Es ist Albert Schmidt, der hier einem stinkenden alten Mann begegnet, Albert Schmidt genannt "Schmidtie", vormals Sozius der New Yorker Kanzlei Wood & King, inzwischen verwitwet und in Rente. Zum Verdruss seiner Tochter Charlotte lebt der Multimillionär Schmidt mit einer 40 Jahre jüngeren Kellnerin puertoricanischer Abstammung namens Carrie zusammen in seinem noblen Haus in den Hamptons, jenem nur knapp zwei Stunden von New York gelegenen Naturidyll am Atlantik, das deutschsprachige Leser als literarische Szenerie aus Max Frischs "Montauk" kennen.
Albert Schmidt ist ein Rentner voller Ressentiments und doch alles andere als unsympathisch. Das allein schon ist höchst bemerkenswert, denn sein Autor stattet Schmidt mit einer solchen Menge unschöner Eigenschaften aus - Geiz, Arroganz und Chauvinismus sind bestenfalls der Anfang - dass man ins Grübeln gerät, warum einem dieser Albert Schmidt eigentlich nicht widerwärtiger ist. Dabei schien man ´über Schmidt´ schon alles zu wissen, trug doch Begleys vorletzter Roman von 1996 im Original den Titel "About Schmidt". Die Hauptfigur ist also ein alter Bekannter. Nun lässt Begley "Schmidt Delivered" folgen, einen Roman mit mindestens dreifach kodierten Titel: "Schmidt Delivered" kann erstens und religiös konnotiert "Schmidts Erlösung" heißen, zweitens soviel wie "Schmidt hat´s drauf" oder "Schmidt bringt´s" und drittens schließlich auf das schiere Faktum hinweisen, dass der Autors es geschafft hat, das zweite Manuskript über "Schmidt abgeliefert" zu haben, sei´s bei den Lesern, sei´s bei dem auf Einhaltung eines Vertrags pochenden Verlag. Was der amerikanische Originaltitel auf keinen Fall bedeutet, ist "Schmidts Bewährung", doch wäre es töricht, diesen pietistischen Anklang Begleys deutscher Übersetzerin Christa Krüger anzulasten, die einen mehr als schweren Job mehr als ordentlich bewältigt hat: Titel werden in deutschen Verlagen von Vertriebsleuten, Lektoren und Verlegern gemacht, die Stimme von Autor und Übersetzer hat dabei in etwa so viel Gewicht wie die eines Kassenpatienten im Krankenhaus.
Ziehen wir aus dem leidigen Vergleich zwischen Original- und Übersetzungstitel also lediglich die Lehre, die ganz gewiss zufällige Namensähnlichkeit zwischen Albert Schmidt und Arno Schmidt als Ermahnung für erhöhte Aufmerksamkeit zu nehmen und uns von der extrem glattpolierten Oberfläche des Textes - Begleys Stil ist an der römischen und französischen Klassik geschult - nicht einlullen zu lassen:
Von dem scheußlichen Mund abgesehen, war es ein gutes englisches oder deutsches Gesicht, mit tiefliegenden Augen unter dichten Brauen, einer großen Nase, zierlichen, wohlgeformten Ohren und einem schweren Schädel - ein Flugkapitän mit einem solchen Schädel hat schon gewonnen, sein bloßer Anblick beruhigt die Fluggäste, wenn er während eines unruhigen Fluges über den Pazifik durch den Passagierraum geht. Der Mann hatte seinen Stock zwischen die Beine gestellt. Er rutschte auf dem Sitz hin und her und ließ einen Wind fahren - in Salven, gefolgt von heftigem Gerumpel im Bauch. Dann huschte ihm ein seliges Lächeln übers Gesicht, er sah erleichtert aus wie ein Baby nach dem Bäuerchen. Der Kloakendunst war kaum auszuhalten (...) Hielt der Mann ein Stück Aas in der Tasche versteckt, hatte er eine eiternde Wunde am Fuß oder irgendwo unter den Klamotten? Kaum zu glauben, dass allein eine geballte Menge von Dreck und Schweiß einen dermaßen üblen Gestank erzeugte. Der Bus war fast leer; warum hatte der Mann sich ausgerechnet neben ihm niedergelassen, statt sich auf zwei Sitzen auszubreiten?
