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Schnaps als kulturelles Erbe

Bulgarien ist statistisch gesehen das ärmste Land der EU. Da liegt es nahe, die Tradition des Selbermachens zu bewahren. Auch Schnapsbrennen gehört dazu. Insgesamt gibt es mehr als 1600 registrierte private Brenner in Bulgarien. Und die stellen vor allem einen Schnaps her: traditionellen Rakija.

Von Matthias Winkelmann | 02.12.2012
    Der Wind rauscht durch die Bäume auf dem kleinen Gehöft inmitten der bulgarischen Strandza-Berge, nahe der türkischen Grenze. Dieser Ort soll eine Gefahr für die Ehen von Menschen darstellen. "Haus der Scheidung" steht in kyrillischen Lettern auf dem Schild neben dem Eingang zu dem Raum, in dem Rakija gebrannt wird.

    "Einem Freund ist das eingefallen und er schenkte mir gleich auch das Schild. Wenn man zu tief ins Glas guckt, dann kommt es schnell zur Scheidung."

    Das sagt Janaki Gradew, der hier Rakija brennt. Die Bulgaren lieben ihren Rakija. Wenn die Männer beisammen sitzen und ihn genießen, müssen die Frauen zu Hause schon mal ein wenig länger warten. Von seinem Vater hat Gradew die Brauerei übernommen. Der 54-Jährige hat im Bergbau gearbeitet. Seine Hände sind kräftig und fest von vielen Jahren harter Arbeit. Der Frührentner führt in den Raum, wo er seit 20 Jahren Schnaps selbst brennt.

    Es ist ein großer Raum mit einer Sitzecke, viele Kisten stehen an den Wänden. Es riecht nach überreifem Obst. Die eine Hälfte des Raums füllt ein großer Heizkessel aus. Auf ihm thronen zwei Kupferglocken, von denen Rohre zu zwei Kühlern gehen. Eine recht einfache Apparatur reicht aus, um den bulgarischen Nationalschnaps herzustellen. Die Früchte gären zunächst in Fässern. Dann werden sie in den Kupferglocken über dem Kessel erwärmt. Ein Balanceakt, denn das Feuer muss im Kessel eine bestimmte Temperatur erzeugen. Ist sie zu hoch, wird der Schnaps ungenießbar oder sogar gesundheitsschädlich.

    Jeder private Brenner hat sein eigenes Rezept. Dabei geht es um den Zeitpunkt der Ernte, die Temperatur des Feuers und ob Zucker zugegeben wird oder nicht, erklärt Gradew.

    "Es ist nicht viel anders, als bei anderen Schnapsbrennern, aber ich habe schon meinen eigenen Arbeitsstil. Mir schmeckt er, und auch meinen Kunden. Da ich Stammkunden habe und sie zurückkommen, dürfte das Rezept gut sein."

    Die vergorenen Früchte geben Dämpfe ab, sie werden im Kühler wieder flüssig. Daneben steht ein kleiner Plastikeimer, er fängt den fertigen Rakija auf.

    Heute brennt Gradew Schaps aus Pflaumen und Birnen. An anderen Tagen können es Trauben, Äpfel oder Zwetschgen sein. Der Alkoholgehalt liegt meist bei 40 bis 50 Prozent. Für Gradew ist das Brennen vor allem ein Hobby. Wenn Besucher kommen, bietet er natürlich einen Rakija an. Er holt eine sehr alte grüne Flasche hervor, in der früher einmal Essig war. Jetzt enthält sie einen besonderen Schnaps, sein Vater hat ihn 1978 gebrannt. Von dieser Flasche wird nur zu besonderen Anlässen getrunken. Gradew ist gerade zum ersten Mal Großvater geworden.

    Ein guter Grund, um anzustoßen. Einen direkten Anlass brauchen die Bulgaren aber nicht immer. Gradew trinkt am liebsten zum Sonnenuntergang mit guten Freunden. So hält es auch Kiro Kirow. Der 75-Jährige ist Bürgermeister des kleinen Dorfs Kondolowo nur ein paar Kilometer weiter. Auf dem grünen Weg vor seinem Haus gackern die Hühner.

    Kirow sitzt mit seiner Frau Irina im Garten am Tisch. Stolz blicken sie auf das viele Obst und Gemüse, welches sie angebaut haben. Natürlich macht der weißbärtige Rentner auch Rakija. Insgesamt gibt es mehr als 1600 registrierte private Brenner in Bulgarien. Das sei in Bulgarien schon immer wichtig gewesen, sagt er.

    "Sehr wichtig, denn der Bulgare musste schon immer sparen. Er war nie so wohlhabend, um sich den Schnaps zu kaufen."

    Bulgarien ist statistisch gesehen das ärmste Land der EU. Da liegt es nahe, die Tradition des Selbermachens zu bewahren. Denn im Supermarkt ist Rakija teuer. Und dorthin gehen Irina und Kiro Kirow sowieso nicht gern. Sie versuchen, sich weitgehend aus ihrem Garten zu versorgen. In einem kleinen Verschlag neben dem Haus hat Kiro seine kleine Brennerei.

    "Am besten trinkt man den Schnaps mit Freunden. Dazu gehört unbedingt ein guter Salat. Besonders gern trinke ich ein Gläschen Schnaps auch nach einem harten Arbeitstag. Wenn ich lange arbeiten musste, komme ich nach Hause, setzte mich hier an diesen Tisch und trinke erst mal in aller Ruhe einen Schnaps."

