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Schön und von Nutzen

Der Berliner Germanist Winfried Menninghaus hat Darwins Evolutionstheorie zu einer Theorie der Künste ausgearbeitet. In seinem Buch "Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin" erklärt er mithilfe der Evolutionstheorie, welche Funktionen der Kunstsinn ursprünglich besaß.

Von Martin Hubert | 13.10.2011
    "(Gesang von Anna Netrebko)"

    Wer einer solchen Stimme lauscht, lässt Arbeit und Alltag hinter sich. Es geht ihm nicht um irgendwelche Zwecke, sondern um sinnlichen Genuss.

    Ähnliches geschieht, wenn jemand Rockmusik hört, in einem Krimi oder Roman versinkt, ins Theater oder ins Kino geht. Kunst, sagen daher die maßgeblichen ästhetischen Theorien, sei in ihrem Kern autonom. Sie diene primär keinen sozialen oder politischen Zwecken, sondern erschaffe eine eigene Sphäre der sinnlichen Lust. Wie aber kann etwas entstanden sein, dass sich so fern hält von allen praktischen Zwecken und Überlebensnotwendigkeiten? Den Berliner Germanisten Winfried Menninghaus ließ diese Frage nicht los. Um dem Ursprung des Ästhetischen auf die Spur zu kommen, begann er, sich mit der Darwinschen Evolutionstheorie zu beschäftigen. Ein gewagtes Unternehmen, das ihm von germanistischen Kollegen einige Attacken einbrachte.

    "Reduktionismus! Biologismus! Ist er jetzt auch in die Biofraktion übergegangen? Also ich bin da immer wieder und bis heute auf erhebliche Reserven gestoßen, das wird auch noch eine Zeit lang so bleiben, denke ich."

    Winfried Menninghaus will Kunst jedoch keineswegs völlig auf Biologie reduzieren. Er will mithilfe der Evolutionstheorie nur erklären, welche Funktionen der Kunstsinn ursprünglich besaß, damit er sich überhaupt durchsetzen konnte. Und er möchte verstehen, welches Licht diese evolutionären Wurzeln heute noch auf die Kunst werfen, worunter er auch Alltagsästhetik oder Mode fasst. Es geht ihm also um die Entwicklung eines speziellen ästhetischen Sinns, der sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten von Kunst auszeichnet. In dem Buch "Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin" hat er seine Ideen nun zusammengefasst.


    "Darwin leitet letztlich das Phänomen der Kunst aus dem Prinzip der sexuellen Selbstdarstellung bei Tieren, insbesondere bei Vögeln ab. Er verweist darauf, dass die sich nicht nur durch ihr schönes Federkleid anpreisen, sondern ebenso auch durch bestimmte Handlungen, namentlich durch das Singen von Vögeln oder das Tanzen und das Sich-selbst-darstellen."

    Der Gesang - man könnte fast sagen: die Arie – eines Gibbons.

    "Das ist auch experimentell extrem gut erhärtet, dass das Sich-darstellen-können durch Tanz, Gesang zu sexuellem Erfolg verhilft und nun sagt Darwin: Wenn wir diese Praktiken betrachteten, könnte man ja überlegen, ob nicht auch menschliche Kunst hervorgegangen ist aus Praktiken des Sich-darstellens. Und er denkt dabei daran, dass auch Menschen tanzen, dass sie auch singen und dass das in hohem Maße kommunikative Fähigkeiten sind, die auch zwischen den Geschlechtern sehr geschätzt werden."

    Wer besonders gut singt, tanzt und sich selbst darstellen kann, hat im Tierreich bessere Chancen beim sexuellen Konkurrenzkampf, also einen direkten evolutionären Vorteil. Beim Menschen ist das natürlich weniger drastisch. Aber Winfried Menninghaus unterstreicht zu Recht, das der ästhetischen Ausdruck immer auch eine erotische Komponente besitzt: Beim Singen, Tanzen oder wenn Menschen sich durch Kleidung, Ringe oder Tätowierungen schmücken. Oder beim attraktiven Star, der durch sein ganzes Auftreten Begehren weckt.

    Die Evolution des Kunstsinns beginnt also nach Winfried Menninghaus mit der sexuellen Werbung, entwickelt sich dann aber zu einer allgemeineren sinnlichen Technik fort. Es geht darum, Aufmerksamkeit zu wecken und die Sinne emotional zu bewegen. Dazu ist letztlich jedes Mittel recht, auch der Schock und das Hässliche.

