Donnerstag, 18. April 2024

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Schnee, der auf Zedern fällt

Wenn ein Buch erst einmal auf den Bestsellerlisten rangiert, dann ist es der abwägenden Fürsorge des Rezensenten eigentlich schon entwischt. Ungefähr so wie ein mitgebrachter Freund auf einer Party, der, bevor man ihn überhaupt vorstellen kann, schon selbst dabei ist, sich allerseits beliebt zu machen. Was ist das Geheimnis solcher Beliebtheit? bleibt da dem Rezensenten nur noch zu fragen. Haben die geschwinderen Kollegen den Erfolg bewirkt? Bei allem Respekt: Wohl kaum! Kritikerlob allein, mag es auch fernsehverstärkt durchs Land schallen, garantiert, ebensowenig wie literarische Qualität, noch keine Verkaufszahlen im Spitzenbereich. Was dann? Der berühmte Name des Autors? Ein gigantischer Werbeetat? Das internationale Thrillerformat, der populäre Historienschinken? All das und manche anderen Rezepte lassen sich als Erfolgsursachen oft genug nachweisen. Der riesige Leserpool, aus dem die Bestseller-Statisitken hervorgehen, macht viele Konstellationen möglich. Doch David Gutersons Roman "Schnee, der auf Zedern fällt", gehört zu jenen Fällen die sich keinem der gängigen Schemata ohne weiteres zuordnen lassen.

Eberhard Falcke | 01.01.1980
    Der Autor war bislang unbekannt, der Roman ist sein erster, ein früherer Band mit Kurzgeschichten erregte wenig Aufmerksamkeit. Die Werbemittel des Berlin Verlags sind mit denen der Medienkonzerne nicht zu vergleichen. Und die Romanhandlung liefert weder weltumspannende Verschwörungen noch andere heiße Themen. Bleibt nur die schlichte Erkenntnis, daß offenbar sehr viele Leser dieses Buch sehr gerne lesen. Und weil es gewiß noch ein wenig dauert, bis sich die Rezeptionsforscher dieses Phänomens kompetent annehmen, seien hier schon mal ganz freihändig ein paar Spekulationen darüber in den Raum gestellt.

    Aber zunächst eine kurze Handlungsskizze: Im Jahr 1954 findet auf einer Insel an der Nordwestküste der USA ein Mordprozeß statt. Ein Lachsfischer, Mitglied der japanischen Einwanderergemeinde, wird beschuldigt, einen deutschstämmigen Kollegen bei Nacht und Nebel draußen auf See erschlagen zu haben. Als Motiv bietet sich ein alter Streit zwischen den Familien um ein Grundstück an. So wie an dem Verfahren die ganzen Bevölkerung Anteil nimmt, so breitet der Roman das Leben auf der Insel sowie ihre Geschichte bis in die letzten Einzelheiten aus. Zwar bilden der Prozeßablauf mit den nebenher noch durchgeführten Ermittlungen den roten Faden des Geschehens. Fast umfangreicher aber fallen die Rückblicke und Abschweifungen aus, in denen das Dorf und seine Protagonisten vorgestellt werden: Ihre Lebens- und Arbeitsformen als Fischer und Erdbeerpflanzer; das Mit- und Gegeneinander von Alteingesessenen und japanischen Einwanderern; die Internierung der Japaner im Zweiten Weltkrieg; die privaten Liebesgeschichten oder Feindschaften.

