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Schlüsselfigur der französischen Aufklärung

Denis Diderot war nicht nur Philosoph und der wichtigste Herausgeber der Encyclopédie Française, sondern auch auch Literat. Er entwickelte Erzähltechniken, an die erst die Literatur des 20. Jahrhunderts nachhaltig anschloss. Zum 300. Geburtstag werden einige Werke neu aufgelegt.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Existiert Gott? Eine solche Frage durfte man im Frankreich Ludwig XV. nicht stellen. Atheismus war verboten. Dafür konnte man schnell ins Gefängnis kommen. So erging es Denis Diderot 1749. Anonym hatte er eine Schrift unter dem Titel Brief über die Blinden, zum Gebrauch für die Sehenden verfasst, die der neue Suhrkamp-Band enthält. Trotzdem war er vom Pfarrer seiner Gemeinde in Paris des Atheismus bezichtigt worden. Diderot geht es ja auch darum, die Natur durch die Sinne zu erfahren, nicht durch die Lehren der Kirche. Als Modell dazu bedient er sich des Blinden. Er schreibt:

    Die Empfindungen, die "der Blinde" durch den Tastsinn gewonnen hat, werden sozusagen die Grundform aller seiner Ideen bilden, und ich wäre nicht überrascht, wenn nach tiefem Nachdenken seine Finger ebenso ermüdet wären wie bei uns der Kopf.

    So schließt Diderot an die damals entstandenen Naturwissenschaften von Galilei und Newton an, orientiert sich dabei aber auch an den Fertigkeiten des Handwerks. Alles Wissen stützt sich auf die Sinne. Um Gott zu erfahren, müsste der Blinde also Gott ertasten können – eine Vorstellung, die im 18. Jahrhundert in Frankreich den Kopf kosten konnte.

    Diderot wird sich denn auch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei philosophischen Texten zurückhalten. So verlegt er sich primär auf die literarische Schreibweise und arbeitet an zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein berühmtester Roman, den er im letzten Jahrzehnt seines Lebens schreibt, ist Jacques der Fatalist und sein Herr, der bei Matthes & Seitz in einer gelungenen zeitgemäßen, neuen Übersetzung erscheint. Der Roman beginnt mit den Worten:

    - Wie waren sie einander begegnet?

    - Durch Zufall, wie alle.

    - Wie hießen sie?

    - Was schert Sie das?

    - Wo kamen sie her?

    - Vom nächstgelegenen Ort.

    - Wohin gingen sie?

    - Wer weiß schon, wohin er geht?

    - Was sagten sie?

    - Der Herr sagte nichts, und Jacques sagte, sein Hauptmann habe gesagt, alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, stehe dort oben geschrieben".

    Jacques‘ Fatalismus entpuppt sich als Haltung des Knechtes, mit der sich dieser in der Welt einrichtet, der er sich ausgeliefert sieht, die sich aber von vornherein als vom Zufall beherrscht erweist. Ein Gott lenkt sie offenbar nicht. Daher präsentiert sich auch der Autor keineswegs als allwissend, vielmehr besitzt er viele Informationen nicht, täuscht diese höchstens vor:

    "Und schon steckten sie mitten in einem endlosen Disput über die Frauen; der eine fand sie gut, der andere böse; (. . .) Ganz in dieses Streitgespräch vertieft, bei dem sie einmal um den Erdball hätten reiten können, ohne je zu verstummen oder sich zu einigen, wurden sie von einem Gewitter überrascht, das sie zwang, den Weg nach ... –

    - Wohin?

    - Wohin? Leser, Ihre Neugier ist wirklich lästig! Was zum Teufel schert Sie das? Ob ich jetzt sage, nach Pontoise oder nach Saint-Germain, nach Notre-Dame de Lorette oder nach Santiago de Compostela, was hätten Sie davon? Gut, wenn Sie darauf bestehen, dann sage ich Ihnen, dass die beiden den Weg nach ... ja, warum nicht? ... nach einem riesigen Schloss nahmen.

    Diderot entwickelt Erzähltechniken, an die erst die Literatur des 20. Jahrhunderts nachhaltig anschließen wird. Ein altes Stilmittel, dessen sich Diderot nicht nur in diesem Roman bedient, ist dagegen der Dialog. Doch er setzt ihn so ein, als könne man die Erzählung dadurch objektivieren, als hätte der Autor hinter einer Türe geheim zugehört. Briefe, die die Personen erwähnen, werden dagegen nicht zitiert, so als hätte der Autor in sie keinen Einblick gehabt.
    Mit dem Dialog führt Diderot dabei die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herr und Knecht vor:

    Gleich, als der Tag graute, spürte Jacques eine Hand, die ihn rüttelte, es war die seines Herren, der ihn leise rief.

    DER HERR: Jacques! Jacques!

    JACQUES: Was ist?

    DER HERR: Es wird hell.

    JACQUES: Mag sein.

    DER HERR: Steh schon auf.

    JACQUES: Warum?

    DER HERR: Um hier so schnell wie möglich wegzukommen.

    JACQUES: Warum?

    DER HERR: Weil wir hier nicht sicher sind.

    JACQUES: Wer sagt, dass es woanders besser ist?

    DER HERR: Jacques?

    JACQUES: Mein Gott, Jacques, Jacques. Was für ein verteufelter Kerl sind Sie doch.

    DER HERR: Du bist ein verteufelter Kerl! ... Jacques, mein Freund, bitte.

    Meistens redet Jacques und der Herr fragt gelegentlich nach. Er lässt sich von Jacques auf der Reise ohne Ziel unterhalten, bedienen und beschützen, behandelt ihn aber auch freundlich. Er scheitert, als er ihm diese Freundlichkeit entziehen will. Hegel entwickelt 1807 in seiner Phänomenologie des Geistes daraus sein berühmtes Kapitel über die wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Knecht, das Marx beeinflussen wird.

