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Schnappschuss der Menschwerdung

Paläoanthropologie. - Im April 2010 präsentierte ein internationales Forscherteam die versteinerten Überreste zweier Frühmenschen, die zu einer bislang unbekannten Art gehörten, der sie den Namen Australopithecus sediba gaben. Nun präsentieren die selben Forscher im Fachmagazin Science gleich in 5 Veröffentlichungen weitere Knochen und Details.

Von Michael Stang | 08.09.2011
    Das Fachmagazin "Science" bot gestern Nachmittag dem Paläoanthropologen Lee Berger von der Universität von Witwatersrand in Johannesburg die ganze große Bühne. Für Journalisten auf der ganzen Welt gab es eine Telefonkonferenz, in der einige der insgesamt 18 Autoren Interviews gaben. Denn in gleich fünf Veröffentlichungen werden nicht nur neue Knochen des Frühmenschen Australopithecus sediba vorgestellt, sondern auch detaillierte Analysen der bereits im vergangenen Jahr präsentierten Fossilien. Bei den in Südafrika entdeckten Versteinerungen handelt es sich um einen Schädel plus Skelettteile eines höchstens 13 Jahre alten Jungen und die Überreste einer jungen Frau. Neue Erkenntnisse gab es vor allem bei der Analyse der Frauenhand, sagt Tracy Kivell vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

    "Das ist die vollständigste Hand eines Australopithecus, die bislang gefunden wurde. Alles deutet darauf hin, dass die Hand bereits für eine Werkzeugbenutzung geeignet war, denn die Finger sind sehr grazil. Insgesamt sieht das alles anatomisch moderner aus als bei Homo habilis, der ja als Hersteller von Werkzeugen gilt. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass sediba diese Fähigkeit ebenso besaß."

    Dass ein Vertreter der Gattung Australopithecus bereits Werkzeuge herstellen konnte, wirft einige Lehrbuchmeinungen über den Haufen, denn bislang galt: Faustkeilbenutzer gehören immer zur Gattung Homo. Hauptautor Lee Berger kann die Kritik einiger Kollegen jedoch nicht nachvollziehen.

    "Meines Wissens geht aus der Definition der Gattung Homo nicht hervor, dass jeder Frühmensch, der Werkzeuge benutzt hat, automatisch dieser Gattung angehören muss."

    Lee Berger geht auch davon aus, dass seine Funde aus Südafrika den Vorfahr der Gattung Homo repräsentieren könnten. Aber sediba, so schränkt der Paläoanthropologe ein, ist noch kein Vertreter der Gattung Homo, sondern gehört zur Gattung Australopithecus.

    "Natürlich haben wir die Idee diskutiert, ob sediba nicht doch zur Gattung Homo gehört. Aber seine ganze Anatomie zeigt noch nicht all die Veränderungen, die ihn als Vertreter von Homo ausweisen. Und das ist die Ironie dieser Diskussion: die eine Hälfte der Experten sagt: Das ist ein Australopithecus, während die andere Hälfte sagt: Klassifiziert das als Homo."

    Die südafrikanischen Funde rütteln aber stärker am Theoriengebäude, als dass es nur um den Urvater der Gattung Homo geht. Es geht auch um die Frage, welche Spezies überhaupt zu Homo gehören, sagt Steven Churchill von der Duke University in Durham, North Carolina.

    "Es gibt eine Reihe anatomischer Merkmale bei Australopithecus sediba, die eigentlich typisch für die Gattung Homo sind. Natürlich kann man das als parallele Entwicklung bezeichnen, die nichts mit unseren direkten Vorfahren zu tun hat. Aber, würde man einen solchen Merkmalskatalog für die beiden ältesten Homo-Arten – habilis und rudolfensis – erstellen, wäre die Liste der Gemeinsamkeiten zu Homo bei sediba mit Sicherheit länger."

    Und hier wird es spannend: Steven Churchill und seine Kollegen bezeichnen die neue Spezies sediba als Australopithecus. Sediba zeigt aber mehr anatomische Gemeinsamkeiten mit der Gattung Homo als die Menschenarten Homo habilis und Homo rudolfensis. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die beiden ältesten Homo-Spezies also zu Australopithecus gerechnet werden müssen und ihren Status als "Homo-Pioniere" verlieren. Damit hat die Paläoanthropologie nicht nur ein Definitionsproblem, welche anatomischen Eigenschaften typisch für die Gattung Homo sind, sondern gleichzeitig verjüngt diese Annahme ihre Entstehung um mehr als eine halbe Million Jahre. Dieser Streit dürfte sich noch einige Zeit hinziehen.