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Schlussstrich unter grausames Morden

Der gut vier Monate dauernde Russisch-Polnische Krieg war von maßloser Brutalität geprägt, das erbarmungslose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung kostete zahllose Menschenleben. Die Niederlage durch das "Wunder an der Weichsel" zwang die Rote Armee 1921 zum Friedenvertrag. Zwar entstand nicht das erhoffte Großpolen, die Landesgrenzen wurden aber 300 Kilometer weiter nach Osten ausgedehnt werden.

Von Bernd Ulrich | 18.03.2006
    "Am Abend Attacke nahe einem Einzelgehöft. Wir bitten flehentlich, die Gefangenen nicht niederzumachen. Doch das Niedermachen hat eine schreckliche Rolle gespielt. Die Hölle. Wie wir die Freiheit bringen, schrecklich. Ein Gehöft wird durchsucht, man findet noch welche, - keine Patronen verschwenden, abstechen."

    Der Schriftsteller Isaak Babel am 18. August 1920 in seinem Tagebuch. Babel diente als Kriegsberichterstatter in der 1. Roten Reiterarmee des Kosakengenerals Siemion Budjonny. Der Krieg, den Babel wenig später in seinem Erzählungsband "Die Reiterarmee" literarisch verewigt, ist der Russisch-Polnische Krieg - gGeführt zwischen dem 25. April und dem 31. August 1920, nur von kurzer Dauer also, aber von maßloser Brutalität, erbarmungslos vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung in Galizien, dort wo Budjonnys Armee vorrückte.

    In diesem "Armenhaus Europas" gab es keine kriegswichtigen Ziele, dafür aber, so der Biograpf Isaak Babels, der Journalist Reinhard Krumm, "genügend Ziele des Hasses. Denn hier lag das Zentrum der jüdischen Gemeinden Osteuropas, die Schtetl. Auf diese kleinen Städtchen schlugen zunächst die Polen ein, dann die Reiterarmee. Mehr als 1200 Pogrome in 530 Orten wurden verübt. 60.000 Juden kamen dabei um."

    Niemals offiziell erklärt, begann dieser Krieg auf jenem europäischen Trümmerfeld, das der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte. Im wiederbegründeten Polen konzentrierten sich alle Hoffnungen auf Marschall Jozef Pilsudski. Er träumte von Großpolen, das die Ukraine und Teile Weißrusslands einschloss. Die Zeichen dafür standen nicht ungünstig.

    Denn die Russische Sozialistische Förderative Sowjetrepublik war ein durch Revolution und Bürgerkrieg ausgelaugtes Land. Im April 1920 begannen Pilsudskis Armeen mit dem Einmarsch - diplomatisch gedeckt durch Frankreich. Die französische Republik wünschte im Osten ein starkes Polen. Es sollte als Bollwerk gleichermaßen gegen das besiegte, doch immer noch gefürchtete Deutschland stehen wie gegen den Bolschewismus und seine weltrevolutionären Ambitionen.

    Doch die rasche Okkupation endete zunächst in einem Desaster. Nach wechselvollen Kämpfen stand die Rote Armee unter General Tuchatschewski Mitte August vor Warschau. Pilsudski schrieb in seinen Erinnerungen:

    "Unsere Lage schien hoffnungslos. Den einzigen hellen Streifen am dunklen Horizont sah ich in dem Fehlschlag, den Budjonny beim Angriff auf meine rückwärtige Flanke erlitten hatte."

    Pilsudski gelingt, was niemand mehr für möglich gehalten hatte: Er schlägt die Rote Armee vernichtend. "Das Wunder an der Weichsel" war auch ein "Wunder" der polnisch-militärischen Aufklärung. Durch sie wurde Pilsudski über die Aufstellung der Roten Armee informiert. Aber auch darüber, dass Budjonnys Reiterarmee und mit ihr Josef Stalin, der als Kriegskommissar dort das eigentliche Sagen hatte, lieber Lemberg erobern wollten als Tuchatschewski zur Hilfe zu kommen, wie es befohlen war.

    Stalin wurde sofort seines Postens enthoben – und hat diese persönliche Schmach nie vergessen. Sie bildete den biografisch belegbaren Urgrund der Rache, die sich im Großen Terror der 30er Jahre gegen die Rote Armee zeigte und in der zähen Verfolgung und Ermordung aller damals Beteiligten. Tuchatschewski wird sterben, ebenso wie Babel und Lev Trotzkij. Der hatte als damaliger Oberbefehlshaber der Roten Armee schon Recht, als er schrieb:

    "Wenn Stalin und der Analphabet Budjonny in Galizien nicht ihren eigenen Krieg geführt hätten, hätte die Rote Armee nicht die Niederlage erlitten, die uns zwang, den Frieden von Riga zu unterzeichnen."

    Am 18. März 1921 war es soweit. Durch den Frieden von Riga entstand zwar nicht das erhoffte Großpolen, doch dehnte sich das Land auf Kosten des bolschewistischen Russland bis zu 300 Kilometer weiter nach Osten aus, ganz Galizien gehörte nun zu Polen.

    Einen Tag vor Riga, am 17. März 1921, hatte sich der neue polnische Staat durch die Annahme der Verfassung konstituiert. 18 Jahre später begann ein neuer Krieg – und ein weiteres, unvergleichliches Morden. Auch Auschwitz liegt in Galizien.