    DER HERR: Sie verkennen, was es bedeutet, wenn ein Vorgesetzter einen Untergebenen seinen Freund nennt.

    JACQUES: Wenn man weiß, dass Ihre sämtlichen Befehle nichts als in den Wind gesprochen sind, solange Jacques sie nicht akzeptiert; nachdem Sie Ihren Namen derart eng mit meinem verbunden haben, dass einer ohne den anderen ganz undenkbar ist und alle Welt immer nur sagt "Jacques und sein Herr"; da fällt es Ihnen urplötzlich ein, beide trennen zu wollen! Nein, mein Herr, daraus wird nichts. Es steht da oben geschrieben: Solange Jacques lebt, und solange sein Herr lebt, und sogar wenn sie beide gestorben sind, so wird man immer nur sagen "Jacques und sein Herr".

    DER HERR: Und ich sage, Jacques, Sie gehen jetzt hinunter, und zwar gehen Sie jetzt sofort, weil ich es Ihnen befehle.

    JACQUES: Lieber Herr, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen gehorche, dann müssen Sie mir etwas anderes befehlen.

    Da stand Jacques´ Herr auf, packte ihn am Kragen und sagte ernst:
    "Gehen Sie hinunter."

    Jacques antwortete kühl:
    "Das tue ich nicht."

    Jacques soll dem Herrn die Geschichte seiner großen Liebe erzählen. Das gerät kollagenartig, wird häufig unterbrochen, und zwar zumeist durch andere Liebesgeschichten, die ob ihrer Drastik realistisch erscheinen. Eine vornehme Dame nimmt an ihrem Liebhaber Rache, weil er sie nicht mehr liebt, indem sie ihn nicht etwa ermorden lässt, sondern ihn zu einer Ehe mit einer Hure verleitet, die er für ehrbar hält. Doch daraus wird dann fast die einzige Liebe des Romans, die wider alle Sitte und Religion klappt.

    Oder aber ein Graf berichtet von den Gemeinheiten und dem ausschweifenden Leben im Kloster, womit Diderot beinahe die grausamen Geschichten des Marquis de Sade antizipiert:

    "Ein direkt neben diesem Kloster liegendes Haus war dem Abt vorbehalten. Es hatte zwei Türen, eine zur Straße hin und eine zum Kloster; diese hatte Pater Hudson aufgebrochen, das Haus des Abtes zum Unterschlupf seiner nächtlichen Freuden gemacht und das Bett zu seinem Liebeslager. Spät nachts ließ er durch die Straßentür eigenhändig Frauen jeglichen Standes in das Abtshaus ein: Denn hier beging man galante Diners. Hudson hatte jede Frau verführt, die ihn im Beichtstuhl aufsuchte und bei der die Mühe sich zu lohnen versprach."

    Auch die Geschichte von Jacques großer Liebe vermag der Autor nicht gradlinig zu berichten. Das liegt, wie er immer wieder beteuert, am weitschweifigen Jacques, der auch seine früheren Liebesabenteuer mit einflechtet. Manches Mal gerät das höchst detailreich und beinahe obszön:

    Tatsache ist, dass ich die Hand immer noch da hatte, wo bei ihr nichts war, und sie ihre da bei mir, wo es bei mir nicht ganz genauso war. Tatsache ist, dass ich mich unter ihr befand und sie sich folglich über mir. Tatsache ist, dass ich ihr keine Arbeit abnehmen konnte und sie alles allein erledigen musste. Tatsache ist, dass sie sich so vollen Herzens meiner Bildung widmete, dass ein Moment kam, da dachte ich, sie würde sterben.

    Nicht nur dass sich derart bei Diderot ein hedonistischer, an der Lust orientierter Grundzug seiner Philosophie offenbart. Sie beruht überhaupt auf dem Empfindungsvermögen, das Diderot aber auf die gesamte Materie ausdehnt als deren Grundprinzip. Vor allem in seinem, in der neuen Suhrkamp-Edition ebenfalls enthaltenen Dialog D’Alemberts Traum, in dem er sein sensualistisches Denken entwickelt, entsteht ein monistischer Naturalismus, der einerseits zu heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht so recht mehr passen will. Andererseits aber antizipiert er sogar die Evolutionstheorie, wenn er schreibt:

    Das unsichtbare Würmchen, das sich im Schlamm regt, ist vielleicht auf dem Weg zum Großtierzustand; das riesige Tier, das uns durch seine Größe erschreckt, ist vielleicht auf dem Weg zum Wurmzustand und vielleicht nur ein besonderes und vorübergehendes Produkt dieses Planeten.

    Doch auch das Empfindungsvermögen als allgemeine Eigenschaft der Materie lässt sich modern deuten. Nicht nur dass sich Diderot dabei auf Newtons Begriff der Bewegung als einer allgemeinen Eigenschaft der Materie stützen kann. Heutige physikalische Vorstellungen von Materie gehen davon aus, dass man vom Atom nur Informationen hat, nicht aber das Atom an sich. Das Universum liefert folglich Informationen, das Empfindungsvermögen auch. Dann klingt selbst Diderots Sensualismus nicht mehr so altbacken.

    Denis Diderot, Philosophische Schriften
    Hrsg. und mit einem Nachwort von Alexander Becker, übers. von Theodor Lücke, stw, Berlin 2013, 281 S., 17 Euro

    Ders., Jacques der Fatalist und sein Herr
    aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Matthes & Seitz, Berlin 2013, 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 24,90 Euro