Nichts anderes als die kluge Intention eines mit feinen Mitteln arbeitenden Autors hat den Penner neben Albert Schmidt, dem Mann mit dem guten englischen oder deutschen Gesicht geführt. Schmidt erlebt den unangenehmen Zwischenfall im Bus von Manhattan in die Hamptons, wo es anders riecht als in der City, wo "Geld ... in der Luft" liegt "wie der schwere Duft der Geißblatthecke". Neben ihm sitzt plötzlich ein verkommenes und übel riechendes Subjet, genauso groß wie Schmidt selbst, außerdem wie er in einen Anzug aus Tweed gekleidet, ein Statussymbol im Kunstfaserland USA, und als reichte das noch nicht, hat der Tweed auch noch dieselbe Farbe. Mit anderen Worten: der Mann, den Albert Schmidt im Bus von New York in die Hamptons neben sich sitzend vorfindet, ist sein Doppelgänger. Und wie in einem dunklen Spiegel sieht Schmidt in diesem Menschen, seinem alter ego, was er im Begriff steht zu werden: ein verkommener alter Mann. Das wird Konsequenzen haben.
Er würde den Mann schütteln müssen und ihn bitten, Platz zu machen. Das tat er denn auch. Der Mann ließ wieder einen Wind fahren und fragte: Was treibt Sie: der Darm oder die Blase?
Blinzelte ihm der Mann zu, als er diese Worte sagte? Schmidt schien es fast so.
Weder noch. Würden Sie bitte einen Moment aufstehen und mich vorbeilassen?
Etepetete der Herr, wie? Wie finde ich denn das: Er möchte nur, dass ich ihn vorbeilasse? Was ist los, sitzt er nicht gern neben mir? Er schüttelte sich vor Lachen und machte sich genüßlich auf seinem Sitz breit; (....) was sollte er jetzt tun? Noch eine ganze Stunde in dem Gestank ausharren und sich von diesem geistesgestörten Penner verhöhnen lassen? Die Busbegleiterin alarmieren, dieses halbwüchsige Mädchen, das neben dem Fahrer saß; den Fahrer dazu bringen, dass er vermittelte?
Lassen Sie mich raus, sagte er energisch. Ich kann nicht mehr warten. Ich muss dringend aufs Klosett.
Schon besser. Und wie wär´s mit einem Bitte?"
Bitte.
Der Mann stellte sich in den Gang. Als Schmidt sich an ihm vorbeizwängte, drückte der Mann ihn in einer langen Umarmung an sich und küßte ihn aufs Ohr. Er flüsterte: Jawoll, wenn Sie höflich sind, dann liebe ich Sie wie meinen Bruder.
Am Ende des erstens Romans hat Albert Schmidt seinen Bruder, seinen Doppelgänger, den dreckigen alten Mann aus dem Bus mehr als nur darum gebeten, ihm Platz zu machen. Er hat ihn getötet. Schmidt mordet, wie Reiche morden: effizient, ohne Aufhebens, in einem schwarzen Saab Cabrio und während er eine Opernarie singt. Schmidts Opfer, sein Bruder im Geiste, ist Carries erster Geliebter, ein durch seine sexuelle Fixierung auf Carrie allmählich zum Penner abgeglittenen Collegeprofessor namens Wilson, hinter dem man einen Wiedergänger von Vladimir Nabokovs Clare Quilty vermuten darf. Und wie in "Lolita" muss der Nebenbuhler Quilty-Wilson sterben. Natürlich sieht es wie ein Unfall aus - ja Begley lässt Schmidts Schuld so sehr in der Schwebe, dass es für Albert Schmidt selbst wie ein tödliches Missgeschick, eine kleine Unachtsamkeit mit Todesfolge erscheinen kann. Doch wir, die Leser wissen: Schmidt musste seinen Doppelgänger töten, um den Verdacht loszuwerden, durch sein Zusammenleben mit der über vierzig Jahre jüngeren Carrie vom Master of the Universe zum Dirty Old Man geworden zu sein.
Schmidt hat also Schuld auf sich geladen, und die Geschichte der Erlösung von dieser Schuld erzählt Begley in "Schmidt Delivered". Wer diesem Autor unterstellt, nach "Lügen in Zeiten des Krieges", seinem autobiographischen gefärbten Debüt über den kleinen Jungen Maciek, der als polnischer Katholik getarnt im Untergrund den Holocaust überlebt, nurmehr Gesellschaftsreportagen aus der Welt der Superreichen zu schreiben, macht es sich zu einfach. Im Grunde hat sich Begley nie für den zeitgeschichtlichen Kontext seiner eigenen, ebenso exzeptionellen wie paradigmatischen Biographie interessiert, sondern im Gegenteil alles versucht, vom Individuellen und Einmaligen sehr rasch zum Allgemeinen, gesellschaftlich Allgemeingültigen zu gelangen. Ob in "Der Mann, der zu spät kam", "Wie Max es sah" oder "Mistlers Abschied", seine Hauptfiguren sind alle Geheimnisträger, werden sich und ihrer Umgebung zum Rätsel. Von Beginn seiner späten Schriftstellerkarriere an hat sich Begley für die Masken des Ichs interessiert, den Selbstbetrug, die kleinen Lügen der Identitätskonstruktion, die tausend Listen, mit denen wir den Medusenblick des eigenen, unerträglich gewordenen Spiegelbilds vermeiden. Wenn es so wie etwas wie einen Moralisten in der Weltliteratur des 21. Jahrhunderts noch gibt, dann ist es Louis Begley.
