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Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Philosophie

Die Zeitschrift "agora42" hat sich zum Ziel gesetzt, das große Thema unserer Gesellschaft, die Ökonomie, verständlich zu machen. Wirtschaftliche Grundannahmen und Zusammenhänge werden von Philosophen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern kritisch begleitet.

Von Bettina Mittelstrass |
    "Wenn man Sport macht, dann geht es nicht mehr um körperliche Ertüchtigung, oder dass man Spaß dabei hat, sondern eigentlich, dass man die "Work-Life-Balance" hinbekommt, um einfach den "Output" ökonomisch gesprochen, dann wieder zu maximieren."

    Durch und durch werden wir von ökonomischen Überlegungen bestimmt, sagt Wolfram Bernhardt, Redakteur und Mitbegründer der Zeitschrift "agora42" und selbst Ökonom.

    "Oder wenn wir jetzt Ruhe einlegen - man sagt ja immer man muss ein bisschen langsamer treten oder jetzt ins buddhistische Kloster gehen. Auch das dient ja letztlich nur dazu, dass wir unseren ökonomischen Output noch gesteigert bekommen. Und das kann ja wohl nicht sein. Wenn alles durch und durch ökonomisch geworden ist, die Luft, die wir atmen, in Form von CO2-Zertifikaten, unser Erleben, allein schon durch den Lebenslauf, der ja so hinfrisiert werden muss, damit er Karriere fördernd ist, dann muss man akzeptieren, dass die Gesellschaft ökonomisch geworden ist und sich mal der Konsequenzen bewusst werden."

    "Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los", heißt es in Goethes Zauberlehrling.

    "Und so verhält es sich ja auch ein bisschen in der Ökonomie, die eigentlich ein Hilfswerkzeug, ein Erfüllungsgehilfe des Menschen war. Und jetzt hat man mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dieser Erfüllungsgehilfe, die Ökonomie, die dem Menschen dienen sollte, hat sich verselbstständigt und plötzlich sind wir zu den Erfüllungsgehilfen der Ökonomie geworden. Also es ist ja nicht mehr so, dass man sich die Frage stellt: Welche Gesellschaftsform nützt den Menschen am meisten? Ne, die Frage ist vielmehr: Wie nützt der Mensch der Ökonomie am meisten? Und das ist gefährlich."

    Es geht wieder bergauf, heißt es so kurz nach der Krise. Wer aus der Berliner U-Bahn nach oben will, sieht an jeder Treppenstufe Pfeile nach oben und liest daneben: "Aufschwung"! Aufwärts ist gut. Wachstum muss sein. Alles, was daran hindert, ist schlecht. Deshalb schaden auch die Proteste in Stuttgart - so steht es im "Handelsblatt" - der Wirtschaft.

    "Zu allem ist die Ökonomie ein Totschlagargument geworden. Sie können mit jeder These kommen - wenn ich eine ökonomische Gegenthese, dann habe ich eine Keule ausgepackt: Sie stehen nicht mehr, wenn ich Sie mit der treffe."

    Das muss man nicht grundsätzlich akzeptieren, sagt der Volkswirt Nazim Cetin, Unternehmensberater und Herausgeber des Magazins "agora42". Doch um vermeintlichen ökonomischen Zwängen etwas entgegensetzten zu können, muss man erst einmal verstehen, worum es geht. Aufklärung will der Herausgeber mit seiner Zeitschrift betreiben und zwar wissenschaftlich fundiert und ohne Kompromisse. Keine intellektuelle Dünnbrettbohrerei will Nazim Cetin. Deshalb findet man auch mehr Text als Bilder und Überschriften in den Heften, die sich alle zwei Monate genau einem Schwerpunktthema widmen: 105 Seiten über Ökonomie und Gerechtigkeit oder über Schulden und auch über Wachstum, Vernunft oder das Ich als Ausgeburt des Marktes. Wenig Werbung ziert die Ränder. Nicht werbetauglich sei die "agora", sagen die entsprechenden Fachleute, weil: zu kritisch. Und auch weil man die Themenhefte immer wieder mit Gewinn lesen kann, sind sie eigentlich Bücher.

    "Die nächste Ausgabe widmet sich dem Thema Krieg. Ist auch ein sehr ökonomisches Thema. Stichwort dazu: Ich glaube, Kant hat mal gesagt, Staaten sollten sich für den Krieg nicht verschulden. Welche Implikation das alles hätte! Also wir hätten ja eine Welt, in der wir keine Kriege mehr führen, wenn wir uns an Kant orientieren! Und das sind so Sachen, die wir dann aufzeigen. Das heißt immer Themen, die die Menschheit immer beschäftigt haben."

