Fast 600 Seiten Interviews mit mal mehr, mal weniger analytischen Verortungen sind jeder Fallgeschichte rahmend vorangestellt. Sie richten die Leserwahrnehmung gewissermaßen auf das Wesentliche hin aus, und die sich anschließenden Interviews dokumentieren quer durch viele soziale Gruppen hindurch die "Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag", wie es im Untertitel heißt. Leiden und Zumutungen, die den tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt geschuldet sind. Von nicht vorhandener Arbeit, von immer weniger guter Arbeit, von schlechter bezahlter Arbeit, von mehr Arbeit für weniger Geld, von der zunehmenden Entkopplung der Arbeit von den sozialen Absicherungen gegen Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, vom steigenden Druck in der Arbeit und von den Folgen, die diese grundlegenden Verschlechterungen der Arbeitsverhältnisse auf die Lebensverhältnisse haben, davon erzählen die Interviewpartner im Buch, egal, ob es sich zum Beispiel um eine Leiharbeiterin, einen Sparkassenleiter, einen Taxifahrer, einen Postbeamten, eine arbeitslose Friseurin, einen Objektbewacher, eine promovierte Geisteswissenschaftlerin handelt.
Was sich hier Gehör verschafft, ist eine vielstimmige Erzählung, die von wachsender Verwundbarkeit in ihren verschiedensten Spielarten handelt, die die Privatisierung des Sozialen mit dem immer weiter fortschreitenden Abbau der staatlichen Sozialsysteme und das Setzen auf maximalen Wettbewerb aller gegen alle mit sich gebracht hat. Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose, Festangestellte gegen Leiharbeiter, Inländer gegen Ausländer, Alte gegen Junge sind nur einige der Spaltungslinien, an denen sich die Neuaufteilung des gesellschaftlichen Konfliktpotentials buchstabieren lässt.
(Frau) "Also, es ist im Prinzip schon ein bisschen jeder gegen jeden, aber wenn es dann wirklich darauf ankommt, ist es Leiharbeiter gegen Festangestellte. Da geht es natürlich auch drum, sobald dann mal die Stückzahlen zurückgehen, dann hat man ja dann gleich wieder Angst, es drohen Entlassungen und so was. "
(Mann) "Weil als Arbeitsloser oder, wie es jetzt heißt, Arbeitssuchender bist du doch der letzte Dreck. Dann habe ich mich mit meiner Nachbarin in die Wolle gekriegt. Sie meinte natürlich, ich wäre ein faules Arbeitslosenschwein. Dann sagte ich: "Ich möchte nicht in deinem Leben sein." Die lebt von Sozi und tut überhaupt nichts. "
(Frau) "Wenn man beispielsweise einen Zehnstundentag hat, dann wird einem Arbeit zugeteilt, die vielleicht 13-14 Stunden beansprucht, die man aber irgendwie zu schaffen hat. Es wird zwar gesagt: "Machen Sie pünktlich Feierabend", aber wenn die Arbeit nicht erledigt ist, dann ist der Ärger da. Also sieht man dann schon zu, dass man morgens früher anfängt oder abends mal länger bleibt oder die Pausen dann durchmacht. "
(Mann) "Der Forschungsbetrieb ist Hauen und Stechen, brutal. Da musst du Koalitionen schmieden... Eine Hand wäscht die andere, da musst du andere Leute übers Ohr hauen... Das hat überhaupt nichts mit akademischer Noblesse zu tun. Das ist wirklich: Wie werde ich groß, wie kriege ich meine Forschungsmittel, wie beute ich meine Studenten aus, wie boxe ich mich nach oben? Das ist ein brutales Geschäft. "
(Frau) "Ich kriege also einen Vertrag, wo draufsteht: Du bist uns nichts schuldig, und wir sind dir nichts schuldig auf zwei Jahre. Also du kannst von heute auf morgen von deinem Chef gesagt bekommen: "So, wir brauchen dich nicht mehr." Und dieses "Wir brauchen dich nicht mehr" habe ich schon dreimal in diesen zwölf Jahren erfahren. "
Interessant ist, dass die hier versammelten Erzählungen das Panorama der neuen Verwundbarkeiten sehr weit aufspannen. Es wird deutlich, dass die heute wieder geführte so genannte "Unterschichtendebatte" den Kern des Problems nicht trifft. Wenn von Konservativen wie dem Historiker Paul Nolte betont wird, nicht Armut sei das Hauptproblem der so genannten Unterschicht, sondern der massenhafte Konsum von Unterschichtenfernsehen und Fast Food und dann im selben Atemzug eine Art bürgerliches Resozialisierungsprogramm für seit Generationen sozial vernachlässigte Sozialhilfeempfängerfamilien propagiert wird, nach dem Motto Goethe statt Gameboy, dann wird damit nicht nur ein bestimmtes Bild von einer so genannten Unterschicht konstruiert, von der sich abzugrenzen nahe gelegt wird, sondern es wird auch vom massenhaften Vorhandensein einer wie auch immer gearteten "bürgerlichen" Mittelschicht ausgegangen. Wirtschaftliche Unsicherheit und soziale Verwundbarkeit sind aber längst nicht mehr bloß ganz unten in der Gesellschaft anzutreffen, sondern in deren Mitte hinein gewandert. Prekär kann man heute auch auf hohem Niveau sein. In einer Gesellschaft, in der Massenarbeitslosigkeit zur Normalität geworden ist und in der mit Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, bekannt als Hartz-Gesetze, existenzielle Erschütterung längst jedem droht, finden weit und tief greifende Umschichtungen statt, für die das passende Beschreibungsvokabular erst noch gefunden werden muss. Das Prekäre der Lebensumstände von immer mehr Menschen dürfte die neue soziale Frage sein, so legt es die reichhaltige und vielfältige empirische Sammlung nahe.
Nun lag das Augenmerk der Studie auf Formen alltäglichen Leidens, die der ökonomische Umbruch mit sich bringt. Nur gelegentlich wird einmal in dem ein oder anderen Interview nachgefragt, warum es so wenig Politisierung gibt. "Ja", sagt an einer Stelle eine Literaturwissenschaftlerin, "ich denke, also viele Leute haben gar nicht die Kraft, die sind so beschäftigt mit diesem Kampf, dass die davon zum Teil auch aufgerieben werden." Mit der vorliegenden Untersuchung ist ein erster großer Schritt getan, es ist weiträumig hineingehört worden in die gegenwärtige Gesellschaft. Es könnte jetzt weitergefragt werden, ob sich da auf dem Feld des Prekären gerade ein neues historisches Subjekt formiert, das bloß noch nichts von sich weiß.
Die Stärke der Untersuchung ist in jedem Fall ihr empirisches Gewicht, die in ihr versammelten Lebenserfahrungen und nicht ihr theoretischer Apparat. Aber auch wenn die betriebene Gesellschaftsdiagnose in den die Interviews begleitenden Vorworten nicht immer die reflexive Dichte der Bourdieuschen Vorbildstudie hat, so hat sie doch einen außerordentlichen Appellcharakter, und man würde sie gerne zur Pflichtlektüre für Politiker aller Couleur machen, denn hier könnten sie ihr Phantasma, die "Menschen draußen im Land", endlich einmal selber sprechen hören.
Barbara Eisenmann besprach: "Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag", herausgegeben von Franz Schultheis und Katharina Schulz, erschienen in der UVK Verlagsgesellschaft. 592 Seiten hat das Buch für 29 Euro.