbahnhof stranden. Sie fallen der Bundespolizei in die Hände, die den Nachtzug von Paris über Saarbrücken nach Hamburg am Grenzübergang regelmäßig kontrolliert. Die Jugendlichen wollen entweder nach Deutschland oder weiter nach Skandinavien. Der Nachtzug aus Paris sei bei den Schleppern beliebt, sagt Dieter Schwan, Pressesprecher der Bundespolizei:

    "Die Personen werden in Paris in den Zug gesetzt in die richtigen Abteile, die dann in Richtung Skandinavien gehen, und die brauchen sich im Falle einer Nichtkontrolle nicht mehr zu bewegen bis zu ihrem Bestimmungsort."

    Die Fluchtroute ist fast immer die gleiche wie bei Adi:

    "Fünf Monate von Afghanistan bis hier. Einen Monat im Iran, zweieinhalb Monate Griechenland und 20 Tage in der Türkei, dann Frankreich und Italien. Bis Griechenland sind die Schlepper mit, und dann allein."

    Drei bis achttausend Dollar kostet der Schlepper. Geld, das die Familien nicht haben. Sie kratzen es bei Verwandten zusammen, um den Söhnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Viele Jungen arbeiten darüber hinaus Monate oder sogar Jahre für die Finanzierung der Flucht auf Baustellen und in Gerbereien im Iran, wie Adi.

    "Ich hab’ zwei bis drei Jahre im Iran gearbeitet und den Verdienst genommen."

    Im vergangenen Jahr hat die Bundespolizei 213 minderjährige afghanische Flüchtlinge in die Obhut des zuständigen Jugendamtes in Saarbrücken gegeben. 2011 waren es 191, und nachdem die Behörden wegen des nicht abreißenden Zustroms ein Jahr lang an allen Ecken und Enden improvisieren mussten, sei inzwischen Routine eingetreten. Mirko Engel.

    "Wir können mit dem Ansturm sehr viel besser umgehen, weil es uns halt in der Zwischenzeit gelungen ist, Strukturen aufzubauen, Aufnahmestrukturen und Unterbringungsmöglichkeiten, so dass wir der gesamten Situation mittlerweile etwas gelassener entgegensehen."

    Im Clearinghaus bleiben die Jungen zwischen vier und sechs Monaten. Sie werden gepäppelt, medizinisch versorgt, und ein Team von Sozialarbeitern kümmert sich um ihre Asylanträge. Vom ersten Tag an werden sie in einen Sprachkurs geschickt.

    "Ich bin vier Monate in Deutschland, ich lebe im Clearinghaus, und wir sind eine große Familie. Und wenn wir jetzt wechseln in eine Wohngruppe, wir sind sehr traurig, weil wir verlassen meine Familie."

    Nach spätestens einem halben Jahr werden die Jungen auf Wohngruppen in Saarbrücken und den umliegenden Gemeinden verteilt und besuchen dort die allgemeinbildenden Schulen. Die Aussichten, dass sie allerdings auf Anhieb einen Hauptschulabschluss schaffen, sind gering. Denn viele sind nicht alphabetisiert, können auch in ihrer Muttersprache weder lesen und schreiben. Deshalb hat das Saarland an den Berufsbildungszentren Sonderklassen eingerichtet. In diesen sogenannten Produktionsschulen, die ebenfalls zum Hauptschulabschluss führen sollen, ist der Praxisanteil höher.

    Werkstattmeister Harald Michel ist mit seinen Schützlingen überaus zufrieden:

    "Die Schüler sind aufgeschlossen, sie sind motiviert, und sie bringen sehr viel Geschick mit."

    Und nach nur drei Monaten ist den Jugendlichen völlig klar, wie das deutsche duale Ausbildungssystem funktioniert. Ali Reza:

    "Ja, man muss in die Schule, dann einen Abschluss machen und dann drei Jahre lang Ausbildung machen."

    Aber ob sich die ganze Anstrengung für die jungen Leute auch lohnt, das wissen sie nicht. Denn grundsätzlich kann nach Afghanistan abgeschoben werden. Da ihre Asylanträge in aller Regel angelehnt werden, sind die meisten in Deutschland nur geduldet und damit ausreisepflichtig. Das bedeutet, spätestens wenn sie 18 und volljährig sind, droht die Abschiebung in ihr Herkunftsland. Für Nematullah und Zabihullah eine schwere Hypothek:

    "Ich habe Angst. Ich habe keinen Pass, keine ID bekommen, und ich weiß nicht, was passiert in der Zukunft, was passiert mit uns. Ich frage auch immer meinen Betreuer, was passiert mit uns morgen. Er hat gesagt, ich weiß es nicht, ich weiß auch nicht."

    Allerdings besteht für afghanische Flüchtlinge momentan zumindest eine relative Sicherheit, da die Ausländerbehörden der Bundesländer kaum jemanden in das Land am Hindukusch zurück schicken. Karin Schmitz-Meßner vom saarländischen Innenministerium:

    "Aus dem Saarland sind erwachsene afghanische Flüchtlinge schon seit längerer Zeit nicht mehr abgeschoben worden. Die letzte Abschiebung hatten wir 2009, das war ein Straftäter, und wir hatten davor 2006 eine Abschiebung, auch dabei hat es sich um einen Straftäter gehandelt."

    Garantien dafür, dass die jungen Erwachsenen in Deutschland eine Perspektive bekommen, gibt es jedoch nicht.

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