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Schluss mit dem Reisezirkus

Das EU-Parlament tagt in Brüssel und in Straßburg. Das regelmäßige Pendeln kostet viel Geld und Zeit. Seit Jahren diskutieren die Abgeordneten über eine Veränderung dieser Praxis. Jetzt gibt es einen neuen Anlauf.

Von Karin Bensch |
    Bahnhof Brüssel-Midi. Der Thalys steht am Gleis. Ein Sonderzug, der EU-Abgeordnete, ihre Mitarbeiter und Journalisten zu den Parlamentssitzungen nach Straßburg bringt.

    Der Zug fährt erst einmal Richtung Paris. Ein Umweg. Doch nur so kommt er auf die Hochgeschwindigkeitstrasse. Eine schnelle Strecke zwischen Brüssel und Straßburg wurde nie gebaut.

    Nach gut dreieinhalb Stunden fährt der Zug in Straßburg ein. Dann beginnt das große Kofferrollen. Etwa 4000 Menschen sind jeden Monat nach Straßburg unterwegs. Insgesamt 766 Abgeordnete hat das EU-Parlament zurzeit. Hinzu kommen rund 3000 Mitarbeiter der Büros, Fraktionen und der Verwaltung. Außerdem müssen etliche Lastwagen voller Aktenordner transportiert werden. Das Ganze kostet etwa 200 Millionen Euro im Jahr, Geld europäischer Steuerzahler.

    Gerald Häfner, Mitglied der Grünen Fraktion im Europaparlament, sagt, dass er diese Ausgaben in seinem bayrischen Wahlkreis nicht rechtfertigen kann. Zudem belaste der monatliche Pendelverkehr die Umwelt. Der Parlamentarier fordert deshalb, dass der Reisezirkus aufhört.

    "Ein Parlament muss an einem Ort arbeiten. Und ein Parlament muss am selben Ort arbeiten wie die 'Regierung'. Also das heißt in dem Fall Kommission und Rat, weil wir permanent mit denen verhandeln müssen. Und die kontrollieren müssen. Und das Parlament in Europa hin- und herreisen zu lassen, und die Kommission in Brüssel, das ist alles Unsinn."

    1952 wurde die beratende Versammlung der Montanunion gegründet, ein Vorläufer des EU-Parlaments. Sie traf sich in Straßburg, weil die französische Stadt an der deutschen Grenze als Symbol galt für die europäische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt Häfner.

    "Das hat sich komplett überlebt, das ist ja auch schon weit über 50 Jahre her, dass das beschlossen wurde."

    Heute tagt das EU-Parlament mehrheitlich in Brüssel und nur zwölf Mal im Jahr in Straßburg. Dennoch muss das Parlamentsgebäude das ganze Jahr über geheizt, gereinigt und klimatisiert werden. Das kostet viel Geld, sagt Alexander Graf Lambsdorff von den Liberalen.

    "Straßburg ist heute Symbol für ein Problem, das Europa offensichtlich unfähig ist zu lösen. Also ein negatives Symbol."

    Joseph Daul ist ein konservativer Politiker aus Frankreich, genauer gesagt aus dem Elsass, also der Region rund um Straßburg. Ihn nervt die Diskussion um den europäischen Reisezirkus.

    "Das ist nur Theater. Das kommt jedes Mal und jedes Jahr."

    Die EU-Abgeordneten können nicht selbst über ihren Arbeitsort entscheiden. Das ist Sache der 28 Staats- und Regierungschefs. Sie müssten einstimmig Ja sagen und die Verträge ändern.

    "Ich glaube nicht, dass Frankreich, wo auch ein Nettozahler ist, das man erlauben kann, das keine Institution da ist."

    Die französische Regierung blockiert das seit Jahren aus finanziellen Gründen. Denn die EU-Institutionen in Straßburg sind eine willkommene Geldquelle für die Stadt, für Hotels, Restaurants und Geschäfte. Aber auch gut fürs Image. Alexander Graf Lambsdorff von der FDP lässt das jedoch nicht gelten.

    "Dieses Prestigedenken, das halte ich für völlig überzogen, für überkommen. Das ist ein bisschen aus der Zeit gefallen. Straßburg hat nach wie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Europarat. Es wird seine europapolitische Position also behalten."

    Doch auch Luxemburg will seine Besitzstände wahren. Das kleinste Flächenland der Welt ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU. In Luxemburg sitzt vor allem die Verwaltung. Die Stadt ist aber auch Tagungsort für den Rat der Europäischen Union. Im April, Juni und Oktober treffen sich die Minister dort. Die restlichen neun Monate steht das große Gebäude leer.

    Gerald Häfner von den Grünen glaubt an Veränderungen. Zusammen mit einem britischen Kollegen hat er einen Bericht erarbeitet. Darin fordern sie, dass das EU-Parlament in Zukunft selbst entscheiden darf, wo und wann es tagt. Denn dies gehöre zum Selbstbestimmungsrecht des Parlaments.
    Der Verfassungsausschuss soll im Oktober die Beratungen über den Bericht abschließen. Im November wird er dann ins Plenum gehen und Ende des Jahres sollen die Abgeordneten darüber abstimmen. Danach liegt der Ball bei den Staats- und Regierungschefs. Alexander Graf Lambsdorff von den Liberalen hofft auf eine praktische Regelung:

    "Natürlich wäre die sinnvollste Entscheidung, wenn man im Europäischen Vertrag ganz einfach festhält, dass das, was für nationale Parlamente gilt, auch fürs Europäische Parlament gilt. Nämlich dass das Parlament über seinen Sitz selbst entscheiden darf. Zurzeit ist es so, wenn wir einfach in Brüssel bleiben, was ja manche vorschlagen, dann sagt der Europäische Gerichtshof, das ist ein Bruch des europäischen Rechts."

    Und so lange es keine klare Entscheidung gibt, fahren knapp 4000 EU-Bürger weiterhin einmal im Monat von Brüssel nach Straßburg - und wieder zurück.