    Das Schnapsbrennen wird meist von Vater zu Sohn weitergegeben, aber es ist nicht so, dass die Frauen dabei überhaupt keine Rolle spielen, betont Irina Kirow.

    "Es ist Männersache, aber ohne mich schafft er es nicht – ich helfe ihm dabei. Und ich trinke auch gern mit ihm ein Gläschen, weil wir ja ein Team sind."

    Im Balkangebirge im Zentrum Bulgariens wird jedes Jahr zum Herbstbeginn ein Fest gefeiert, das dem Rakija huldigt - das Pflaumenfest von Oreshak. Die Menschen strömen in den kleinen Park des Städtchens. Viele kommen in traditionellen Trachten. Sie feiern, lachen, essen und sie trinken. Natürlich Selbstgebrannten. Bei den privaten Brennern gibt es stets den Wettbewerb, wer denn eigentlich den besten Schnaps macht. So sitzen auch beim Fest einige Männer und Frauen unter einem der weißen Pavillons und probieren verschiedene Rakija. Acht Wettbewerber gibt es, acht Flaschen und acht Gläser stehen vor den Testern. Einer nach dem anderen wird probiert, immer mit einem Schluck Wasser dazwischen.

    Assja Funewa ist eine der Testerinnen. Sie kommt aus Plewen und ist jedes Jahr beim Fest, auch um Bekannte zu treffen. Sie ist keine Expertin, wie sie selbst sagt, vielmehr entscheide sie nach Geschmack. Sie weiß, wie gespannt die Brenner auf ihr Urteil sind.

    "Sie sind ja stolz darauf! Sie machen das seit Jahren. Und für die privaten Brenner ist es noch mal wichtig, weil der Pflaumenschnaps eine Besonderheit ist – er wird nicht einfach aus Pflaumen gebrannt, sondern es kommen auch verschiedene Kräuter hinein. Es ist eine Kunst."

    Es bleibt die Frage, ob der Tag nun, am frühen Nachmittag für sie gelaufen ist, nach dem Testen von acht Schnäpsen.

    "Nein, nein, er fängt erst jetzt richtig an! Das ist das Fest des Pflaumenschnapses!"

    Die bulgarische Regierung will Anerkennung für das Getränk innerhalb der EU. Zumindest der aus Trauben hergestellte Schnaps soll als "traditionelles Produkt" anerkannt werden, wie der griechische Ouzo. Das ist bisher nur bei einigen regionalen Marken geglückt. Gergana Petkowa, beim Wirtschaftsministerium zuständig für Spirituosen, erklärt das Streben danach mit der langen Tradition.

    "Er ist Teil unseres Lebens. Seit vielen, vielen Jahren gehört es sich in Bulgarien, dass bei verschiedenen Anlässen Rakia getrunken wird. So ist es einfach. Er ist ein nationales Getränk, weil die Ausgangsstoffe für seine Herstellung schon immer in unseren Landen zur Fülle gedeihen."

    Welche Bedeutung der Schnaps für ihre Landsleute habe, ließe sich einfach erkennen, wenn man einen Blick auf die Befreiung Bulgariens von den Türken 1878 zurückschaue. Danach musste eine Verfassung ausgearbeitet werden.

    "Nach der Befreiung und vor der Verabschiedung der ersten bulgarischen Verfassung 1879 verabschiedete die verfassungsgebende Volksversammlung ein Wein- und Schnapsgesetz. Das war eines der ersten Gesetze des jungen Bulgariens. Das sagt wohl auch viel aus."

    Selbst die Verfassung habe hinter dem Rakija zurückgestanden. Die Anerkennung als "traditionelles Produkt" hätte einige Vorteile. Zunächst würden die Verbrauchssteuern sinken, der Schnaps würde billiger, die industriellen Brenner damit wettbewerbsfähiger. Rund 80 von ihnen gibt es in Bulgarien, so Petkowa. Sie rechnet mit zwei bis drei Lewa Preisnachlass pro Liter, was etwa 1,50 Euro entspräche. Es würde nicht nur den Brennern besser gehen, sondern auch den Weinbauern, die die Früchte liefern.

    Für Janaki Gradew im "Haus der Scheidung" würde sich damit nicht viel ändern. Denn eine Eintragung als "traditionelles Produkt" würde nur die industriellen Hersteller betreffen. Dennoch hofft er, dass die EU den bulgarischen Rakija auf diese Weise anerkennt. Denn er ist fest überzeugt, dass der Obstler zuerst in Bulgarien gebrannt wurde, bevor sich das in die umliegenden Länder ausgebreitet hat. Eine Anerkennung durch die EU sei da nur gerecht. Die Ernte dieses Jahr sei gut gewesen, doch Gradew befürchtet, dass die Tradition des privaten Brennens zunehmend verblassen könnte.

    "Hier in der Region gibt es viele Obstbäume, dieses Jahr hatten wir mit Gottes Hilfe eine sehr gute Ernte. Wer sich nicht zu schade ist, hat die Früchte gesammelt und lässt Rakija brennen. Das machen vor allem die älteren Menschen, die jüngeren haben das Interesse irgendwie verloren. Sie haben keine Lust, auf dem Weinberg zu schuften."

    Er selbst hat zwei Söhne. Noch wohnen sie in demselben kleinen Städtchen. Sollte er irgendwann nicht mehr in der Lage sein, Rakija selbst zu machen, hofft er, dass sie ihm helfen werden. Ein oder zwei Generationen gibt er der Tradition noch.
    Folklore Tanz zu Ehren des Schnapses
    Folklore Tanz in Bulgarien (Deutschlandradio - Matthias Winkelmann)