    David Guterson erzählt das mit atmosphärischem Gespür, mit menschlichem Einfühlungsvermögen und eminenter Detailkenntnis - er selbst lebt auf einer der Inseln im Puget Sound. Obwohl formal und in den Tonlagen völlig konventionell, ist das doch handwerklich sehr gekonnt und zudem mit Hingabe ausgeführt. Allerdings wären solche passablen Qualitäten allein - die zudem bei amerikanischen Autoren nicht so selten wie bei deutschen sind - noch nicht geeignet, Furore zu machen. Es sei denn - und hier heben wir ab in die Spekulation - es gäbe eine verbreitete Sehnsucht nach überschaubaren kleinen Welten, über die ein Roman - entgegen allen modernen Theorien - endlich wieder einmal erschöpfend Auskunft geben kann. Gutersons Roman jedenfalls ist von dieser Art. Er ist weder modern noch postmodern und thematisch nicht sonderlich aktuell. Vor allem aber verschont er seine Leser mit unauflösbaren Irritationen und beunruhigenden Perspektiven. Keine Frage, kein Problem taucht da auf, ohne auch gelöst zu werden. Guterson bietet Vergnügen und Belehrung in angenehmster Form. Ohne Konflikte zu unterschlagen, gibt er auf wohltuende Weise der Versöhnlichkeit eine Chance. Das Vergnügen liegt in der Spannung, die er aufbaut, und die Belehrung in der Plastizität seiner Schilderungen und Charakterbilder.

    Während allenthalben über die unabsehbaren Umwälzungen im globalen Dorf gerätselt wird, gestattet dieser Roman seinem Publikum einen Ausflug in die Übersichtlichkeit, eine Rückkehr zum begreifbaren menschlichen Maß. So vermittelt die Lektüre das Behagen einer Reise in entlegene Gegenden, bei der sich dennoch niemals Gefühle der Fremdheit oder Ratlosigkeit einstellen. Und kaum ein Reisender in der Wirklichkeit wird so profunde Einblicke in eine Landschaft und ihre Bewohner gewinnen, wie die Leser dieses Romans. Auch wenn die Erzählung bei einem sozialen Drama ansetzt, macht sie schließlich doch eine ausbalancierte Ordnung sichtbar. Eine Ordnung, in der sich Gerechtigkeit durchsetzt, in der konkrete Haltungen und Schicksale ausschlaggebend sind und jeder seinen Platz findet. Die große anonyme Welt, wo der Einzelne sich verlieren kann, greift auf Gutersons Roman-Insel nur in der Zeit des Krieges über. Sogar die Dorfzeitung wird praktisch noch von Hand gemacht und ihr Besitzer blickt mit Mißtrauen und Verachtung auf die zum Prozeß angereisten Nachrichtenhändler.

    Puren Eskapismus oder durchsichtige Schönfärberei kann man dem Autor trotzdem nicht vorwerfen. Dafür faßt er die Beschwernisse des Inseldaseins zu genau in den Blick. Dennoch ist sein weltabgewandter Schauplatz, zumal aus heutiger Sicht, eine Idylle der Einfachheit und Überschaubarkeit. Und darin dürfte der spröde, nostalgische Zauber liegen, der dieses Buch auf die Bestsellerlisten gebracht hat. Es ist ein Heimatroman - oder sollte man sagen: die Fiktion eines solchen? - für die modernen Nomaden der Globalisierung. Für etliche Lesestunden kann man da Ferien machen von zersplitterten Erfahrungen, Mediengetümmel und der Austauschbarkeit inflationärer Reize. Nichts von all dem, was heute beunruhigt, kommt in diesem Roman vor. Was im erfundenen Puget Sound von 1954 nicht in Ordnung ist, das läßt sich immerhin in Ordnung bringen. Dem zu Unrecht Angeklagten widerfährt Gerechtigkeit, die multikulturelle Aussöhnung ist möglich.

    Es sind begreifliche und sehr menschliche Sehnsüchte, von denen die Leser sich zur Reise auf diese ferne Insel verlocken lassen. Und die Bestsellerlisten verraten, daß für solche literarischen Heile-Welt-Exkursionen rege Nachfrage besteht. In den USA, in Großbritannien, Australien genauso, wie bei uns. Guterson: "Schnee der auf Zedern fällt." Berlin Verlag 1996 im gewissen keine durchsichtige Ideologie oder Heilsbot-schaft. Kunstgriff: der abgeschlossene Raum der Inselgesellschaft und die Zeit 1954; Friede in der Multikultigesellschaft, wie heute und auf dem Festland nicht denkbar. Trotz Zweitem Weltkrieg ist das eine Idylle zwar mit Konflikten, aber keinen unlösbaren. Von der Heimatlosigkeit im Globalen Dorf ist auf dieser Insel nichts zu spüren.