Mittwoch, 01. Mai 2024

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Schockierender als je zuvor

Krönig: Eine Bemerkung vorweg zu der Aussage des Direktors der Tate Gallery Stephen Deuchar, dass er sich eine weniger sensationalistische Berichterstattung wünschen würde: Nichts ist unwahrer als diese Aussage. Die Tate Gallery genießt es, das Establishment der modernen Kunst genießt es, wenn Kontroversen entstehen, wenn die Zeitungen sich die Mäuler zerreißen, wenn die Sun, das große Massenblatt, heute sagt, das ist ein Mist, der da geboten wird als moderne Kunst und auch ernsthafte Kommentatoren dieses sagen.

Jürgen Krönig im Gespräch | 30.10.2003
    Sie schauen auf die Werken von vier Künstlern, die auf der Shortlist stehen, und am 7. Dezember ist es dann soweit, und einer wird den Preis erhalten. Da ist erstens Anya Gallacio, die unter anderem, wie ich finde, ein sehr schönes Werk vorstellt: "Preserve Beauty", das sind 2000 Blumen, die zwischen Glas gepresst an der Wand hängen, und die Blumen werden im Verlauf der Ausstellung verrotten, genau wie die Äpfel übrigens, die über einem Apfelbaum aus Bronze drapiert sind, ein anderes Werk der 40-jährigen Künstlerin.

    Der zweite Raum, in den man hineingelangt, wenn man durch die Tate geht, durch die Ausstellung, ist Willie Doherty, ein nordirischer Filmemacher, der in einem Raum zwei Projektoren aufgestellt hat. Auf der einen Leinwand sieht man einen Mann, der über eine endlose Brücke - das ist übrigens eine Brücke über Londonderry, über Derry in Nordirland - läuft, auf den Betrachter zu. Auf der anderen Leinwand läuft er von dem Betrachter weg. Das ist ein endloser, nicht endender Lauf, sein Gesicht ist verzerrt vor Anstrengung oder auch vor Angst.

    Das dritte sind die Schockbrüder Jake und Dinos Chapman. Zwei Werke stechen ins Auge: "Tod", eine Bronze, die aussieht, als sei sie aus billigem Plastik, es sind nämlich zwei aufblasbare Sexpuppen dargestellt in einem oralen Doppelakt. Das andere, das sich übrigens "Sex" nennt, sind drei Skelette, die über einem Baum hängen, Fleischfetzen noch an dem Gerippe, umschwärmt von Würmern und Fliegen, die sich an den Überresten dieser Kadaver laben.

    Das vierte sei noch kurz erwähnt: Grayson Perry, 43, ein Transvestit und ein Töpfer, ein Keramiker, der 14 Töpfe bietet, geschmückt mit Bildern von sexuellem Missbrauch an Kindern und anderen schönen Darbietungen des Lebens.

    Schäfer-Noske: Zum 20. Mal wird ja in diesem Jahr der Turner-Preis vergeben. Ist es denn nicht schwierig, jedes Mal etwas Skandalträchtiges zu präsentieren?

    Krönig: Offenkundig nicht, wie Sie merken. Ich muss sagen, dass ich auch immer sehr skeptisch bin, weil ich denke, dass diese Konzept- und Schockkunst die Ratlosigkeit ein bisschen zeigt, das Ende der Kunst. Alles ist gemacht worden, und deshalb flüchtet sich die Szene in diese Art Kunst. Obwohl ich sagen muss, dass ich dann auch wieder angenehm überrascht und berührt war unter anderem von dem Baum, den Blumen und dieser Idee, Vergänglichkeit mit in ein bleibendes Kunstwerk hineinzubauen.

    Schäfer-Noske: Wie sehr ist denn die Erwartung der Öffentlichkeit an den Turner-Preisträger auch zum Korsett geworden im Laufe dieser Geschichte?

    Krönig: Ich glaube, das ist ein weiteres Problem. Man erwartet, dass etwas Schockierendes da ist. Diesmal ist auf den Eintrittskarten der Hinweis aufgedruckt, es ist nicht jugendfrei, was die Jugendlichen natürlich erstens belächeln werden, wenn sie hineingehen, weil sie ganz andere Dinge gewohnt sind von anderen Medien. Zweitens aber trägt das natürlich dazu bei, dass sich bürgerliche, konservative Blätter die Mäuler zerreißen. Dann hat man genau den Skandal, den man will. Man hat das Gefühl, diese moderne Kunstszene braucht dieses wie den Sauerstoff. Die Kritiker spielen auch mit.

    Beispielsweise der Evening Standard, der große Kritiker Brian Sewell, ein sehr intelligenter Mann, schreibt: Tief beunruhigend empfinde er diese Ausstellung nicht wegen der schockierenden Darbietungen, sondern wegen der Qualität. Er zielt auf die Chapman-Brüder. Er findet, die Qualität ist einfach zu mies, während andere sagen, es sei großartig, was da ist. Das ist eigentlich genau die Kontroverse, die sie jedes Jahr haben. Manchmal sind die negativen Urteile mehr gerechtfertigt als es vielleicht dieses Mal der Fall ist.

    Schäfer-Noske: Wer hat denn nun aus Ihrer Sicht die besten Chancen auf den Turner-Preis 2003?

    Krönig: Wenn ich das wüsste, würde ich viel Geld verdienen. Beim Buchmacher kann man nämlich wetten wie jedes Jahr. Es wird auch heftig gewettet. Ich kann nur sagen, dass die Chapman-Brüder als Favoriten gelten, dass aber der Nordire, der ja die Probleme der Bürgerkriegsprovinz in seinem Werk auch irgendwie widerspiegeln will, der als Außenseiter gilt, Mitchancen hat.