    "Erstens: Man kann nichts nur auf Schönheit stellen, das wird sehr schnell langweilig und fade. Zweitens, emotionstheoretisch ist es so, dass die negativen Affekte die zuverlässigsten Auslöser sind von Aufmerksamkeitssteuerung. Und das ist das Paradigma seit der Aristotelischen Tragödientheorie, ist die Frage: Warum empfinden wir Lust sogar in hohem Maß an der Darstellung von Gattenmord usw. usw! Also da geht es um emotionale Involvierung."

    Kunst ist damit von Beginn an mit einer bestimmten Funktion verbunden: Man will sinnlich im Konkurrenzkampf mit anderen bestehen. Aber das ist nur die eine Seite.

    "Zweifellos ist die Zweite, die es in der Evolutionsbiologie gibt, ist das Bindungsparadigma. Das gibt es auch bei den Vögeln, wo also beide Geschlechter singen, dass das sozusagen eine Verhaltensform ist, die Bindungen verstärkt und dadurch zum verbesserten Überleben oder Reproduktion beiträgt. Ich glaube das ist sehr interessant, dass diese beiden Paradigmen eigentlich beinahe konträr sind. Das eine beruht ganz auf Konkurrenz, das andere beruht dagegen auf sozialer Kohäsion."

    Menschen nutzen zum Beispiel Moden, um ein bestimmtes Geschmacksniveau zu demonstrieren, das sie mit einer bestimmten Gruppe verbindet. Sie singen Lieder oder bringen kollektive Erzählungen hervor, die ihre gemeinsame Kultur symbolisieren. Und kaum jemand kommt aus einem Rock- oder Klassikkonzert heraus, ohne dabei nicht vom Gemeinschaftserlebnis gepackt worden zu sein.

    Winfried Menninghaus zeichnet in seinem Buch überzeugend nach, wie der anfängliche ästhetische Sinn im Lauf der Evolution immer komplexer und spezieller wird. Im Unterschied zu den Tieren entwickeln Menschen ein erweitertes Spielverhalten, nutzen Werkzeuge und Sprache. So können sie Ballett, Theater, Skulpturen, Gemälde und große Kompositionen schaffen.

    Je komplexer aber die Künste werden, desto mehr menschliche Vermögen beanspruchen sie. Wer Musik macht, muss seinen Stimmapparat oder ein Instrument beherrschen. Er muss Notenschrift und Partituren lesen können, Rhythmusgefühl besitzen und sensibel für Emotionen sein. Insofern besitzt Kunst für Winfried Menninghaus noch eine dritte Funktion: Sie bildet den Menschen, indem sie seine Vermögen miteinander kombiniert und verfeinert. Das ist einer der Gründe, warum viele Eltern ihre Kinder zum Geigen- oder Gitarrenunterricht schicken. Winfried Menninghaus sieht hier verblüffende Parallelen zu klassischen Theorien über die Autonomie der Kunst, etwa der von Immanuel Kant.

    "Kant sagt, das Besondere an der ästhetischen Lust ist, dass sie alle unsere Vermögen in ein freies Spiel versetzt, frei, weil wir nichts kaufen wollen, nichts erwerben aber auch nichts verbrauchen, das insofern entlastet vom direkten Realitätsdruck, das heißt also, es ist ein Raum, in dem sonst nicht koordinierte Fähigkeiten koordiniert werden können."

    Winfried Menninghaus verleiht dem von Kant betonten freien Spiel der Vermögen in seinem Buch ein neues, evolutionstheoretisches Fundament. Kunst ist insofern autonom, als sie verschiedene evolutionär entstandene Fähigkeiten des Menschen primär unter der Maßgabe spielerischer Fantasie zusammenführt. In dieser kombinatorischen Freiheit liegt ihr ganz eigener Zweck, für den sie Höchstleistungen erbringt. Das steht aber nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass dabei jene Funktionen wirksam sein können, die evolutionsgeschichtlich mit diesen Fähigkeiten verbunden sind. Das ästhetische Spiel kann also solches immer auch der Selbstdarstellung dienen, gemeinschaftliche Gefühle wecken und oder für die Selbstbildung des Einzelnen nützlich sein. Winfried Menninghaus Evolutionstheorie der Kunst überzeugt vor allem, weil sie hier eine Brücke schlägt: Kunst ist autonom, aber deshalb keineswegs funktionslos, sondern eine ganz eigene soziale Kraft.

    Winfried Menninghaus: "Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin" Suhrkamp Verlag, 300 Seiten, 24,90 Euro