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Schöner toter Vogel

Tschechows Möwe gehört heute zu den meistgespielten Stücken. 1896 erschienen hatte es zunächst keinen Erfolg. Vielleicht auch, weil alles so unbestimmt, so hingetupft wirkt: Die Sätze der Figuren sind scharf im Detail, aber es bleibt doch rätselhaft, wie sie eigentlich ticken und was sie treibt. Tschechow läßt hier großen Interpretationsspielraum für Regisseure - und da läßt einer wie Jürgen Gosch einiges erwarten.

Von Hartmut Krug |
    Man hatte sich schon gewöhnt an die erdig hellbraunen, langgezogen leeren Kästen, in die Jürgen Gosch seine Schauspieler während der gesamten Aufführungsdauer sperrte. Wenn sie darin ausgestellt waren, beim Umkleiden, beim Verfertigen und Vorführen von Rollen, dann erreichte das, zuletzt im umjubelten "Onkel Wanja", eine enorme Intensität.

    Doch mit "Die Möwe" musste man, weil das Deutsche Theater noch renoviert wird, in die wesentlich größere Volksbühne umziehen. Deshalb wählte Bühnenbildner Johannes Schütz eine andere Bühnenlösung: Er baute eine schmale, wiederum leere Vorbühne dicht ans Publikum, deren hohe schwarze Rückwand die eigentliche Bühne und deren Breite und Tiefe verschließt. Ganz nah bei uns scheinen die Darsteller, die, wenn sie zu Beginn gemeinsam von der Seite auf die Bühne gestiegen sind, während der gesamten Spieldauer stets auf diesem szenischen Präsentierteller präsent sind. Sie sitzen auf der bühnenbreiten Bank vor der Wand nebeneinander und beobachten das Lebensspiel der anderen, die zu ihrer Szene vorgetreten sind, äußerst aufmerksam.

    Damit verdeutlicht Gosch gleich zweierlei: Dass es in diesem Stück immer auch um die Kunst und deren Wahrnehmung geht, und dass, wie Tschechow gegen die einfühlend atmosphärischen Inszenierungen Stanislawskis eingewandt hat, hier weniger die Figuren ausdrücken, wer sie sind oder sein wollen, sondern dass sich eher die Menschen im Blick der anderen verdeutlichen und erkennbar werden. Die berühmte Schauspielerin Arkadina und ihr junger Geliebter Trigorin, ein Schriftsteller, ihr sich schriftstellerisch versuchender Sohn Konstantin und die von ihm geliebte Nachbarstochter Nina, die Schauspielerin werden will, Mascha, die Tochter des Gutsverwalters, die Konstantin liebt, ohne wiedergeliebt zu werden, und die schließlich den wiederum sie unerwidert liebenden Lehrer heiratet, sie alle suchen nach Liebe und Lebenssinn.

    Tschechows realistisches Sinnsucher- und Liebesleidstück ist ein theatralischer Seelenzergliederungapparat, in dem eine traurige Komödie und eine groteske Tragödie zugleich stecken. Jürgen Gosch nun verliert sich keinen Augenblick in atmosphärischer Poesie, sondern er führt einfach Menschen vor, so wie es Tschechow geschrieben hat: "Wir beschreiben das Leben so wie es ist und weiter weder piep noch pup." So sehen wir Vorführtheater als Menschentheater.

    Zu Beginn, wenn Nina Konstantins Stück vorführt, wird ein Felsbrocken auf die Bühne getragen. Auf diesem Stein balancierend, intoniert Nina mit mimisch-gestisch großem und hohlem Pathos den Endzeit-Text Konstantins so, dass dessen angeblich neue Formen komisch verblasen wirken. Wie in dieser Inszenierung nun nicht etwa Als-Ob-Theater gespielt wird, wie also nicht Figuren vorgeführt, sondern Menschen transparent gemacht werden, das ist teilweise ein schauspielerisch-inszenatorisches Wunderwerk. Wenn zum Beispiel die junge Kathleen Morgeneyer ihrer Nina eine zarte Verletzlichkeit und jungmädchenhafte Linkischheit, aber in all deren Schwärmerei auch eine sichere Resolutheit gibt, so entsteht aus all diesen Haltungen eine anrührend durchscheinende Figur. Maike Droste als Mascha, Alexander Khuon als Trigorin, Jirka Zett als Konstantin und das gesamte Ensemble sind einfach wunderbar, weil es Jürgen Gosch gelungen ist, alle Schauspieler zu enormer Präsenz in einem menschlichen Da-Sein zu bringen, deren Wahrhaftigkeit über ihr Bühnendasein hinaus zu reichen scheint.

    Hier werden Gefühle durchaus heftig, ja handgreiflich ausgedrückt, man fasst sich an, schlägt sich, zerrt sich an den Haaren, kugelt auf dem Boden übereinander, atmet schwer oder brüllt und drückt seine Gefühle auch im Gesang aus. Indem die Aufführung dabei vor allem hochkomödiantisch ist, macht sie die Tragik der scheiternden Menschen besonders deutlich. Selbst Christian Grashof, der den Bruder der Arkadina mit seinen üblichen derben, routiniert auftrumpfenden, ja chargenhaften Mitteln spielt, wirkt nicht wie ein Fremdkörper, sondern ist Teil eines allgemein auf starken Ausdruck setzenden Spiels. In dem die Arkadina von Corinna Harfouch eher blass und der Arzt des Peter Pagel nur routiniert scheint, und in dem nicht alle Szenen bis zu Ende geprobt wirken. Dennoch: Wenn die Menschen am Schluss vom Selbstmord Konstantins erfahren, erstarren alle für Minuten bewegungslos.

    Erst als der Darsteller Konstantins wieder auf die Bühne kommt, zum Schlussapplaus, löst sich die bestürzende Schlussszene von Jürgen Goschs wunderbarer Inszenierung auf. Eine Inszenierung, die in keinem Moment unbedingt eine neue, originelle Interpretation vorzuführen unternimmt, sondern die dem Stück und dem Menschen mit den "einfachen" Mitteln großer Darsteller-Ausdruckskunst auf den Grund geht.