Am Mikrofon Frank Kämpfer - ich spiele Ihnen heute verschiedene neue Aufnahmen mit Musik von Sofia Gubaidulina an, die am 24. Oktober vergangenen Jahres 80 Jahre alt geworden ist.
Musik 01
Sofia Gubaidulina, In Tempus Praesens
Vadim Guzman (Violine), Lucerne Symphony Orchestra, Ltg. Jonathan Nott
CD BIS-CD-1752, LC
Take 01
29:50 - 31:35
1:40
Brillanz, gegründet auf Handwerk, der Atem der Gattungsgeschichte, Vertrautsein mit Techniken auch der Moderne - und schließlich ein schwer zu überhörendes Quantum publikumswirksamen Bombasts: All dies, so scheint es, steckt im Zweiten Violinkonzert "n tempus praeses", das Sofia Gubaidulina für Anne-Sophie Mutter schrieb, und das Letztere beim Lucerne Festival 2007 mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle uraufgeführt hat. Hier handelt es sich um eine Folgedarbietung mit dem Lucerne Symphony Orchestra unter Jonathan Nott und dem Israeli Vadim Gluzman als Solist.
Das brillant ausgeführte Solokonzert beruft sich strukturell auf das Ideal göttlicher Dreieinigkeit - und es bedient die Sehnsucht des mitteleuropäischen Konzertpublikums nach virtuoser Musik; Avantgarde ist es nicht. Dazu wirkt das Werk wirkt zu effektvoll, zu vielgestaltig, grundsätzlich zu kompatibel. Im Booklet des schwedischen Labels BIS ist nachzulesen, dass es der Urheberin gleichgültig sei, ob man sie als modern oder nicht einstufen würde, wichtig wäre ihr nur die innere Wahrheit ihrer Musik. Marketingtechnisch ist das prägnant formuliert - aber was meint das?
Ein gleichfalls unextremes Konzert für Schlagensemble & Orchester, "Glorious Percussion", fertig gestellt 2008, komplettiert die Compact Disc, die nicht verleugnet, dass die musikalische Urheberin nunmehr etabliert ist oder etabliert worden ist - auf dem Weltmarkt, bei den ganz Großen, wo es keine Risiken gibt.
Gänzlich anders, schärfer, individueller klingt eine in anderer Zeit notierte Kammermusik, für Akkordeon, Violoncello und Streicher - bezugreich "Sieben Worte" genant. Auf 1982 datiert, also noch unter sowjetischer Herrschaft verfasst, vermittelt die siebensätzige Arbeit Kargheit, Konsequenz, große Ernsthaftigkeit:
Musik 02
Sofia Gubaidulina, Father, forgive them aus Seven Words
Inaki Alberdi (Akkordeon), Asier Polo (Cello)
CD ET'CETERA, LC 14750
Take 01
1:49 - 3:20
1:30
Soweit ein kurzer Ausschnitt aus Gubaidulinas "Sieben Worte" - gespielt von Inaki Alberdi (Akkordeon) und Asier Polo (Violoncello), begleitet vom Baskischen Nationalorchester unter José Ramón Encinar. Diese spanische Produktion ist beim niederländischen Label ET'CETERA editiert.
Dramaturgisch gruppiert sich die Platte rund ums Akkordeon, das bei Gubaidulina eigentlich ein Bajan, ein osteuropäisches Knopfakkordeon ist, und das hier einmal auch einen Orgelpart imitiert. Gleichfalls versammelt die CD Werke mit religiösem Bezug. Ihren Glauben hatte Gubaidulina bereits in den frühen 70er-Jahren nicht mehr künstlich zu verbergen gesucht. In der Sowjetunion unter Leonid Breschnew war das nicht mehr lebensgefährlich, aber es brauchte doch Mut. Religiosität indes verstand die Komponistin schon damals als im Leben zentrales Moment, als Bewältigungsform für einen jeden, als Gegenentwurf auch zu Entwicklungen in Ost wie in West.