Wie im ersten Roman die Begegnung Albert Schmidts mit seinem ins soziale Abseits geratenen Vorgänger bei seiner Geliebten Carrie, bildet auch in "Schmidts Bewährung" eine Doppelgänger-Erscheinung das heimliche Zentrum des Romans.
Doch hier spiegelt sich nicht Albert Schmidt, sondern sein Autor und dessen Frau, die als Anka Muhlstein in Frankreich großes Renommee besitzt, ein Selbstportrait:
Sie luden Caroline und Joe Canning ein, ein Autorenpaar (..) Die Schicht seines guten Benehmens war deutlich dünner als die Carolines, und seine Aufmerksamkeit kreiste vornehmlich um die eigene Person. Wie hatte Canning, den Schmidt aus College-Zeiten als eine Null mit literarischen Ambitionen in Erinnerung hatte, es nur fertiggebracht, diese wunderbare Frau zur Ehe zu bewegen ? Eine sehr interessante Frgae. Weder an seinem Aussehen noch an seinem Ansehen konnte es liegen - ihr eigenes Licht leuchtete hell genug -, und Geld hatte er auch nicht. Als sie heirateten, hatte er den Roman vom erfundenen Leben seiner Großmutter, der auf der Liste für alle möglichen Preise stand und sogar ein paar bekommen hatte, auch noch gar nicht geschrieben.
Übrigens, ich hab eins ihrer Bücher im Flugzeug auf dem Rückweg von der Westküste angefangen, jetzt liegt es bei mir im Büro auf dem Schreibtisch. Wie heißt es?
Das hängt ganz davon ab, welches Sie lesen.
Es handelt von diesem älteren Mann, der ein junges Mädchen vögelt. Ha! Ha! Ha! Das wollen wir ja alle. (...)
Davon handeln alle seine Bücher. Nur das erste nicht.
Wie Louis Begley hier, hinter der Maske von Joe Canning, die Missverständnisse in der Rezeption seiner Romane benennt und ihnen noch einen Witz abgewinnt, zeugt von nicht geringer Souveranität und Selbstironie. Tatsächlich erzählt auch "Schmidts Bewährung" auf den ersten Blick vom Scheitern der Beziehung eines ziemlich alten und ziemlich reichen Mannes mit einer sehr jungen Frau, ja mehr noch, dieser Romane liest sich über Strecken wie ein Handbuch der aktuellen Wechselkurse zwischen Macht und Geld einerseits und Schönheit und Sex andererseits. Doch seine eigentliche Spannung bezieht er aus den Momenten, wo Begley diese alabasterglatte Oberflächenhandlung durchstößt und Tiefenbohrungen in Schmidts Bewußtsein unternimmt - das Bewußtsein eines amerikanischen Jedermanns mit einem latenten Hang zum Antisemitismus.
Der Preis für Schmidts Erlösung beträgt eine Million Dollar. Diesen Betrag wird Albert Schmidt am Ende des zweiten Romans seiner Geliebten Carrie geschenkt haben, und er wird ihr die Million bedingungslos schenken. Ja mehr noch, er wird Carrie für einen anderen freigeben, auf die sexuelle Erfüllung verzichten und so Sühne leisten für seinen Mord, eine Tat, die durch die Vagheit, mit der sie Schmidt im Bewußtsein ist, im Roman ständig nur umspielt und mit zahlreichen anderen moralischen Verfehlungen Schmidts kontrastiert wird: den Lieblosigkeiten seiner Ehe, dem Betrug an seiner Ehefrau mit einer Babysitterin namens Corinne, der Affäre mit einer Jurastudentin, die er mit der Aussicht auf eine Anstellung in seiner Kanzlei ins Bett lockte, dem Antisemitismus, mit dem er seinem Schwiegersohn und Anwaltskolllegen Jon und dessen Familie begegnet, schließlich dem grotesk schäbigen Verhalten, mit der er eine Jugendgeliebte, die Verkäuferin in einem Herrengeschäft am Harvard Square, um 50 Dollar beim Wechseln betrog.
