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Schlüsselfigur japanischer Gegenkultur

Das Werk des Japaners Koji Wakamatsu umfasst über 100 Filme, darunter "United Red Army", der 2008 auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Er sei ein Provokateur gewesen, der sich für den Exzess und das Extreme interessiert habe, sagt Rüdiger Suchsland über den Regisseur, der an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Dina Netz |
    Dina Netz: Der Tod des japanischen Regisseurs Koji Wakamatsu, der passt irgendwie zu seinem Leben und zu seinen Filmen: Koji Wakamatsu ist in der Nacht zu gestern an den Folgen eines Autounfalls gestorben. Er war in Tokios Ausgeh- und Einkaufsviertel Shinjuku unterwegs und wurde von einem Taxi erfasst. Wakamatsu ist also buchstäblich mitten aus der Gesellschaft herausgerissen worden, mit der er sich sein Leben lang auseinandergesetzt hat. Er war ein Regisseur, der auch die heiklen Themen in Japans Geschichte und Gegenwart aufgegriffen hat. Wakamatsus Werk umfasst um die 100 Filme, von denen nur wenige auch in Europa zu sehen waren, meistens auf Festivals. Frage an Rüdiger Suchsland: Kann man in 76 Lebensjahren überhaupt 100 anspruchsvolle Filme drehen?

    Rüdiger Suchsland: Ja! Es mag schon sein - ich habe ja auch nicht alle 100 gesehen -, dass der eine oder andere dabei ist, der nicht ganz so anspruchsvoll ist. Andererseits: selbst diese kleinen erotischen, sogenannten "Pinku eiga", also rosa Filme, wie man in Japan so Softpornos bezeichnet, die haben zum Teil einen subversiven Wert und, wie soll man sagen, einen Mehrwert, der sich vielleicht auch nur innerhalb der japanischen Gesellschaft erschließt. Wir kennen das ja von uns, irgendwann waren nackte Busen auch mal subversiv. Und Wakamatsu ist sicherlich ein Mensch dieser Epoche, der kulturellen Revolte der 60er-Jahre. Da hat er seinen Weg begonnen und einige seiner tollsten Filme gemacht.

    Netz: Ich habe schon gesagt, Japan war Wakamatsus Thema, auf eine kritische Art. Nennen Sie doch vielleicht mal ein, zwei wichtige Beispiele dafür, welche Themen ihn beschäftigt haben ...

    Suchsland: Wenn man es zusammenfassen will, dann kann man zum einen sagen, dass ihn immer Exzess und das Extreme interessiert haben, selbst das Extreme, was so in der Pop Kultur drin liegt, wenn Frauen plötzlich zur Waffe greifen, oder zur Rächerin werden, oder wenn Frauen aus ihrem Körper eine Waffe machen. Das ist so eine Schiene, wo man mehrere Filme von ihm gesehen hat. Es gibt Filme, die heißen dann zum Beispiel auch "Zweimal Jungfrau", die heißen "Gewalt! Gewalt", die heißen "Running in Madness, Dying in Love". Die Titel sagen schon so einiges. Und tatsächlich, in Shinjuku, diesem Ausgehviertel von Toki, das oft von Filmemachern zum Thema gemacht wird, da hat er auch einige seiner Filme und seiner Figuren spielen lassen. Das waren junge Outsider, die sich ihr Recht auf Freiheit genommen haben.

    Das andere Thema, was wichtig ist, ist, dass er oft von Gruppen erzählt hat, die auch eine Outsiderposition haben, und über die inneren Verwerfungen, auch die Selbstzerstörungsprozesse, die dann so in der Gruppendynamik auftauchen, und man muss da nicht an die WGs der 70er denken, sondern man kann an den Terrorismus der 70er denken, den Linksterrorismus, den er in einem seiner besten Filme zum Thema gemacht hat. "United Red Armee", der lief vor ein paar Jahren bei der Berlinale und dann auf vielen Festivals der Welt, der handelt von dem japanischen Pendant der RAF. Und einer seiner letzten Filme, der handelt eben – Sie haben es gesagt – von dem Dichter Yukio Mishima, der mit ganz wenigen Getreuen einen von Anfang an aussichtslosen Staatsstreich im Jahr 1970 versucht hat, und dieser Staatsstreich endete mit dem Selbstmord eines berühmten Dichters. Das ist so, wie wenn Günter Grass plötzlich Selbstmord begehen würde. Das war wirklich eine Sensation in Japan.

    Netz: In Japan und überhaupt in Asien übt man ja eigentlich nicht öffentlich Kritik. Wie wurden denn Wakamatsus Filme in seiner Heimat aufgenommen?

    Suchsland: Ja er war selber ein Outsider. Er war jemand, der diesen Konsens, der ja oft auch ein Schweigekonsens, ein Verdrängungskonsens ist, der den gestört hat – von Anfang an. Er war ein Provokateur und wurde deswegen auch nicht ohne Grund mit der französischen Nouvelle Vague verglichen, mit diesen ganzen Bewegungen des befreienden, auch sehr politischen Autorenkinos in Europa. Das hat er quasi für Japan repräsentiert. Und er war vor allem ein guter Filmemacher und Filme, das sind ja zu allererst mal Bilder. Dann sind es Geschichten, die Dynamik, es ist der Schnitt, es ist dann auch die Kamerabewegung und schließlich der Gebrauch von Musik. Und ich habe es ja schon gesagt: Er war bis heute im hohen Alter nahe dran an der Pop Kultur. Er hat gewusst, was in ist, er hat auch eben diese Lust am Provozieren gehabt und deswegen immer geschaut, wo ist eine kleine Grenzüberschreitung möglich. Und man darf sich ja nicht täuschen: selbst das konservative, selbst das bürgerliche Publikum – das ist in Japan nicht anders -, das liebt die Grenzüberschreitung, wenn man da zumindest als Voyeur zugucken kann, und im Kino geht es um Voyeurismus. Er hat diesen Voyeurismus thematisiert, er hat ihn aber auch befriedigt beim Publikum.

    Netz: Rüdiger Suchsland zum Tod des japanischen Filmregisseurs Koji Wakamatsu.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.