Persönlich versteht die Künstlerin vor allem ihr Komponieren als Form, als Möglichkeit großer Nähe zu Gott. Werke wie "In Croce", "Sieben Worte" oder "Et expecto" sind ob ihrer Strenge und inneren Intensität Belege dafür. Ihr Verhältnis zur christlichen Tradition reicht bei Gubaidulina bis hinein in Zahlensymbolik und die Gestalt von Motiven, Zitaten, Strukturen. Wie bei Bach und Schütz ist das Kreuz ein ideales Symbol.
Akkordeonist Inaki Alberdi, der in Moskau studierte, interpretiert Gubaidulinas Tastenmusik souverän, mit deutlicher Geste, sehr klar.
Musik 03
Sofia Gubaidulina, Et expecto
Inaki Alberdi (Akkordeon), Asier Polo (Cello)
CD ET'CETERA, LC 14750
Take 11
1:20 - 4:25
3:05
Auf gänzlich anderem Terrain spielt und äußert sich die Vorliebe Sofia Gubaidulinas für Humor, absurde Literatur. Ein passendes Beispiel: Christian Morgensterns "Galgenlieder". Ungeachtet der Zahlenproportionen, die das Opus grundieren - die Komponistin entfaltet die grotesken deutschsprachigen Reime zu einem großräumigen Zyklus vokaler Kammermusik, darin musikalisch vielfarbige, vielgestaltige, auch theatrale Miniaturen bemerkenswerte Tiefe erlangen. Barbara Höfling (Mezzosopran), Elsbeth Moser (Bajan), Gergely Bodoky (Flöte), Cornelia Monske (Schlagzeug) und Martin Heinze (Kontrabass) haben die Quintettversion vergangenes Jahr sehr pointiert für das Label Dreyer Gaido aufgenommen:
Musik 04
Sofia Gubaidulina, Das ästhetische Wiesel aus: Galgenlieder
Barbara Höfling (Mezzosopran), Elsbeth Moser (Bajan), Gergely Bodoky (Flöte), Cornelia Monske (Schlagzeug) und Martin Heinze (Kontrabass)
CD dreyer gaido CD 21071, LC 11796
Take 02
2:00
"Galgenlieder" auf Verse von Christian Morgenstern. Die Komponistin, von früh an verbunden mit deutscher Musik und Literatur, komponierte das dreiviertelstündige Opus Mitte der 90er-Jahre in Hamburg, wo sie seit 1992 ansässig ist.
Die letzte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, gehört in die Rubrik Historische Aufnahmen. Dokumentiert sie doch ein spektakuläres Konzert vom April 1982 im großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Im Programm drei seinerzeit in Moskau auf schwarzen Listen geführte, im Westen als Geheimtipp gehandelte Tonsetzer: Denissow, Schnittke, Gubaidulina.
Im Zentrum steht Gubaidulinas erstes Violinkonzert "Offertorium" - ein Werk schroffer Gegensätze, das Passagen wilder instrumentaler Gefechte durchmisst und am Ende in einen hochemotionalen monochromen Klagegesang des Streichinstruments mündet. Motivisch bezieht sich die Komponistin auf Bachs "Musikalisches Opfer", genauer auf Weberns Instrumentierung, wobei sie das musikalische Thema selbst nach und nach opfert, das heißt bis auf einen einzigen Ton reduziert. Gidon Kremer hat dieses Violinkonzert auf vielen Podien gespielt und den Namen Gubaidulina damit weltweit bekannt gemacht; hier indes heißt der Solist, der dem Dokument seine Prägung aufdrückt, Oleg Kagan.
Musik 05
Sofia Gubaidulina, Offertorium
Oleg Kagan (Violine). Sinfonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR
CD Melodia MEL CD 1001724, kein LC
Take 02
33:58 - 38:35
4:37
Oleg Kagan (Violine), begleitet vom Sinfonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR mit Gennady Rozhdestvensky am Pult. Der historische Mitschnitt von 1982 ist jetzt beim russischen Label Melodya erschienen, Vertrieb Codaex. Bei Codaex ist auch die bei Et'Cetera verlegte CD "Kadenza" mit geistlicher Kammermusik beziehbar. Zuvor habe ich Ihnen Gubaidulinas "Galgenlieder", verlegt beim Label Dreyer Gaido, und weitere Konzertmusik angespielt, die bei BIS in Schweden erschien. Soweit für heute "Die neue Platte", ausgewählt von Frank Kämpfer.