Schmidts Sündenkatalog ist wahrlich lang, doch nie langweilig. Denn all diese Verfehlungen erleben wir ausschließlich durch den Reflex, den sie in Schmidts Bewußtsein hinterlassen, und so bleibt eine Unruhe, eine Unsicherheit, ob es sich bei Albert Schmidt, dem notorischen Schöndenker seines eigenen Lebens, nicht um ein noch viel grauenvolleres und gefühlskalteres Monstrum handeln könnte, als sich anhand der wenigen Fakten abzeichnet - oder es sich nicht in Wahrheit genau andersherum verhält und Schmidt, darin ein würdiger Nachfahr der Pilgerväter, ein lediglich zur skrupulösen Gewissenserforschung, zur peinigenden Selbsterniedrigung neigender Grübler sein könnte. Begley führt kein Bewußtsein vor, Begley zeigt, wie Bewußtsein funktioniert, wie es sich unablässig konstituiert und rekonstituiert. Und dies mit nicht mehr als den Mitteln des konventionell naturalistisch erzählten Romans.
"In jedem Schriftsteller stecken ein Steuerbeamter, ein frustrierter Verfassungsrechtler und ein Banker, der sich für Investitionsgeschäfte interessiert", ließ uns Louis Begley in "Der Mann, der zu spät kam" wissen. "Schmidts Bewährung" ist ein von in dieser doppelten erzählerischen Ökonomie bestimmter Roman, der von Liebe und Geld erzählt und den Qualen einer Seele, die sich sehr früh dafür entschieden hat, das Geld zu lieben. Noch in keinem Roman hat Begley dieser Passion so sehr die Zügel schießen lassen wie in "Schmidts Bewährung". Wir erfahren alles über Immobilienpreise auf Long Island und den genauen Prestigewert von Autos, lernen Lieblingskäsesorten der Schickeria kennen, die Moden, Umgangsformen und den Lifestyle der Milliardäre. Und mit Buffon weiß Begley, dass der Stil und der Mensch ein und dasselbe sind. Jeder Leser dieses Romans wird nur noch hellauf lachen können, wie naiv Hemingway damals war, als er auf Scott Fitzgeralds Feststellung der Andersartigkeit der Reichen antworten konnte: "Ja, sie haben mehr Geld." In der Welt von Louis Begley ist die Kluft zwischen arm und reich tiefer, weiter und letztlich unüberbrückbarer als die zwischen den Geschlechtern oder den Generationen. Und so endet "Schmidts Bewährung" zwar mit einer Annäherung zwischen Vater und Tochter, doch diese findet in Sprache der Wirtschaft und der Justiz statt, mit einem uramerikanischen Deal:
Dad, sagte sie auf einmal. (...) Machen wir einen Deal. Ich nehme dich, wie du bist, und du nimmst mich, wie ich bin. Vorläufig. Wohin uns das führt, werden wir dann sehen.
Genau, sagt er, und streckte ihr seine Hand hin.
Fast umgehend verließ sie ihn, um Jon an der Pyramide vor dem Louvre zu treffen. Er blieb noch eine ganze Weile auf seinem Stuhl sitzen, denn er war nicht in Eile, und ging dann, vorsichtig hinkend, aus den Tuilerien fort (...) Er ging weiter (...) und bog an der Rue St. Honoré nach rechts. Ein paar Straßen weiter wohnte die Wite eines jüngeren Sozius, der das Pariser Büro von W & K geleitet hatte, früh in den Ruhestand gegangen war und gestorben war. Die Witwe hatte ihn zum Tee eingeladen. Er kam zur Haustür, blieb davor stehen und sah sich die polierten Messingschilder mit den Namen an; ob er den Klingelknopf neben ihrem Namen betätigen wollte, wußte er nicht recht.
So verlassen wir den sehr reichen und halbwegs geläuterten Albert Schmidt als einen Mann in der Schwebe. Louis Begley wird wohl einen dritten Roman über diese Figur schreiben. Wie John Updikes Hasenherz Harry Angstrom ist Schmidt für Begley ein Modus der Wahrnehmung geworden, ein Ticket in eine Gesellschaftsschicht, von der wir gern mehr erfahren. Träfen wir den nun von den selbst auferlegten Fesseln des Geldes und der Schuld erlösten Schmidtie noch einmal wieder, könnte die korrekte Begrüßung nur lauten: "Sehr angenehm".