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Schöne Vergänglichkeit

"Malerei in Venedig". Unter den Sehnsuchtsorten haben Inseln Konjunktur. Inseln, so weit entfernt vom Rest der Zivilisation, dass der Reisende, der die Insel betritt, der äußeren Natur und sich selbst ausgesetzt ist. Das Ziel der Reise ist die Kommunikationsleere und die Endlichkeit des Blicks. Vielleicht sind Inselerfahrungen die äußersten Herausforderungen des überangepassten und überangestrengten Wohlstandsmenschen.

Verena Auffermann | 28.01.2004
    Venedig ist keine richtige Insel, Venedig ist durch eine Straße mit dem Festland, der Terraferma verbunden. Aber doch ist sie ein Sehnsuchtsort ganz unvergleichlichen Ausmaßes. Venedig ist Zauber, Glanz und Flirren. Venedig ist ebenso vergänglich wie unverwüstlich und so schön, dass Todkranke in der Stadt sterben wollen. Schriftsteller, in dieser Saison war es Louis Begley, verlieren beim Schreiben über und von Venedig fast ihren Verstand.

    Und weil Venedig neben all dem anderen, als das größte "Gemäldedepot" der Welt gilt, ist jetzt im Hirmer Verlag ein fast 600 Seiten umfassendes Buch über die "Malerei in Venedig" erschienen. Der Geschichtsschreiber Vasari hatte also ausnahmsweise einmal mit seinem Ausspruch nicht übertrieben. Er berichtet, das "in allen venezianischen Häusern eine Menge Bildnisse waren, und man findet bei vielen adeligen Familien ihre Voreltern bis ins vierte Glied".

    Das dicke neue Bilder-Buch schlägt den Bogen von der venezianischen Malerei des Trecento bis zu Bildern von Malern wie Max Ernst und Picasso, die Peggy Guggenheim sammelte und die in der Fondazione Solomon R. Guggenheim ausgestellt sind.

    Es gibt zwei oder drei Arten, sich mit dem Band "Malerei in Venedig" zu beschäftigen. Man benutzt es als Vorbereitung für eine Venedigreise, sucht sich die Bilder aus, die man in den Kirchen, der Accademia, den vielen in Palazzi untergebrachten Privatsammlungen sehen möchte. Um zum Beispiel beim nächsten Venedig-Besuch mal wieder den Palazzo Ca’ d’Oro und die Sammlung Vittorio Cini wegen einiger Bilder besuchen, zum Beispiel, um Filippo Lippis Maria im Kreis dicker untersetzter Heiliger und merkwürdiger Engel mit heutigen Gesichtszügen und dem Stifter vorne mit schwarzem Umhängemantel und grell orangerotem Beinkleid anzusehen. Lippis Gemälde gilt als die erste "Sacra Conversazione" der gesamten italienischen Malerei.

    Oder man benutzt das Buch als Nachschlagewerk für die eigene Erinnerung. Denn mit auf Reisen nehmen wird man dieses schwere Stück wohl kaum. Wer aber möchte, dass ein Prachtband auch wie ein Prachtband ausgestattet ist, der ärgert sich. Denn die Abbildungen sind von stahlhartem Glanz. Und Vergleiche, etwa mit anderen Büchern über venezianische Künstler, zum Beispiel mit dem ebenfalls im Hirmer Verlag erschienenen Buch über Giovanni Bellini, zeigen das erschreckende Maß der Qualitätsschwankung. Das, was Venedigs Malerei ausmacht, Hingabe, Schmelz, Farbenpracht und Aura, den Abbildungen ist davon wenig anzumerken.

    Dafür sind die Texte von erfreulicher Klarheit, für den kunsthistorischen Laien leicht verständlich und aufschlussreich. Sie beschäftigen sich mit der "westlichen Malerei" in venezianischen Sammlungen, mit Rogier van der Weyden, Memling, Bosch und Dürer, mit Schulen und Strömungen, den großen Ordensgemeinschaften, Auftraggebern und Sammlern. Den bedeutenden, mit besonders vielen Werken in Venedig vertretenen Künstlern wie Vittore Carpaccio, Giorgione und Tizian sind kleine Aufsätze gewidmet. Die Texte Augusto Gentilis sind besonders bemerkenswert. Den Stand der Forschung wohl kennend, schreibt er mit Leidenschaft und gibt seiner eigenen Meinung Ausdruck. Überzeugend und kenntnisreich ist Gentilis Deutung von Carpaccios Bildnis der "Zwei venezianischen Damen", auch unter dem Titel "Zwei Kurtisanen" bekannt. Über Giorgiones berühmtes Gemälde "La Tempesta" schreibt er: "Sicherlich ist das kein Gewitter, sicherlich ist die halbnackte Frau keine Zigeunerin" und nennt das Gemälde das verschwiegenste unter allen verschwiegenen Bildern Giorgiones.

    Das Buch ist als Reise durch die Jahrhunderte, als Anschauungsbeispiel für Religiosität und fortschreitende Verweltlichung interessant. Der Weg führt von Cosmè Turas um 1460 gemalten "Heiligen Georg" bis zu Francis Bacons "Studie eines Schimpansen" aus dem Jahr 1957. Doch sind Furcht und Vorahnung des Menschen in beiden Gemälden in vergleichbarer Intensität formuliert.
    Der Band "Malerei in Venedig", mit Einblicken in acht Jahrhunderte, ist ein Zusatzkompendium zur Venedigliteratur, mehr als Gedächtnisstützen sind die 515 Abbildungen sind leider nicht.

    Giovanna Sciré Nepi, Augusto Gentili, Giandomenico Romanelli, Philip Rylands
    Malerei in Venedig
    Hirmer Verlag, 608 S., EUR 138,-