Musik 01
Sofia Gubaidulina, In Tempus Praesens
Vadim Guzman (Violine), Lucerne Symphony Orchestra, Ltg. Jonathan Nott
CD BIS-CD-1752, LC
Take 01
29:50 - 31:35
1:40
Brillanz, gegründet auf Handwerk, der Atem der Gattungsgeschichte, Vertrautsein mit Techniken auch der Moderne - und schließlich ein schwer zu überhörendes Quantum publikumswirksamen Bombasts: All dies, so scheint es, steckt im Zweiten Violinkonzert "n tempus praeses", das Sofia Gubaidulina für Anne-Sophie Mutter schrieb, und das Letztere beim Lucerne Festival 2007 mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle uraufgeführt hat. Hier handelt es sich um eine Folgedarbietung mit dem Lucerne Symphony Orchestra unter Jonathan Nott und dem Israeli Vadim Gluzman als Solist.
Das brillant ausgeführte Solokonzert beruft sich strukturell auf das Ideal göttlicher Dreieinigkeit - und es bedient die Sehnsucht des mitteleuropäischen Konzertpublikums nach virtuoser Musik; Avantgarde ist es nicht. Dazu wirkt das Werk wirkt zu effektvoll, zu vielgestaltig, grundsätzlich zu kompatibel. Im Booklet des schwedischen Labels BIS ist nachzulesen, dass es der Urheberin gleichgültig sei, ob man sie als modern oder nicht einstufen würde, wichtig wäre ihr nur die innere Wahrheit ihrer Musik. Marketingtechnisch ist das prägnant formuliert - aber was meint das?
Ein gleichfalls unextremes Konzert für Schlagensemble & Orchester, "Glorious Percussion", fertig gestellt 2008, komplettiert die Compact Disc, die nicht verleugnet, dass die musikalische Urheberin nunmehr etabliert ist oder etabliert worden ist - auf dem Weltmarkt, bei den ganz Großen, wo es keine Risiken gibt.
Gänzlich anders, schärfer, individueller klingt eine in anderer Zeit notierte Kammermusik, für Akkordeon, Violoncello und Streicher - bezugreich "Sieben Worte" genant. Auf 1982 datiert, also noch unter sowjetischer Herrschaft verfasst, vermittelt die siebensätzige Arbeit Kargheit, Konsequenz, große Ernsthaftigkeit:
Musik 02
Sofia Gubaidulina, Father, forgive them aus Seven Words
Inaki Alberdi (Akkordeon), Asier Polo (Cello)
CD ET'CETERA, LC 14750
Take 01
1:49 - 3:20
1:30
Soweit ein kurzer Ausschnitt aus Gubaidulinas "Sieben Worte" - gespielt von Inaki Alberdi (Akkordeon) und Asier Polo (Violoncello), begleitet vom Baskischen Nationalorchester unter José Ramón Encinar. Diese spanische Produktion ist beim niederländischen Label ET'CETERA editiert.
Dramaturgisch gruppiert sich die Platte rund ums Akkordeon, das bei Gubaidulina eigentlich ein Bajan, ein osteuropäisches Knopfakkordeon ist, und das hier einmal auch einen Orgelpart imitiert. Gleichfalls versammelt die CD Werke mit religiösem Bezug. Ihren Glauben hatte Gubaidulina bereits in den frühen 70er-Jahren nicht mehr künstlich zu verbergen gesucht. In der Sowjetunion unter Leonid Breschnew war das nicht mehr lebensgefährlich, aber es brauchte doch Mut. Religiosität indes verstand die Komponistin schon damals als im Leben zentrales Moment, als Bewältigungsform für einen jeden, als Gegenentwurf auch zu Entwicklungen in Ost wie in West.
Persönlich versteht die Künstlerin vor allem ihr Komponieren als Form, als Möglichkeit großer Nähe zu Gott. Werke wie "In Croce", "Sieben Worte" oder "Et expecto" sind ob ihrer Strenge und inneren Intensität Belege dafür. Ihr Verhältnis zur christlichen Tradition reicht bei Gubaidulina bis hinein in Zahlensymbolik und die Gestalt von Motiven, Zitaten, Strukturen. Wie bei Bach und Schütz ist das Kreuz ein ideales Symbol.