    Die Hefte beginnen mit einem umfangreichen, redaktionellen Teil, der verschiedene Sichtweisen auf ein Thema eröffnet, zum Beispiel auf "Vernunft". Welche Rolle spielt Rationalität in der Ökonomie? Sie bestimmt mitunter das Menschenbild, von dem ausgehend Voraussagen über Marktentwicklungen gemacht werden. Eine ökonomische Annahme, die viele Anhänger hat, besagt: Der Mensch gewinnt seine Erkenntnisse durch Vernunft und orientiert sich immer am größten Nutzen für sich selbst. Also kann man sich sein ökonomisches Verhalten ausrechnen. Diese "Theorie der rationalen Erwartungen" erklärt Nazim Cetin anhand der Werbung für eine Kaffeemaschine und einem inzwischen berühmten Deal im Himmel.

    "George Clooney hat diese Nespresso-Maschine, er kennt sich damit aus. Er weiß auch, dass in dieser Nespresso-Maschine nur eine bestimmte Anzahl an Kapseln, diese Nespresso-Kapseln sind. Das heißt, wenn er jetzt hoch geht, die Maschine dort abgibt, wieder runter kommt, dann muss er erstmal davon ausgehen, dass diese Kapseln irgendwann mal aufgebraucht sind. Dann muss er davon ausgehen, rational erwarten, dass immer wenn sie Kapseln brauchen, wird George einen Flügel auf den Kopf bekommen. Das heißt, dann müsste er sich eigentlich denken, rational wäre ja: Ich möchte meinen Nutzen maximieren. Erstens möchte ich nicht, dass dieser Flügel mir auf den Kopf fällt. Und ich kann ja dann Profit draus schlagen. Dann muss er eigentlich einen himmlischen Kurierdienst gründen und dann beim nächsten Mal, wenn er oben ist, sagen: Du pass mal auf, das Ding fällt mir nicht mehr auf den Kopf ständig, aber ich hab einen Kurierdienst und ich hab die Kapseln und du gibst mir als Gegenleistung irgendetwas. Das wäre so eine rationale Haltung."

    Aber dann geht Clooney doch zur Hintertür raus.

    "Ökonomie und Philosophie, das sind schon so zwei Königsdisziplinen, wenn man die sich mal so anschaut. Und wenn man dann aber mal feststellt, dass man ganz einfache Sachverhalte wie zum Beispiel die Kreditverbriefung anhand einer Stelle von Faust II erklären kann, in Worten, die jeder verstehen kann, oder dass man rationale und adaptive Erwartungen anhand des Spots von George Clooney in der Nespresso-Werbung erklärt, dann ist das doch möglich, dass man ökonomische Themen, komplexe Sachverhalte so dem Leser näher bringt, dass er a) einen Zugang dazu hat und b) dass man Wörter dafür verwendet, die jeder Mensch auch wenn er kein Ökonom und kein studierter Philosoph ist lesen und verstehen kann."

    Sind Grundannahmen erst geklärt, kann man auch die Gastartikel der Wissenschaftler im Heft gut verstehen. Über Rationalität und ihr Verhältnis zur Ökonomie, über "Wachstum" als Richtlinie oder Schulden reflektieren in der "agora" neben Volkswirten ganz bewusst auch Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler. So kritisch die Reflexion von allen Seiten aber auch ist, es geht nicht darum, an den Pranger zu stellen, was eine Selbstverständlichkeit im modernen Leben ist. Der Philosoph und Chefredakteur Frank Augustin:

    "Die Ökonomie kann man genauso wenig aus dem Leben tilgen wie seinen eigenen Körper. Man ist eben in ökonomische Zusammenhänge immer eingebunden. Aber es geht doch eigentlich darum, diese Ökonomie wieder neu zu adeln. Also dass man da versucht, sie wieder in den Dienst des Menschen zu stellen."

    Und damit das geschehen kann, sollte man sich Zeit nehmen, um zu lesen und zu verstehen.

    "Die Welt ist komplex. Die Welt ist nicht einfach. Die Welt wird nicht von RTL dargestellt. Und wer diese komplexe Welt verstehen möchte, der muss auch eine intellektuelle Anstrengung mitbringen und die besteht auch darin, Texte zu lesen. Und deswegen haben wir gesagt: Wir möchten aufklären, wir möchten die Komplexität aufschlüsseln, dass es auch verständlich ist, aber es ist immer noch komplex!"