Akkordeonist Inaki Alberdi, der in Moskau studierte, interpretiert Gubaidulinas Tastenmusik souverän, mit deutlicher Geste, sehr klar.
Musik 03
Sofia Gubaidulina, Et expecto
Inaki Alberdi (Akkordeon), Asier Polo (Cello)
CD ET'CETERA, LC 14750
Take 11
1:20 - 4:25
3:05
Auf gänzlich anderem Terrain spielt und äußert sich die Vorliebe Sofia Gubaidulinas für Humor, absurde Literatur. Ein passendes Beispiel: Christian Morgensterns "Galgenlieder". Ungeachtet der Zahlenproportionen, die das Opus grundieren - die Komponistin entfaltet die grotesken deutschsprachigen Reime zu einem großräumigen Zyklus vokaler Kammermusik, darin musikalisch vielfarbige, vielgestaltige, auch theatrale Miniaturen bemerkenswerte Tiefe erlangen. Barbara Höfling (Mezzosopran), Elsbeth Moser (Bajan), Gergely Bodoky (Flöte), Cornelia Monske (Schlagzeug) und Martin Heinze (Kontrabass) haben die Quintettversion vergangenes Jahr sehr pointiert für das Label Dreyer Gaido aufgenommen:
Musik 04
Sofia Gubaidulina, Das ästhetische Wiesel aus: Galgenlieder
Barbara Höfling (Mezzosopran), Elsbeth Moser (Bajan), Gergely Bodoky (Flöte), Cornelia Monske (Schlagzeug) und Martin Heinze (Kontrabass)
CD dreyer gaido CD 21071, LC 11796
Take 02
2:00
"Galgenlieder" auf Verse von Christian Morgenstern. Die Komponistin, von früh an verbunden mit deutscher Musik und Literatur, komponierte das dreiviertelstündige Opus Mitte der 90er-Jahre in Hamburg, wo sie seit 1992 ansässig ist.
Die letzte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, gehört in die Rubrik Historische Aufnahmen. Dokumentiert sie doch ein spektakuläres Konzert vom April 1982 im großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Im Programm drei seinerzeit in Moskau auf schwarzen Listen geführte, im Westen als Geheimtipp gehandelte Tonsetzer: Denissow, Schnittke, Gubaidulina.
Im Zentrum steht Gubaidulinas erstes Violinkonzert "Offertorium" - ein Werk schroffer Gegensätze, das Passagen wilder instrumentaler Gefechte durchmisst und am Ende in einen hochemotionalen monochromen Klagegesang des Streichinstruments mündet. Motivisch bezieht sich die Komponistin auf Bachs "Musikalisches Opfer", genauer auf Weberns Instrumentierung, wobei sie das musikalische Thema selbst nach und nach opfert, das heißt bis auf einen einzigen Ton reduziert. Gidon Kremer hat dieses Violinkonzert auf vielen Podien gespielt und den Namen Gubaidulina damit weltweit bekannt gemacht; hier indes heißt der Solist, der dem Dokument seine Prägung aufdrückt, Oleg Kagan.
Musik 05
Sofia Gubaidulina, Offertorium
Oleg Kagan (Violine). Sinfonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR
CD Melodia MEL CD 1001724, kein LC
Take 02
33:58 - 38:35
4:37
Oleg Kagan (Violine), begleitet vom Sinfonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR mit Gennady Rozhdestvensky am Pult. Der historische Mitschnitt von 1982 ist jetzt beim russischen Label Melodya erschienen, Vertrieb Codaex. Bei Codaex ist auch die bei Et'Cetera verlegte CD "Kadenza" mit geistlicher Kammermusik beziehbar. Zuvor habe ich Ihnen Gubaidulinas "Galgenlieder", verlegt beim Label Dreyer Gaido, und weitere Konzertmusik angespielt, die bei BIS in Schweden erschien. Soweit für heute "Die neue Platte", ausgewählt von Frank Kämpfer.